Sprengstoff für die Koalition

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Demonstration Ultraorthodoxer am 3.3.24, Screenshot KAN

Die Debatte über die Wehrdienstbefreiung von Ultraorthodoxen ist seit Jahrzehnten in Israel ein politisches Streitthema. Oppositions- und Regierungspolitiker fordern nun eine Neuregelung. Genau das bringt Ministerpräsident Benjamin Netanyahu aber in Bedrängnis.

Von Ralf Balke

Für ultraorthodoxe Israelis ist die Sache eindeutig. Sie wollen nicht, dass an einer Regelung gerüttelt wird, von der sie seit der Gründung des Staates profitieren, und zwar die faktische Befreiung von der Wehrpflicht. Anfang der 1950er Jahre ließ sich Ministerpräsident David Ben Gurion auf einen Deal mit ihren Rabbinern ein, die darauf pochten, dass Männer, die an Yeshivot, also den Religionsschulen ihrer Gemeinschaften, studieren, nicht wie alle anderen jungen Israelis für mindestens zwei Jahre zur Armee gehen müssen. Die in Israel ebenfalls für Frauen geltende Wehrpflicht lehnten sie ebenfalls schon immer ab, weil diese nicht mit ihren moralischen Wertvorstellungen vereinbar ist. Auch die Tatsache, dass Männer und Frauen oftmals gemeinsam Dienst an der Waffe leisten, war ihnen dabei stets ein Dorn im Auge und wurde als Argument für die Ausnahmeregelung in Stellung gebracht. Junge Männer aus ihren Gemeinschaften, so die feste Überzeugung, sollen sich ausschließlich religiösen Studien widmen.

Doch in den Kindertagen des Staates war die Wehrdienstbefreiung keine große Sache, betraf sie doch eine kleine Gruppe von gerade einmal mehreren hundert Personen. Heute dagegen sieht das aufgrund der demografischen Entwicklung anders aus. Rund 13 Prozent der Bevölkerung zählen mittlerweile zu den Ultraorthodoxen, Tendenz steigend. Nach Angaben der Armee stellen sie aktuell 24 Prozent der jungen Israelis im Wehrpflichtalter. In der Praxis bedeutet dies, das jeder, der bei der Musterung nachweisen kann, an einer Yeshiva zu studieren, nicht zur Armee muss. Bereits 1998 annullierte der Oberste Gerichtshof die Ausnahmeregelung mit dem Hinweis, dass diese gegen die Gleichheitsprinzipien verstoße, und forderte die Regierung auf, das zu ändern.

Seither gab es mehrere Anläufe, die aber alle vom Obersten Gerichtshof als nicht rechtskonform abgelehnt wurden, weswegen eine endgültige Regelung bis dato nie wirklich umgesetzt wurde. Zuletzt gab es 2018 einen Gesetzentwurf, der aufgrund der weitreichenden Ausnahmen aber ebenfalls für ungültig erklärt wurde. Man gab der Regierung bis Ende Juli 2023 Zeit, einen neuen zu präsentieren. Dann ordnete Verteidigungsminister Yoav Gallant im vergangenen Jahr an, bis Ende März 2024 keine Einberufungsbescheide an junge Ultraorthodoxe zu versenden. Bis dahin wollte man das Problem gelöst haben. Aber jetzt läuft die Frist ab und eine Neuregelung ist immer noch nicht unter Dach und Fach. Einer der Streitpunkte ist die Herabsetzung der Altersgrenze für eine Befreiung vom Wehrdienst von derzeit 26 Jahren auf 22 oder vielleicht sogar 21 Jahre.

Doch Ende Februar wendete sich plötzlich Verteidigungsminister Yoav Gallant mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit und erklärte: „Wir schätzen und würdigen diejenigen, die ihr Leben dem Lernen der Tora widmen. Doch ohne eine physische Existenz kann es keine spirituelle geben. Die aktuellen Herausforderungen zeigen, dass jeder seine Pflichten erfüllen muss.“ Alle in der Gesellschaft müssten einen Beitrag leisten, damit die Bedrohungen aus dem Gazastreifen oder dem Libanon aufhörten. Damit war klar, dass er sich gegen die alte Ausnahmeregelung positionierte. „Denn die Armee braucht jetzt Leute. Das ist keine Frage der Politik, sondern eine der Mathematik.“ Ferner sagte Gallant, dass die Wehrpflicht schon seit 75 Jahren eine große Herausforderung sei, nun aber eine ganz besondere Kriegssituation herrsche. „Daher müssen wir Vereinbarungen und Entscheidungen treffen, die wir seit 75 Jahren nicht mehr getroffen haben.“ Kurzum, die Botschaft war klar: Es muss sich etwas ändern. Und das wird einigen Leuten nicht gefallen.

Zudem kündigte Gallant an, dass er jede Neuregelung nur dann unterstütze, wenn ebenfalls die beiden wichtigen Oppositionspolitiker Benny Gantz und Gadi Eisenkot im Kriegskabinett, übrigens zwei ehemalige Generalstabschefs, mit an Bord wären. In diesem Fall aber stände eine Gesetzesinitiative auf der Agenda, die gegenüber den Ultraorthodoxen deutlich restriktiver wäre, weil der Kreis der Ausnahmeberechtigten viel kleiner ausfiele. Und genau diese Erklärung seines Parteifreundes und Verteidigungsministers bringt Premier Benjamin Netanyahu nun in Bedrängnis. Denn seine beiden ultraorthodoxen Koalitionspartner, die aschkenasische Partei Vereintes Torah Judentum und die sephardische Shass-Partei, dürften da gewiss nicht mitspielen. Oder wie es Yohanan Plesner vom Israel Democracy Institute gegenüber CNN auf den Punkt brachte: „Dies ist das Thema, das das größte Potenzial hat, die Koalition zu Fall zu bringen.“

Die Konfliktlinien zeichnen sich bereits ab. Yoav Gallant werden bereits seit Längerem Ambitionen nachgesagt, Netanyahu an der Spitze des Likuds zu beerben. Schon im Streit um den geplanten Umbau des Justizwesens hatte er sich im Frühjahr 2023 kritisch gegen das Vorhaben geäußert, weshalb ihn Netanyahu absetzen wollte. Mit seiner Positionierung in der Frage der Ausnahmeregelung für Ultraorthodoxe hat er sich erneut nicht im Sinne des Ministerpräsidenten verhalten, der am liebsten alles beim Alten belassen würde. Anderenfalls wackelt sein Stuhl. Denn die Parteien der Ultraorthodoxen haben in der Vergangenheit Koalitionen wegen deutlich weniger brisanter Streitpunkte schon platzen lassen. Und es sollte nur wenige Tage dauern, bis sich die ersten auch zu Wort meldeten.

„Wenn Netanyahu im Sommer noch an der Regierungsspitze stehen will, muss er dem Entwurf eines Ausnahmegesetzes in unserem Sinne genehmigen“, so eine namentlich nicht genannte Person aus der Partei Vereintes Torah-Judentum gegenüber dem TV-Sender Kan. Und Moshe Roth, Knesset-Abgeordneter, gleichfalls Vereintes Torah Judentum, erklärte: „Die Armee hatte noch nie einen Mangel an Soldaten.“ Ferner behauptete er: „Es gibt viele politische Gruppierungen und Politiker, die die Idee der Wehrpflicht für alle und die Ausnahmeregelung für Yeschiva-Studenten instrumentalisieren, um mehr Stimmen zu bekommen.“ Sephardische Autoritäten ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten. „Wenn man uns zwingt, zur Armee zu gehen, werden wir alle ins Ausland ziehen“, drohte denn auch der sephardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef am Samstag und verwies auf den biblischen Stamm Levi, aus dessen Reihen zu Zeiten des Zweiten Tempels viele Priester stammten, die damals ebenfalls nicht in den Armeen gekämpft hätten. „All diese Säkularen verstehen nicht, dass die Armee ohne die Yeschivot erfolglos wäre“, sagte er weiter. „Die Soldaten sind nur dank derjenigen erfolgreich, die Tora lernen.“

Das mag für Nichtreligiöse erst einmal bizarr klingen – aber Yitzhak Yosefs Wort hat in der Politik der Ultraorthodoxen viel Gewicht, schließlich ist er der Sohn von Ovadia Yosef, dem 2013 verstorbenen geistigen Oberhaupt der Shass-Partei. Von Seiten der Opposition gab es jedenfalls reichlich Häme über die Drohungen des Oberrabbiners. Denn sehr wahrscheinlich würde kaum einer von ihnen diesen Schritt wagen. Im Ausland müssten Haredim arbeiten, um über die Runden zu kommen. In Israel dagegen erhalten ihre Bildungseinrichtungen staatliche Gelder und die dort studierenden jungen Männer Stipendien, die ebenfalls aus dem Staatshalt stammen. Dieses zweite Privileg, das ebenfalls von immer mehr Israelis kritisch gesehen wird, würde außerhalb Israels sber wegfallen. Genau diese Subventionierung sprach im vergangenen Monat Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara vor dem Obersten Gerichtshof an, als sie erklärte, dass die Regierung die Yeschivot auch nicht mehr legal finanzieren kann, sobald die Ausnahmeregelung ausläuft.

Außerdem wächst der Druck auf die Koalition, endlich eine Lösung zu finden, die mit der bisherigen Ausnahmeregelung bricht und mehr Wehrgerechtigkeit schafft. So hieß es seitens der Armee, dass im vergangenen Jahr alleine rund 66.000 junge Männer aus den ultraorthodoxen Gemeinschaft vom Militärdienst befreit wurden – ein neuer Rekord. Weniger als zehn Prozent der jungen Männer im wehrpflichtigen Alter aus den ultraorthodoxen Gemeinschaften wurden eingezogen. Zum Vergleich: bei ihren nicht-haredischen jüdischen Altersgenossen waren es mehr als 80 Prozent. Zwar hätte im Zuge der Ereignisse vom 7. Oktober wohl bei einigen ein Umdenken gegeben. So hätten sich in den Wochen danach mehr als 3.000 junge Haredim freiwillig beim Militär gemeldet, von denen rund 2.100 erste Formulare für eine Einberufung ausgefüllt haben sollen. Doch die Zahl derer, die dann letztendlich auch ihren Dienst an der Waffe antraten, betrug wenige Hundert. Die anderen wären bei Sanitätseinheiten oder beim Heimatfrontkommando untergekommen.

Laut Umfragen ist auch die große Mehrheit der Israelis für eine Änderung der Gesetzeslage. So ermittelte das Israel Democracy Institute folgende Zahlen: 64 Prozent der gesamten israelischen Bevölkerung will eine andere Regelung. Nur 22 Prozent finden den Status quo in Ordnung. Fragt man nur jüdische Israelis, sind es sogar 70 Prozent, die eine Reform wollen. 22 Prozent sehen weiterhin keinen Bedarf. Fragt man ausschließlich Ultraorthodoxe Israelis, sehen die Zahlen wenig überraschend anders aus. Dann sind lediglich 19 Prozent für eine Änderung, 69 Prozent aber dagegen. Konkret heißt dies, dass Netanyahu sich in einer Zwickmühle befindet: Bleibt die Ausnahmeregelung für junge ultraorthodoxe Männer bestehen, wie sie ist, entfremdet er sich noch weiter von der Bevölkerung als ohnehin schon. Zudem weiß der Ministerpräsident, dass es prominente Stimmen in der eigenen Partei und im Kabinett gibt, die ihm in diesem Punkt die Gefolgschaft verweigern. Stimmt Netanyahu aber einer Änderung im Sinne von Gallant und anderen zu, dann ist die Koalition rasch am Ende, weil seine zwei ultraorthodoxen Partner sie dann platzen lassen würde.