Eine „unermüdliche Freude am Wandel und am Wandern“

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Vor 165 Jahren wurde Scholem Jankew Rabinowitsch geboren, der unter seinem Pseudonym Scholem Alejchem berühmt wurde. Gemeinsam mit Jitzhak Leib Peretz und Mendele Moicher Sforim gehört er zu den Begründern der modernen jiddischen Literatur.

Als er 1916 in New York, wohin er zwei Jahre zuvor emigriert war, starb, erschien der folgende Nachruf in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude. Autor des Nachrufs, der Scholem Alejchems Werk so treffend beschreibt, war der Literaturwissenschaftler und Kritiker Fischel Lachower, der zu dieser Zeit noch in Warschau lebte und später nach Palästina emigrierte.

Scholem-Alejchem

F. Lachower
Der Jude, Heft 3 (Juni 1916)

Scholem-Alejchem ist tot. Das einzige freie, volle, unbefangene Lachen, das einzige Lachen um des Lachens willen im Ghetto (das Mendeles ist schwer und bitter) ist verhallt.

Scholem-Alejchem war vielleicht der einzige jüdische Dichter, dem der Geist der Schwere nichts anhaben konnte, denn er hatte die Gabe, alles Schwere leicht zu machen. Das schwerste Leben der Welt, das jüdische Wanderleben, wird in seiner Hand zu einer Reihe von Überraschungen und Abenteuern.

Einer seiner Helden, der Knabe Motel der Kantorssohn, geht bald nach dem Tode seines Vaters in den Fluß baden und vergnügt sich damit, kleine Fische und Frösche in seinem Hemd aufzufangen. Sein älterer Bruder sieht es und versetzt ihm eine Ohrfeige. Aber die Nachbarin kommt dem Kleinen zu Hilfe; sie schreit: „Was, eine Waise schlagen!“. Der Bruder läßt erschreckt ab; Motel aber ist froh: „Ich habe es gut,“ sagt er, „ich bin eine Waise.“ So macht es Scholem-Alejchem.

Motel wandert von Hand zu Hand, von einem Gewerbe zum anderen, er wandert mit Mutter und Bruder im Elend von Ort zu Ort, von Land zu Land; er aber verzweifelt nie. Warum auch ? Er gewinnt jedem Leiden einen Genuß ab. Was gilt es ihm, daß er Tag um Tag seine Arbeit hin werfen und den Lebensweg von neuem beginnen muß? Es macht ihn nur ungebundener, und das Neue, alles Neue ist ihm sonderbar und ergötzlich. Warum darüber unglücklich sein, daß man auswandern muß? Die Welt ist so groß und breit, und groß, breit und überallhin verstreut ist das jüdische Volk; überall trifft man auf Juden, die raten und helfen. Und so reist Motel ganz vergnügt inmitten einer Judenschar aus seinem Städtchen nach Brody, passiert die russische Grenze ohne Paß, reist weiter von Brody nach Lemberg, von Lemberg nach Wien, von Wien nach Antwerpen, von Antwerpen nach London, von London — der gute Gott weiß wohin, erlebt allerlei Unerwartetes und Belustigendes — ja, es ist eine Lustreise.

Dieses Werk hat etwas Autobiographisches, so sehr schildert Scholem-Alejchem darin Züge seines eigenen Wesens. Eine unermüdliche Freude am Wandel und am Wandern ist ihm eigen. Schon die Helden seiner ersten Romane, der Spielmann Stempenju und der Sänger Jossele Solowej (Jossele Nachtigall), sind rechte Wandervögel. Beide gehören zu jener jüdischen Künstler-Boheme, die von Zeit zu Zeit das vergreiste, erstarrte Leben des östlichen Ghettos bezauberte und verjüngte. Beide sind noch pathetische Typen, aber sie sind die Vorgänger einer langen Reihe humoristischer Figuren, lauter Wanderer und Abenteurer, wanderlustig und die eignen Abenteurer belachend, des ewigen Wechsels froh und seiner doch auch mit heiterm Spott gedenkend.

Das Lachen Scholem-Alejchems ist so tief und so umfassend, daß auch das Furchtbarste, daß der Pogrom selber sich ihm nicht entziehen kann. Scholem-Alejchem erzählt uns davon eine wunderliche Geschichte. Sie spielt sich, wie so viele seiner Geschichten, in dem Städtchen „Kasrilewke“ ab, zur Zeit des Kischinewer Pogroms. Die Nachricht davon ist nach Kasrilewke gelangt und hat in der Judenschaft Entsetzen und Trauer erregt. Das Städtchen liegt zwar nicht sehr nah von Kischinew, aber auch nicht sehr weit, und die Juden aller Lande sind ja Brüder, und ein jeder fühlt eines jeden Not als seine eigne. Darin ist gewiß nichts Komisches zu finden, nur der Ernst einer innerlichen Wahrheit. Aber schon in dem Schwulst, mit dem der Überbringer der Nachricht sie vorträgt, spielt Scholem-Alejchems Humor. Und nun geschieht es, daß die Juden von Kasrilewke vor den Nichtjuden ihrer Stadt Angst zu haben beginnen; und da in der Stadt nur sehr wenige Nichtjuden wohnen, so haben sie eben vor diesen Angst: vor Chwedor, dem „Sabbat-Goj“, der am Ruhetag für alle Juden die notwendige profane Arbeit verrichtet, und der blatternarbigen Dienstfrau Hapke. Sie schauen ihnen in die Augen und werden immer bedenklicher, bis das doppeldeutige Wort eines wirklich judenfeindlichen russischen Beamten den Pogrom ihnen als unmittelbar bevorstehend erscheinen läßt und die ganze Judenstadt mit Hab und Gut sich auf den Weg nach dem nahen Koschejewke macht. Unterwegs begegnen sie den Juden Koschojewkes, die aus der gleichen Ursache nach Kasrilewke auswandern. Und nun merken sie auf beiden Seiten: es gibt keinen Grund davonzulaufen, es gibt auch kein Ziel. Alle kehren stumm und beschämt nach Hause zurück. Und Scholem-Alejchem lächelt. Wehmut? Die Wehmut ist hinter dem Lächeln, nicht in ihm; es ist ein echtes, unverstelltes, unentstelltes Lächeln.

Nur zwei Gegenstände sind bei Scholem-Alejchem nie lächerlich: die Jugend und die Festtage. Wenn er von diesen oder von jenen zu erzählen beginnt, wird der Spottlustige gefühlvoll und rührend; gefühlvoll-ergötzt, rührend-froh. Seine Geschichten von den Kinderjahren und von den „guten Tagen“ sind voller Humor, aber ohne Komik; denn es lebt eine Gläubigkeit in ihnen, die sich mit dem Humor verträgt, aber keine Komik aufkommen läßt.

Ist sie nur selten so wie hier gesammelt und wirksam, nie verläßt sie den Dichter ganz, diese Gläubigkeit, dieser naive, kindliche Glaube an die Weltgüte. Und etwas davon haben alle seine Gestalten. Alle sind sie wie Motel der Kantorssohn: Menschen, die nie verzweifeln.

In drastischer Weise deutlich wird das an Menachem-Mendel, der Hauptfigur in Scholem-Alejchems Erzählungen. Menachem-Mendel erleidet jeden Augenblick einen Schiffbruch und geht nie unter; er läßt sich von einer Planke tragen und schaut nach der Sonne aus. Er baut unablässig Kartenschlösser, die im Nu zusammenstürzen; er selber aber bleibt munter und unentwegt. Ob ihn seine Hoffnungen auch immer wieder täuschen, er wird nie enttäuscht; er wartet immer wieder von neuem auf die Erfüllung. Seine erträumten „Millionen“ („Millionen“ heißt das Werk, in dem davon erzählt wird) sind bares Geld, denn niemand kann sie ihm wegnehmen. Menachem-Mendel ist die karrikierte aber lebensvolle Verkörperung des grundlosen und unerschütterlichen jüdischen Optimismus. Der uralte Glauben an den Tag der Erlösung, der nahe, nahe ist, und dessen Kommen, ob er auch zögert, in jedem Augenblick erwartet wird, hat hier ein armseliges und lächerliches Goluskleid angetan, aber die scheckigen Lumpen können die hohe Gestalt nicht entstellen. Es sind Handelsgeschäfte, luftige Handelsgeschäfte, die Menachem-Mendel treibt, aber auch in ihnen noch siegt der hoffende und glaubende Geist über die Wirklichkeit. Ja, er erwartet nicht mehr die „Erlösung“, sondern den Erfolg, aber es ist nicht der Erfolg als Genuß, sondern der Erfolg als Idee, als Traum, als — Erlösung; ja, er ist ein jämmerlicher Phantast, aber in all seinen Phantasien lebt als Kern und Halt das alte unschwächbare Gottvertrauen, der Glauben an die Weltgüte.

Dem Sancho Pansa dieses wahrhaft jüdischen Don Quijote hat Scholem-Aleichem die Gestalt einer Frau gegeben; es ist Schejne-Schejndel, Menachem-Mendels Gattin. Ihr Realismus ist der rechte hebende Kontrast zu seiner Phantastik. Sie ist ebenso nüchtern-irdisch und unerbittlich praktisch, wie er himmelguckerisch und wahnselig ist. Sie ist sanchopansischer als Sancho Pansa selber; denn sie wird ihren Don Quijote nie auf seinen Fahrten begleiten, ob er ihr auch schwört, sie als Königin all seiner geträumten Länder zu krönen. Sie rührt sich nicht von ihrem Kasrilewke und schreibt unaufhörlich Briefe an Menachem-Mendel, er solle seine schönen Luftschlösser in der Luft lassen und heimkehren; „Pasteten im Traum,“ sagt sie mit unbarmherziger Klarheit, „sind keine Pasteten.“

Ein echter und tiefer Zug Scholem-Aleichems äußert sich darin, daß er seinen, den jüdischen Sancho Pansa zu einer Frau macht. Ist die Frau überhaupt stärker als der Mann an Leben und Erde gebunden, so ist es ganz besonders die jüdische, die von dem geistigen Schrifttum nur wenig berührt worden ist und im Ghetto stets als die Trägerin — nur zu oft als die Lastträgerin — des Wochenlebens gegolten hat.

Menachem-Mendel und Schejne-Schejndel stellen, karrikiert, aber unverkennbar,
die beiden Gegenpole der jüdischen Seele dar. Das reine Vertrauen und den spitzfindigen Fragesinn, den Glauben und die Reflexion, die fessellose Zukunftsschwärmerei und den erbitterten Kampf um den Tageserwerb, die Hingabe an das Fernste und die Gier nach dem Nahen. Beide zusammen bilden ein Ganzes, das Jude heißt.

Wenn in diesen extremen Typen die Idee es ist, die sich in der reinen Form des Humors auszuprägen sucht, so überwiegt in „Towja dem Milchigen“ (Tobias dem Milchhändler) die Wirklichkeit. Er ist eine künstlerisch große Darstellung des jüdischen Durchschnittsmenschen. Er ist weit weniger Geist als Menachem-Mendel, aber der Geist lebt auch in ihm. Er ist seßhafter, aber auch er wandert zuletzt aus (nach Palästina), wobei ihm freilich nach seinem alten Leben und seiner gewohnten Umgebung bange wird. Er ist nicht so verschwärmt und flugsüchtig wie Menachem-Mendel, er hat auch nicht dessen Größenwahn, aber auch er ist imstande, seine gesamten Ersparnisse auf einmal Menachem-Mendel zu übergeben, um den großen Treffer zu machen. Er hat nicht dessen gläubigen Optimismus, er kennt das Lachen unter Tränen und sein Witz ist sarkastisch, aber auch er ist ein Mansch der Hoffnung, die nie enttäuscht werden kann. Seine alten Leiden machen ihn zum Fatalisten, aber in der plötzlichen Überraschung des Guten wie des Bösen bricht der kindliche. Glaube wieder in ihm durch. Auch er, der so viel von Pein und Mißgeschick zu sagen hat, weiß nichts von Verzweiflung; und wenn ihm das Schwerste widerfahren ist, nimmt er sich „wieder zu der Arbeit, zum bißchen Milchware und zum Pferd und Wägelchen; wie heißt es doch: ‚jeder Mann zu seinem Werke und jeder Mensch zu seiner Arbeit’“.

In Towja ist manches von Menachem-Mendel und manches von Schejne-Schejndel vereint. Er ist der jüdische Durchschnittsmensch, der Idealist und Materialist zugleich ist, Gläubiger und Ungläubiger, Schwärmer und Praktiker, ewiger Wanderer und festgenagelt an seinem Ort.

Und über all dem das Lachen Scholem-Aleichems, das feine und herzhafte, das überlegene und mitlebende Lachen, ach, das einzige große Lachen des Ghettos. Es ist verhallt.