„Der Stürmer“ und seine Leser

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Babette Lausch neben dem von ihr gestifteten „Stürmerkasten“. Foto: aus dem besprochenen Band (StAN)

Die Sensationslust und Empörungskultur, die heutzutage in den „sozialen“ Netzwerken und ihren Filterblasen zu beobachten sind, fanden in den 1930er Jahren noch analog zwischen der Redaktion des radikal-antisemitischen Hetzblattes und seinen Lesern statt. Eine wichtige Rolle spielten dabei die sogenannten „Stürmerkästen“, gläserne Vitrinen mit ausgewählten Zeitungsartikeln, die in nahezu jeder deutschen Gemeinde an öffentlichen Plätzen errichtet wurden – zumeist auf Initiative der Leserschaft!

Schon im Frühjahr 1923 erschien die erste Ausgabe des Wochenblatts „Der Stürmer“. Noch immer gilt das Blatt des fränkischen NS-Gauleiters Julius Streicher als Musterbeispiel erfolgreicher Indoktrination. Die Zeitung gehörte zu den meistgelesenen NS-Blättern, obwohl sie kein offizielles Organ der NSDAP war. Streicher als Gründer, Chefredakteur und Alleineigentümer wurde durch die Einnahmen zum Millionär – mit Billigung der NS-Führung. Denn die Omnipräsenz des „Stürmer im öffentlichen Raum“ und seine antisemitische Botschaft „fungierte als sozialer Kitt und damit als integraler Bestandteil der NS-Volksgemeinschaftsideologie“. Massenhafte Einsendungen, wie Zuschriften, Fotos und Denunziationen an den Verlag dokumentieren die bewusste Zustimmung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung zu den Inhalten des Blattes – in dem das Feindbild Jude, die jüdische Weltverschwörung im Mittelpunkt standen.

Julius Streicher stritt vor dem Internationalen Militärtribunal 1946 jedoch jede Verantwortung für seine geistige Beteiligung am Massenmord an den Juden ab: „Wenn in einigen Artikeln meines Wochenblattes der Stürmer von einer Vernichtung oder Ausrottung des Judentums gesprochen wurde, so waren dies scharfe Gegenäußerungen gegen provozierende Auslassung jüdischer Schriftsteller.“

Nicht nur Streicher erklärte sich für unschuldig, die meisten der NS-Angeklagten versuchten die Verantwortung auf jene abzuschieben, über die nicht mehr gerichtet werden konnte, wie etwa Hitler, Goebbels oder Himmler – oder beteuerten, nichts von den Verbrechen geahnt oder gar gewusst zu haben. Obwohl Ernst Hiemer, enger Mitarbeiter von Julius Streicher unmissverständlich als Zeuge vor Gericht erklärte: „Streicher und Stürmer sind ein und dasselbe.“ Julius Streicher wurde zum Tode durch den Strang verurteilt und hingerichtet.

Wissenschaftliche Publikationen über das Hetzblatt und seinen Verleger liegen einige vor. Die nun erschienene Studie „Der Stürmer und seine Leser“ untersucht erstmals umfassend das Zusammenspiel zwischen Leserschaft und den Machern der Zeitung, der selbsternannten „Stürmerkampfgemeinschaft“. Basis der Arbeit bildet die umfassende Analyse des von 1923 bis 1945 erschienenen populären Massen­mediums als seinerzeit neuartiger „antisemitischer Boulevard“. Abgerundet wird der reichbebilderte Band durch ein Verzeichnis von über 2.100 Stürmerkästen – die reichsweit in Städten und Dörfern ihren eliminatorischen Antisemitismus propagierten. „Der Stürmer und seine Leser“ ist eine äußerst aufschlussreiche und spannende wissenschaftliche Arbeit, akribisch und quellengesättigt, die einen anderen Blick auf eine der bekanntesten Erscheinungsformen von NS-Propaganda wirft und dabei an die Notwendigkeit eines aktuellen kritischen Umgangs mit den heutigen „sozialen“ Medien appelliert. – (jgt)

Melanie Wager, Der Stürmer und seine Leser. Ein analoges antisemitisches Netzwerk, Berlin 2024, 537 Seiten, 36,00 €, Bestellen?