„Wir sind nicht tot, aber wir sind Tote“

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Hanna Lévy-Hass – Widerständlerin und Chronistin von Bergen-Belsen

Von Roland Kaufhold

Hanna Lévy-Hass wurde am 18.3.1913 in Bosnien geboren. Sie hatte drei Brüder und vier Schwestern. Sie studierte in Serbien, machte 1936 ihr Diplom und arbeitete als Lehrerin in Jugoslawien. Sie war als überzeugte Linke im Kampf von Titos Partisanen im antifaschistischen Widerstand eingebunden. „Als dann im Herbst 1943 die Deutschen kamen, da war ich schon darauf vorbereitet, in die Berge zu gehen. Ich hatte schon die Adresse, gute Schuhe.“ Aus Rücksicht auf ihre jüdischen Freunde und Verwandte schob sie den Gang in die Berge, zu den Partisanen, auf.

Im Februar 1944 wurde sie von der Gestapo verhaftet und im Sommer nach Bergen-Belsen verschleppt. Dort verfasste sie acht Monate lang geheim ein Tagebuch über das Leben in Bergen-Belsen.

Nach ihrer Befreiung im Frühjahr 1945, sie war dem Tode näher als dem Leben, kehrte sie über Dresden und Bratislava nach Jugoslawien zurück. Sie arbeitete bei Radio Belgrad und schrieb „nach einigen Wochen und Monaten“ ihr Tagebuch ab. Einige Exemplare gab sie an Freunde in Jugoslawien.

Am 31.12.1948 ging sie in den jungen Staat Israel. Sie wollte als Jüdin unter Juden leben, unbehelligt vom Antisemitismus. In Israel wurde sie als eine der wenigen überlebenden jugoslawischen Jüdinnen gebeten, über Bergen-Belsen zu berichten. Von 120.000 jugoslawischen Juden hatten weniger als 10.000 überlebt.

Hannah schloss sich, wie ihr israelischer Ehemann, der kommunistischen Partei Israels an. Mit Enttäuschung erlebte sie, dass ein Teil ihrer arabischen Genossen in Israel die Tatsache der Nichtanerkennung Israels durch alle mittelöstlichen Länder ignorierte. Schrittweise verstand sie sich nun als Feministin. 1961, während des Eichmann-Prozesses, baten Vertreter der Internationale Föderation der Widerstandskämpfer Hanna um eine Veröffentlichung ihrer Erinnerungen. Sie erschienen auf Französisch, 1963 auf Hebräisch und 1972 in Italien.

Nach einem Besuch Buchenwalds 1963 brachen ihre Traumatisierungen wieder auf. Danach hatte sie, so sagte sie Eike Geisel, den sie 1978 kennenlernte, Jahre später, „kein persönliches Interesse“ mehr an einer weiteren Veröffentlichung.

Ab 1977 reiste sie regelmäßig nach Europa. Am 10.6.2001 verstarb Hanna Lévy-Hass in Jerusalem.

Hanna Lévy-Hass´ Bergen-Belsen Tagebuch

Von August 1944 bis April 1945 notierte Hanna in einem Notizbuch, obwohl dies streng verboten war, ihre Beobachtungen des grausamen Lagerlebens in Bergen-Belsen und ihre eigenen Ängste.

Als Zeitzeugin wurde sie eine Chronistin des jüdischen Überlebenskampfes. Sie erhielt Schutz durch Mithäftlinge, die in Gesprächen ihre Erfahrungen des Überlebenskampfes mit ihr teilten.

Acht Monaten lang schrieb sie regelmäßig, inmitten der täglichen Not, Todesdrohungen und der permanenten Angst, ihre Eindrücke nieder. Dass sie die Hölle von Bergen-Belsen überleben würde erschien ihr als unwahrscheinlich. Im April 1945 verfasste sie ihre letzte Aufzeichnung. Ihr Tagebuch umfasst 52 Seiten.

Auszüge aus Hannas Tagebuch

„Vergessen heißt verraten“ setzt sie ihrem Tagebuch als Motto voraus: „Mein Inneres ist wie erstarrt, und ich fühle, wie meine Apathie gegenüber der Außenwelt jeden Tag wächst. Und jeden Tag fühle ich mich weniger fähig für ein Leben.“ Ihre sozialistische Grundhaltung versucht sie innerlich aufrecht zu halten. Sie beschreibt das Chaos, die internen Konflikte zwischen den Tausenden von Häftlingen, die 25 Sprachen sprechen: „Man kann in dieser Atmosphäre nicht atmen. Welche Schande. Welch trauriges Schauspiel.“

Die „unheilbaren Krankheiten seelischer Isolierung“, der Platzmangel, die durch die Deutschen bewusst erzeugten verheerenden hygienischen Verhältnisse, die „unaufhörlichen Schikanen“ dienten dazu, die Persönlichkeit der Juden systematisch zu zerstören.

„Ich kenne den Feind besser und habe gründlicher erkannt, wogegen man künftig kämpfen muss,“ notiert sie am 22.8.1944. „Ich bin durchdrungen von äußerster Müdigkeit und völliger Interessenlosigkeit.“

Immer wieder schreibt sie über den Sadismus der Deutschen: „Die deutschen Bestien halten an ihrer bevorzugten Methode fest: Furchtbare Schläge und grobe hysterische Beschimpfungen. Sie zwingen die Arbeiter in die erniedrigendsten Situationen.“ „Die deutschen Offiziere blicken auf all das mit kaltblütiger Grausamkeit und Verachtung und befehlen: „„Stillgestanden!“ Tödliches Schweigen herrscht in allen Seelen.“

„Ein grenzenloses, schändlich zur Schau gestelltes, stinkendes und heulendes Elend. Genau das haben die Nazis gewollt. Genau das. Und bis zu ihrem infamen, tierischen Grade zu demütigen, uns bis zum Wahnsinn zu treiben und in unserem Innern sogar die Erinnerung daran abzutöten, daß wir einmal menschliche Wesen waren“ notierte Hanna am 1.9.1944.

„Wir sind verroht. Ein jeder hat sich sein eigenes Elend vergraben“, schreibt sie am 20.10.1944.

Selbst im Lager war Widerstand möglich: „In mir eine außerordentliche Kraft, überraschende Sicherheit und Entschlossenheit“. Jede Nachricht über militärische Niederlagen der Deutschen, die sie auch in Bergen-Belsen erreichten, stärkte ihre Entschlossenheit, den Überlebenskampf nicht aufzugeben.

Ende 1944 war die Vernichtung aller Juden Bergen-Belsens täglich spürbar. Hannah bewahrte sich die Kraft zur literarischen Beschreibung der Vernichtung: „Sie sehen schrecklich aus, krank, grau, von schwärenden Wunden bedeckt.“ Sie beschreibt den täglichen Todeskampf: „Wir sind nicht tot, aber wir sind Tote. Man hat es fertigbekommen, in uns das Recht auf das gegenwärtige Leben abzutöten.“

„Gestern dauerte der Appell den ganzen Tag, bis spät in die Nacht. Jetzt ist unser Essen schon mehr als einen Monat lang auf eine Schale Suppe am Tag vermindert. (…) Das sichere Ende rückt näher. Aber die deutschen Soldaten und Offiziere haben sich nicht verändert. Dieselbe Arroganz, dieselbe Brutalität, dieselbe Grausamkeit“, notiert sie am 22.11.1944.

Im Februar 1945, vertraut sie ihrem Tagebuch an, droht sie „am Menschen zu verzweifeln.“ Und doch ringt sie mit der Perspektive eines jüdischen Lebens in Palästina: „Und die Judenfrage? Wo und wie wird diese ganze höllische Komödie enden? Unser jüdisches Land? Wo und warum? Wie?“

Die Arbeit mit Kindern in Bergen-Belsen

Selbst in Bergen-Belsen vermochte die frühere Lehrerin Hannah mit Kindern zu arbeiten: „Ich habe die Aufgabe übernommen, mich um die Kinder zu kümmern. In unserer Baracke sind 110 Kinder verschiedenen Alters, von dreijährigen Kleinkindern bis zu 14- oder 15-jährigen Jungen und Mädchen. Ohne irgendein Buch zu arbeiten, ist nicht leicht. Ich bin gezwungen, mit der Hand kleine Fetzen Papier, Dutzende und Aberdutzende, mit verschiedenen Themen zu beschreiben, für die ganz Kleinen, die kaum lesen und schreiben können, und für die am weitesten Fortgeschrittenen.“

„Die Kinder sind wild, enthemmt, ausgehungert. Sie fühlen, daß ihr Leben eine außerordentliche und anormale Wendung genommen hat, und sie reagieren darauf instinktiv und brutal“, notiert sie.

Sie dokumentiert die Ängste der Kinder: „Die Kinder, die keine Freude kennen. Angst, nichts als Angst. Diese armen, kleinen, gedemütigten Wesen, die stundenlang geradestehen müssen, Angst im ganzen Körper und den Blick in starrer Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. Sie verbergen den Kopf unter irgendeinem Lappen, schmiegen sich an die Großen, um gegen Kälte und Schrecken Schutz zu suchen. Nur ihre Augen bleiben weit offen, in ängstlicher Spannung, wie bei einem gehetzten Tier.“

Sie lässt die Kinder Gedichte auswendig lernen, zur inneren Ablenkung von der grausamen Lagerrealität.

Man habe beschlossen, nun an jedem Samstag im ganzen Lager Kinderfeste durchzuführen, mit überwiegend religiösem Charakter. Die Kinder „möchten leben, sie möchten spielen, das ist stärker als sie selber. Oh, es ist so ergreifend“, schließt sie ihre Tagebuchnotiz vom 18.11.1944.

1979: Ihr Tagebuch erscheint auf deutsch

Eike Geisel war neben seinem Freund Wolfgang Pohrt ab Mitte der 1970er Jahre der Hauptvertreter der sogenannten „Antideutschen“. 1978 lernte Eike Geisel Hanna Lévy-Hass kennen. Er besuchte sie auch in Israel. Sie zeigte ihm ihr Bergen-Belsen-Tagebuch, ein Jahr später erschien es auch auf deutsch.

Nach dem Tode von Hannah (2001) und Eike Geisel (1997) gab ihre 1958 geborene Tochter, die israelische Journalistin Amira Hass, 2009 ihr Tagebuch in einer erweiterten Version auf deutsch heraus. Amira Hass ist in Israel eine sehr kritische, teils umstrittene Journalistin.

Literatur     

Hanna Lévy-Hass (1979): Vielleicht war das alles erst der Anfang. Hanna Lévy-Hass Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen. Herausgegeben von Eike Geisel. Berlin: Rotbuch Verlag.

Hannah Lévy-Hass, H. (2009): Tagebuch aus Bergen Belsen 1944-1945. Mit einer Einleitung und einem Nachwort von Amira Hass. Herausgegeben von Amira Hass. Berlin: Beck Verlag.

Roland Kaufhold (2022): „Ich schäme mich schrecklich, alles das zu erleben“. Das Bergen-Belsen Tagebuch von Hanna Lévy-Hass: https://www.hagalil.com/2022/08/hanna-levy-hass/

Kaufhold, R. (2024): Hanna Lévy-Hass (Sarajewo 1913-Jerusalem 2001):
Jugoslawisch-jüdische Widerständlerin und Chronistin von Bergen-Belsen:
Jüdische Widerstandsreihe der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Filme

Amira Hass (2010): Diary of Bergen Belsen

Sara Pizzati (2011): dal diario di Hanna Levy-Hass 17.10.1944: https://www.youtube.com/watch?v=-NeQmSKQItY