„Erledigung der Rest-Tschechei“

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Vom Münchner Abkommen zur Beilegung der Sudetenkrise bis hin zur endgültigen Zerschlagung der Tschechoslowakei sollten nur wenige Monate vergehen. Am 15. März 1939, also vor genau 85 Jahren, marschierte schließlich die Wehrmacht in Prag ein. Für die Juden des Landes brach eine schwere Zeit an.

Von Ralf Balke

Der Anfang vom Ende wurde in München gemacht. Als am Abend des 30. September 1938 Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain in der bayrischen Hauptstadt das mit Frankreichs Ministerpräsident Èdouard Daladier, Italiens Diktator Benito Mussolini sowie Adolf Hitler ausgehandelte Abkommen unterzeichnete, dass die sogenannte Sudetenkrise beilegen sollte, sprach er von „Peace for our time“, zu Deutsch: „Frieden für unsere Zeit“. Doch der Preis dafür war hoch. Die junge Tschechoslowakei, das Land wurde erst im Oktober 1918 als einer der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns gegründet, musste infolge auf rund ein Drittel seines Staatsgebietes und ungefähr ein Viertel seiner Bevölkerung verzichten, und zwar das Sudetenland mit seiner deutschen Minorität. Im Gegenzug gaben London und Paris Garantieerklärungen für die territoriale Integrität des unter Prager Kontrolle verbliebenen Territoriums. Die knapp 28.000 im Sudetenland lebenden Juden bekamen sofort die antisemitischen Maßnahmen der nun nationalsozialistischen Herrschaft zu spüren. Während des Novemberpogroms wurden Synagogen zerstört, wer nicht fliehen konnte, sah sich Repressionen ausgesetzt. So berichtete bereits am 16. November 1938, also nur sechs Wochen nach dem deutschen Einmarsch, die „Marienbader Zeitung“ voller Stolz, dass der berühmte Kurort endlich „judenfrei“ sei. Und im Dezember 1938 jubelten die NS Monatshefte: „Durch die Brechung des jüdischen Einflusses, der einst vor allem durch die Person Beneschs garantiert war, hat das Weltjudentum nun eine seiner stärksten Bastionen in Europa verloren, nachdem ihm schon ein halbes Jahr vorher Wien entrissen wurde.“

Doch was die westlichen Politiker nicht wissen, sehr wohl aber hätten ahnen können: Für Hitler war das Sudetenland nur ein Schritt zur einer weiteren Expansion, die mit dem sogenannten Anschluß von Österreich im März 1938 ihre Anfang genommen hatte und unmittelbar danach mit dem „Fall Grün“ in ihre nächste Phase überging, der sukzessiven Annexion der Tschechoslowakei. Erste Pläne dafür reichen zurück in das Jahr 1937. Und ziemlich genau drei Wochen nach dem Einmarsch ins Sudetenland, und zwar am 21. Oktober 1938 formulierte der deutsche Diktator in einer „Erledigung der Rest-Tschechei“ genannten Weisung, die Ziele klar und deutlich: „Es muss möglich sein, die Rest-Tschechei jederzeit zerschlagen zu können, wenn sie etwa eine deutsch-feindliche Politik betreiben würde.“ Wie man dabei vorgehen sollte, umriss Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Ende Dezember so: „Nach außen muss klar in Erscheinung treten, dass es sich um eine Befriedungsaktion und nicht um einer kriegerische Unternehmung handelt.“

Also schürte man von deutscher Seite den Konflikt zwischen Tschechen und Slowaken und unterstützte eine staatliche Selbstständigkeit der Slowakei. Parallel ließ man die Wehrmacht auf Einmarschpläne ausarbeiten und heizte die Stimmung auf, in dem man – selbstverständlich mit einem antisemitischen Unterton – von vermeintlichen Übergriffen auf die deutsche Minorität berichtete. „In Witkowitz zog der von Juden aufgehetzte kommunistische Mob an die deutsche Grenze und rief im Sprechchor >Auf nach Troppau!< und >Nieder mit den deutschen Schweinen!<“, zitiert Radio Prag International in einem historischen Abriss der Ereignisse deutsche Medien. „Bei diesen Zusammenrottungen wurden fünf Deutsche durch Stockhiebe auf den Kopf erheblich verletzt, darunter zwei Frauen. In Kladno wurde das Haus des Deutschen Klubs demoliert und der Theatersaal in Brand gesteckt.“ Am 14. März 1939, dem Tag, an dem der slowakische Landtag die staatliche Selbstständigkeit der Slowakei, die daraufhin ein Vasallenstaat der Deutschen werden sollte, erklärte, bestellte Hitler den damaligen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, und seinen Außenminister Frantisek Chvalkovsky nach Berlin. Er drohte mit der Bombardierung von Prag, falls man nicht das „Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches“ legen würde, woraufhin die beiden tschechoslowakischen Politiker genötigt wurden, einen „Protektoratsvertrag“ zu unterzeichnen.

Am Morgen des 15. März 1939 dann marschierte die Wehrmacht in der Tschechoslowakei ein, und damit auch nach Prag. Während die tschechische Bevölkerung von der plötzlichen Besatzung entsetzt war und mit Protesten reagierte, wurde sie dagegen von den Angehörigen der deutschen Minorität frenetisch bejubelt und als „Befreier“ empfangen. Die im Gefolge der Soldaten einziehende Gestapo begann sofort mit der Verhaftung aller potenziellen politischen Gegner sowie der sich im Lande befindlichen, vor den Nationalsozialisten geflohenen Deutschen und natürlich von Juden. Hitler selbst traf noch am selben Tag in Prag ein und verkündete kurz darauf auf dem Hradschin die Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ unter dem „Protektor“, dem ehemaligen deutschen Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath. Der Begriff „Protektorat“ ist einer, der aus der deutschen Kolonialpolitik der Kaiserzeit bekannt war und verweist bereits in die Richtung, wie man deutscherseits mit der Tschechoslowakei umzugehen plante. Zwar stellte ihre Liquidierung einen klaren Bruch des Münchner Abkommens dar, den weder Großbritannien, noch Frankreich, Polen oder die USA und die Sowjetunion anerkannten, doch es blieb verbalen Verurteilungen und Proteste als Reaktion. Viel bedeutender aber war die Tatsache, dass sich die in München abgegebenen Garantieerklärungen als völlig wertlos gezeigt hatten, was den deutschen Diktator dazu ermunterte, seine Expansionspolitik fortzusetzen, weil er in den Westmächten allenfalls Papiertiger sah.

Hitler auf der Prager Burg, Foto: Bundesarchiv, Bild 183-2004-1202-505 / CC-BY-SA 3.0

Die Besetzung der Tschechoslowakei und Prags veränderte schlagartig das Leben der rund 120.000 Jüdinnen und Juden im „Protektorat“, deren Status als gleichberechtigte Bürger zuvor von der Tschechoslowakei durch den 1919 unterzeichneten Minderheitenschutzvertrag von St. Germain garantiert war. Eine weitere Besonderheit des jungen Staates: Juden wurden nicht nur als religiöse Minderheit betrachtet, es gab auch die Option, sein Jüdischsein als nationale Identität zu definieren. Kulturell und sprachlich waren sie zwar eher deutsch geprägt, was Juden nicht selten in Konflikt mit dem tschechischen Nationalismus brachte, aber ihnen nach der Besatzung durch die Wehrmacht nicht helfen sollte.

Bereits am 17. März 1939 wurden die ersten antijüdischen Maßnahmen bezüglich dem Erwerb und der Veräußerung von Eigentumswerten beschlossen und ging bereits einen Monat später gegen Juden im öffentlichen Leben vor, wobei sich Probleme ergaben, eine Zugehörigkeit zum Judentum genau zu definieren. „Reichsprotektor“ von Neurath gab daher am 21. Juni 1939 die Order aus, die Nürnberger Rassengesetze rückwirkend auf den 15. März 1939 zur Anwendung zu bringen. Zudem begann – ebenfalls am 21. Juni 1939 – eine Welle der Enteignungen jüdischer Besitzes im Allgemeinen und jüdischer Unternehmen im Besonderen, weshalb Juden unter anderem verpflichtet waren, den Besitz von Grundstücken oder Schmuck bei den Behörden zu melden. Immobilienerwerb sowie der Besitz von Wertpapieren wurde ihnen nun untersagt. In einem weiteren Schritt wurden Juden im März 1940 dazu gezwungen, ein „J“ in ihrem Ausweis eintragen zu lassen, einen Monat später verhängte man ein Berufsverbot – wer als Lehrer, Apotheker oder Rechtsanwalt tätig war, verlor seinen Job. Trotz alle restriktiven Gesetze gelang nach dem 15. März 1939 immerhin noch mehr als 26.000 Jüdinnen und Juden die Flucht aus dem „Protektorat“. Aber bereits im Oktober 1939 setzten die ersten Deportationen ein, und zwar aus Ostrava und Frýdek Richtung Nisko in das sogenannte Generalgouvernement.

Die Ernennung von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, am 27. September 1941, zum „Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren“ bedeutete eine Radikalisierung der antijüdischen Maßnahmen. Denn Heydrich war nun der eigentliche Herrscher über das Land und erwarb sich schnell den Ruf als „Schlächter von Prag“. In diese Zeit fallen nicht nur die Deportationen in Konzentrationslager, die nun in größerem Rahmen stattfanden, sondern ebenfalls die Errichtung des Ghettos Theresienstadt. Von den schätzungsweise 82.000 aus dem „Protektorat“ verschleppten Jüdinnen und Juden sollten nur 11.200 überleben. Ein Ende der deutschen Schreckensherrschaft setzte erst mit dem Aufstand von Prag ein, der am 5. Mai 1945 begann. In den wenigen Tagen bis zur Kapitulation der deutschen Truppen gelang es dem tschechischen Widerstand sogar, SS-Einheiten zu besiegen und das Gestapo- und Sipo-Hauptquartier einzunehmen. Das „Protektorat Böhmen und Mähren“, das vor genau 85 Jahren im Zuge der deutschen Besatzung von Prag errichtet wurde, war nunmehr Geschichte.