Wenn Freundschaften wegen des Nahostkonflikts zerbrechen
Von Andreas Blumenthal
I
Eine Zeitschrift möchte „mit jungen Menschen darüber sprechen, wie der Nahostkonflikt ihre Freundschaften auf die Probe stellt“.
Jung bin ich nicht mehr. Geboren 1958, werde ich im kommenden Januar 66 Jahre alt.
Dass das Leben dann erst anfängt, ist eine Lüge.
Die Freundschaft, von der ich erzählen will, begann vor 43 Jahren, im Frühjahr 1980. Da war ich 22 Jahre jung.
II
Bei einem Betriebsausflug lernten wir – mein damaliger WG-Mitbewohner Thomas(*) und ich, beide damals als wissenschaftliche Hilfskräfte an einer außeruniversitären Großforschungseinrichtung beschäftigt – Christian(*) kennen, einen jungen dänischen Wissenschaftler, der, mit einem Stipendium ausgestattet, einige Monate Gast dieses Forschungszentrums war.
Seitdem waren wir Freunde, drei Freunde.
Ländergrenzen hinderten uns nicht daran, uns jedes Jahr zu sehen, manchmal sogar mehrmals, in Deutschland, in Dänemark und auch in Frankreich, wo wir viele gemeinsame Urlaube verbrachten.
Wir wurden Väter, wurden Großväter, waren immer im Austausch, sprachen über Vieles, auch Schwieriges, und unterstützten uns, emotional und praktisch, wenn der eine die Hilfe der anderen gebrauchen konnte.
Gemeinsam gealtert, lautete der Titel unserer WhatsApp-Gruppe „Alte Herren“.
III
Am 10. November haben meine langjährige Lebensgefährtin und ich geheiratet. Thomas, mein früherer WG-Mitbewohner, war mein Trauzeuge.
Christian, seit vielen Jahren leider schon gesundheitlich ziemlich angeschlagen, wollte dessen ungeachtet die Reisestrapazen auf sich nehmen, um bei unserer Hochzeit dabei zu sein. Thomas und ich hofften sehr, dass er tatsächlich würde kommen können, hofften sehr, dass kein neuerlicher gesundheitlicher Rückschlag dies in letzter Minute vereiteln würde.
Im kleinen Kreis der Gäst:innen der standesamtlichen Trauung wäre Christian – außer den Trauzeug:innen – der einzige gewesen, der nicht zur Verwandtschaft gehört; Wahlverwandtschaft eben, über Jahrzehnte gewachsene erweiterte Familie.
IV
Dann kam das Pogrom der Hamas vom 7. Oktober, und schon wenige Tage später begannen weltweite Proteste, nicht etwa gegen die Gräueltaten der Hamas, sondern gegen Israel, das sich erdreistete, die Hamas dort zu bekämpfen, wo sie zuhause ist: Im Gaza-Streifen.
Am Samstag, 21. Oktober, demonstrierten weltweit Hunderttausende Menschen gegen Israel, u.a. auch in Kopenhagen.
Christians Tochter, knapp 30 Jahre alt, war unter den Demonstrierenden, und am Sonntag, 22. Oktober, teilte Christian Fotos und Videos von dieser israelfeindlichen Demo mit uns in unserer WhatsApp-Gruppe.
Aber Christian teilte nicht nur Fotos und Videos, er teilte und teilt auch die Ansicht, dass es aktuell geboten ist, nicht gegen die Hamas zu demonstrieren, sondern gegen Israel, und er teilt ebenfalls die Position von UN-Generalsekretär António Guterres (nachfolgend wiedergegeben in Christians eigenen Worten), „dass die Reaktion von Hamas nicht aus einem Vakuum entstanden [ist], sondern eine Reaktion auf 56 Jahre Unterdrückung vo[n] Palästinensischen Menschen ist“.
Das war der Beginn des jähen Endes einer 43-jährigen, tiefen, bedeutsamen, lebensprägenden Freundschaft.
V
Meine Eltern entkamen den Nazis. Sie konnten 1938, 16 bzw. 18 Jahre alt, aus Deutschland nach England fliehen.
Dutzende meiner Verwandten – alle (bis auf eine einzige Cousine meines Vaters und deren kleine Tochter‘), die nicht aus Deutschland fliehen konnten – wurden in der Shoah ermordet.
Die beiden kleinen Kinder meiner israelischen Cousine, 4 und 7 Jahre alt, wurden 1971 von einem 15 Jahre jungen palästinensischen Attentäter ermordet, der eine Handgranate auf ihr Auto warf, als die junge Familie einen Wochenendausflug unternahm.
Ich bin Atheist, Universalist, politisch links eingestellt, ein überzeugter Gegner allen religiösen, nationalen, patriotischen Eifers.
Hätte ich die übernatürliche Macht, politische Träume Wirklichkeit werden zu lassen, würde aus Israel in den Grenzen von 1967 zusammen mit der West Bank, dem Gaza-Streifen und den annektierten Golanhöhen eine religiös neutrale Konföderation oder sogar ein religiös neutraler binationaler Staat, der allen seinen Bürger:innen, egal ob Juden, Muslime, Christen, Drusen oder was auch immer, dieselben Bürgerrechte gewährt.
Aber dass Israel sich dagegen wehren muss, von der Landkarte getilgt zu werden (genau das ist es ja, was „From the river to the sea“ besagt), dass Israel sich dagegen wehren muss, dass das schiere Leben aller Jüdinnen und Juden als legitimes Ziel palästinensischen Widerstands betrachtet wird, steht für mich außer Frage.
VI
Am Mittwoch, 25. Oktober, konnte ich nicht anders, als meinem – zusammen mit Thomas – besten, engsten, vertrautesten Freund nach 43 Jahren die Freundschaft aufzukündigen:
„Lieber Christian,
mit Menschen, die solcher Täter-Opfer-Umkehr, solcher Relativierung, Verharmlosung, de facto damit Legitimierung der Morde vom 7. Oktober das Wort reden, mit Menschen, deren Sicht auf den Nahost-Konflikt von Israel-bezogenem Antisemitismus geprägt ist, kann ich nicht Hochzeit feiern.
Meine Einladung an Dich zu unserem Hochzeitsfest ziehe ich daher hiermit zurück.
Es ist ein unersetzlicher Verlust für mich, dass unsere Freundschaft nach 43 Jahren so endet.
Alles Gute für Dein weiteres Leben
Andreas“
VII
Was bleibt ist eine riesige Leerstelle in meinem engsten persönlichen Lebensumfeld.
Was bleibt ist die sich immer wieder neu bestätigende schmerzhafte Erfahrung, dass du, insbesondere als politisch links stehender Mensch, im Kreis deiner persönlichen und politischen Freund:innen nicht von Empathie ausgehen kannst (etliche, für mich persönlich außerordentlich bedeutsame Ausnahmen bestätigen die Regel), wenn Jüdinnen und Juden von Palästinenser:innen angegriffen, vergewaltigt, entführt, ermordet werden.
Was bleibt ist das Gefühl, ja – leider – die Gewissheit, als links-alternativer atheistischer deutscher Jude zwischen allen Stühlen zu sitzen, immer schon (bewusst erlebt seit einem halben Jahrhundert, seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973) und immerwährend.
(*) Name geändert