Der Genozid an jüdischen Kindern – Sind die Nationalsozialisten zurück?

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Es ist Krieg in Israel. Nach dem terroristischen, antisemitischen und rassistischen Angriffen von Hamas, Islamischem Dschihad und ihren Kollaborateuren auf unschuldige Zivilisten – Frauen, Männer, Kinder – sehen wir uns gezwungen die Taten beim Namen zu nennen.

Von Boaz Cohen und Verena Buser

Als Holocaustforscher beschäftigen wir uns mit den Erfahrungen jüdischer Kinder während und nach dem Holocaust. Ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit sind die Gespräche und Kontakte mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in der ganzen Welt, und die Frage, wie sie mit dem Trauma und Verlust weiterleben konnten. Viele von ihnen gründeten Familien, halfen beim Aufbau des Staates Israel, lebten in der Gewissheit mit der Staatsgründung Sicherheit gefunden zu haben. Nun werden die Erinnerungen an den Holocaust wieder wach. Denn die Zahl der Todesopfer macht deutlich, dass jüdische Kinder 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Ziel eines gezielten Genozids sind. Die Geschichte wiederholt sich – jüdische Kinder werden ermordet, weil sie jüdisch sind.

Fragestellungen, die scheinbar längst historisch sind, erhalten nun eine neue Dringlichkeit.

1951 tritt die UN-Völkermordskonvention in Kraft. Hier heißt es unter anderem: „Völkermord bedeutet … die vollständige oder teilweise Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe“. Die historischen Parallelen liegen nahe, denn wer gezielt Kinder ermordet, hat die gesamte Gruppe im Visier. Zum bevorzugten Vokabular der NS-Führung zählte das Wort „judenrein“ in seinen unterschiedlichen Facetten. Rudolf Höss, Kommandant in Auschwitz, schrieb in seinen Nachkriegserinnerungen, dass „…diese Vernichtung des Judentums notwendig sei, um Deutschland, um unsere Nachkommen für alle Zeit von den zähesten Widersachern zu befreien“.

Frei von Juden – frei von jüdischen Kindern. Diese „Freiheit“ bedeutete in der Realität die Ermordung, Ausrottung, Misshandlung und Folter. Jüdische Kinder mussten um ihr Leben rennen. Die Zahlen sind nur Schätzungen und wohlbekannt: 1,5 Millionen Kinder wurden im Holocaust ermordet.

Jüdische Kinderüberlebende

Erst nach und nach wurden die Verbrechen deutlich, die Deutsche und ihre Helfer in ganz Europa an jüdischen Kindern begangen hatten. Es waren beispiellose Verbrechen. Der staatlich verordnete Genozid bedeute für jüdische Kinder, dass sie in Konzentrationslagern zumindest zeitweise überleben konnten. Es gab Massenerschießungen in ganz Europa, sie mussten sich vor ihren Häschern verstecken, etwa bei nicht-jüdischen Familien oder in Klöstern. Ältere Kinder kämpften Partisaneneinheiten, in denen sie ihre Namen teils änderten, um nicht als Juden entdeckt zu werden. In Ghettos implementierten die NS-Führung „Kinderaktionen“, in der Realität Menschenjagden, um jüdische Kinder zu finden und sie gezielt zu ermorden. Eine umfangreiche Studie zu diesen gezielten genozidalen Maßnahmen an Kindern steckt noch in ihren Anfängen.

Der Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, 1943 in Posen: „Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen.“ Offen wurde darüber kommuniziert, und den jüdischen Familien in ganz Europa waren diese gezielten Mordaktionen bewusst. Ein eindrückliches Zitat von Emanuel Ringelblum, Historiker und Chronist des Warschauer Ghettos, macht dies deutlich. Er schrieb 1942:

„Ständig erhalten wir Berichte über die Ermordung von jüdischen Kindern und älteren Menschen. … Natürlich geht es hier … um die Ausrottung der jungen Menschen. … Abgesehen von dem Pharao, der befahl, die Söhne in den Nil zu werfen, ist uns kein ähnlicher Fall bekannt. Im Gegenteil, man hat die Kinder immer am Leben gelassen, um sie dem Christentum zu übergeben. Selbst in den dunkelsten Zeiten, im Mittelalter, gab es einen Funken Menschlichkeit in den rauen Herzen der Barbaren, die im Allgemeinen das Leben von Säuglingen verziehen. Dies geschah jedoch nicht mit dem Nazi-Tier, das gerade das Liebste verschlang, das die größte Gnade erweckt – die unschuldigen Kinder.“ Ringelblum wurde im März 1944 zusammen mit seinem 12-jährigen Sohn Uri und seiner Frau Judith in Warschau erschossen.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der jüdisch-historischen Kommissionen, die sich nach Kriegsende in ganz Europe gründeten, legten Wert darauf, die an den jüdischen Kindern begangenen Gräueltaten festzuhalten. Aus diesem Grund sind zahlreiche Zeugnisse jüdischer Kinder überliefert.

„Die Deutschen hassen, wie Sie wissen, jüdische Kinder“
Sara Lobkowicz, 10-jähriges überlebendes Kind, Polen 1945

Sie sprachen über den Hunger in den Ghettos, den täglichen Überlebenskampf in den Lagern, verloren ihre Familien, mussten sich schutzlos ohne Angehörige durchschlagen und einer lebensbedrohlichen Situation nach der anderen entkommen. Keine Zeugnisse sind überliefert über die Erfahrungen der Kinder, die nicht überlebt haben – von den 97 Prozent, die ermordet wurden. Die Ereignisse haben tiefe Narben auf ihrer Seele hinterlassen. Je jünger ein Kind war, desto mehr empfand es die Welt des Holocausts als „normal“ – es war ihm nicht möglich, die Zeit davor als Referenz zu nutzen. Nach Kriegsende mussten die jüdischen Kinder wieder lernen zu leben. Vor allem die Kleinen kannten den Tod oft besser als das Leben.

Jüdische Child Survivors heute

Die jüdischen Kinderüberlebenden sind die heute letzten lebenden Zeitzeugen des Holocaust, viele von ihnen haben ihre Memoiren veröffentlicht. Im Jahr 2009 veröffentlichten Holocaust-Überlebende der Konzentrationslager, darunter viele damalige Kinder, ihr Vermächtnis. Darin heißt es unter anderem:

„Wir gedenken unserer ermordeten Familien und der Millionen Opfer, die an diesen Orten der Asche getötet wurden. … Nach unserer Befreiung schworen wir eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen: Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir darum bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren.“

Eines dieser überlebenden Kinder, deren lebenslanges Ziel es war, für den Frieden und Verständigung zu kämpfen, war Hannah Pick-Goslar, eine Freundin von Anne Frank. „Wenn es einmal passiert – kann es zweimal passieren“. Hannah erlebt den Krieg heute in Israel nicht mehr, sie starb 2022. Sie muss nicht mehr die schmerzvolle Erfahrung machen, dass am 7. Oktober 2023 das Gegenteil von „nie wieder“ passiert ist im Zuge der völkermörderischen Angriffe durch Hamas und ihre Unterstützer, die Dörfern und Kibbutzim im Süden Israels blutige Massaker durchgeführt haben, die auch gezielt an jüdischen Kindern vollzogen wurden. Die jüdischen Kinderüberlebenden, aber auch ihre Kinder und Enkelkinder, erlebten, wie Eltern sich opferten, um ihre Kinder zu retten, und ihre Kinder versteckten. Wir wissen nicht genau, was dies bei ihnen allen auslöst. Anzunehmen ist, dass der Holocaust für viele nie wirklich vorbei war. Ruti, die in Jerusalem lebende Tochter von Hannah Pick-Goslar und eine Holocaust-Überlebende der Zweiten Generation, berichtete am 11. Oktober: „Die Erinnerungen an den Holocaust sind immer da, man trägt sie jeden Tag mit sich herum – auch wenn alles schön aussieht. Im Hinterkopf sagt man sich immer: „Sei vorsichtig, es kann von der einen auf die andere Minute vorbei sein“. Am 7. Oktober 2023 ist dies passiert.

Wir als Holocaustforscher sind es nicht nur den Überlebenden des Holocaust schuldig, unsere Stimme zu erheben. Wir sind es auch den Opfern der Terroristen schuldig, die wir als „neue Nationalsozialisten“ bezeichnen. Die Hamas und ihre Kollaborateure haben jüdische Kinder und ältere Menschen nach Gaza entführt, sie haben Menschenjagden veranstaltet, Zivilisten hingerichtet und sich dabei gefilmt. Nun zu sagen „ja, aber …“ verfehlt unseres Erachtens die Realität angesichts einer den Nationalsozialisten nachempfundenen, völkermörderische Politik. Dies nicht anzuerkennen, gleicht in unseren Augen einem historisches als auch moralischen Versagen und unterstützt diese Taten. Die Welt ist voll von Hamas und ihren Unterstützern, auf Tiktok und X feiern sie Morde, Grausamkeiten, sexuellen und rassistischen Missbrauch im Namen der Freiheit, zeigen die Gesichter der entführten jüdischen Kinder. Die Nationalsozialisten haben ähnliches Material produziert.

Die Enkelin von Mirijam Lapid, geboren in Amsterdam, schrieb am 12. Oktober 2023: „Als Enkelin einer Holocaust-Überlebenden, Mirijam Lapid, fällt es mir wirklich schwer, Worte zu finden. Die Überlebensgeschichte meiner Großmutter hat sich immer so surreal angehört, wie nichts, was man sich vorstellen kann, selbst zu durchleben und mit solcher Tapferkeit zu überleben. Eines der Hauptziele bei der Gründung unseres Landes war es immer, allen jüdischen Menschen ein sicheres Zuhause zu bieten und zu versprechen – nie wieder. Je mehr Filmmaterial und Geschichten im Laufe dieser Woche veröffentlicht werden, desto mehr wird einem bewusst, dass es wieder passiert. Die Schilderungen der Überlebenden über die schrecklichen Taten an unschuldigen Zivilisten – Männern, Frauen, Kindern, Babys und älteren Menschen (einige von ihnen sind selbst Holocaust-Überlebende) – sind unglaublich herzzerreißend. Mein Mitgefühl gilt allen Überlebenden des Holocaust, die jetzt die schlimmste Form menschlicher Grausamkeit vor ihren Augen erleben und wiedererleben.“

Dr. Boaz Cohen  ist Leiter des Holocaust Studies Program am Western Galilee College Akko, Israel. Dr. Verena Buser, Berlin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Holocaust Studies Program/Western Galilee College.

Bild oben: Tamar und Jonathan mit ihren sechsjährigen Töchtern Shahar und Arbel und ihrem zweieinhalbjährigen Sohn Omer. Sie wurden im Kibbuz Nir Oz ermordet. Auch die Großmutter, Jonathans Mutter, wurde ermordet.