Um eine Prise Tabak

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Der vorliegende Textz erschien im Oktober 1938 in der von Julius Goldstein herausgegebenen Zeitschrift „Der Morgen“, die ein breites Themenspektrum aus aufgeklärt-orthodoxer Sicht bediente. Der Text von Jitzhak Leib Peretz, dem großen Wegbereiter der modernen jiddischen Literatur, dreht sich um große und kleine Versuchungen und Sünden im Leben.

Um eine Prise Tabak. Humoreske

J.L.Perez
Der Morgen, Heft 7, Oktober 1938

Als der Böse einst dasaß, ein Bein über dem andern, und mit einem lieblichen Satanslächeln, leicht gähnend, im Kontobuch der lebenden Seelen blätterte, tat er plötzlich einen Schlag in die Hände. Er war bei dem Konto des Chelmer Rebben angekommen, und das war leer — auch nicht ein Tüpfelchen von einem Buchstaben darauf zu erblicken.

Auf das Klatschen stürmten die Geschwänzten sofort herbei. Wie die Hunde mit hängenden Zungen drängten sie sich in der Tür und warteten auf einen Befehl. „Schickt sofort einen hinauf, nachzusehen, ob der Chelmer Rebbe noch lange zu leben hat!“ So leise wie sie gekommen, verschwinden die Boten, und keine Viertelstunde vergeht, da ist die Antwort da: des Chelmer Rebben Lebensfaden ist mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen; heute — morgen — wird er abgerufen.

„Der Schreiber soll hereinkommen!“ Kommt ein kahlköpfiges Schreiberlein hereingetanzt, mit rotunterlaufenen lustigen Äuglein, auf Hühnerbeinchen, tut einen Knicks hierhin, eine Verneigung dorthin, läßt sich mit einem Satz auf dem schwarzschwelenden Pechboden nieder, wie die Türken die Füße unter den Sitz gezogen; aus der einen Tasche zieht er sein Schreibzeug, eine nagelneue Krähenfeder, ein Tintenfaß voll sündigen Bluts, frisch gezapft, aus der anderen Tasche nimmt er ein frischgegerbtes Stück Renegatenhaut, wickelt es auseinander, spuckt in die Hände und wirft einen untertänigen Blick hinüber: Fertig! Der Böse lehnt sich in seinen Armsessel zurück und diktiert; das Schreiberlein streckt die Zunge heraus, und zuck, zuck, zuck läuft die Feder und kratzt.

An das Oberste Gericht ergeht ein Rapport folgenden Wortlauts: „Da doch geschrieben steht: ‚Kein Mensch wird geboren, der das Gute erkennt und nicht sündigt‘, und es da einen Chelmer Rebben gibt, der mit einem Fuß schon im Grabe steht, und sein Blatt ist leer, und es doch dabei bleiben soll: ‚Mosche ist wahr und seine Lehre ist wahr‘, — so soll der Chelmer Rebbe in die Gewalt des Satans gegeben werden.“

Nach einer kurzen Sitzung des Obersten Gerichts kommt der Bescheid: „Siehe Hiob, Kapitel Alef!“

Der Böse versteht sofort, was damit gemeint ist: „Tu mit ihm“, bedeutet es, „was du willst, nur seine Seele hüte! Er soll leben, solange es ihm beschert ist“.

Ist aber nicht so leicht getan wie gesagt. Eine Frau hat der Chelmer Rebbe — nicht euch gesagt! — nicht, seit so und so vielen Jahren schon ist er Witwer; Kinder — die sind schon verheiratet; da ist nichts zu holen. Von Schafen und Rindern ganz und gar nicht zu reden – nicht ein Zipfelchen Ziege! Was also? Einen Chelmer Rebben einfach so in Plagen nehmen?

Ein Gelüstchen vielleicht?, sinnt der Böse und leckt sich, streckt die Hand nach dem Tisch aus, rührt das Glöckchen in einem Schädel, und das Zimmer füllt sich mit Geschwänzten „Wen werden wir schicken, und wer wird für uns gehen, den Chelmer Rebben vom Wege abzubringen?“ Ein wildes Geschrei: „Ich!“ — „Ich!“ — „Ich!“ Alle wollen sie. Man weiß doch, für solche Kunststücke wächst man wie Hefeteig. Her und hin. Es kommt fast zu einer Schlägerei; ein Machtspruch wird nötig. Das Los entscheidet und fällt auf zwei der Geschwänzten, man sagt ihnen Massel tow, und sie verschwinden.

*

An einem schönen, hellen Tag stehen Chelmer Juden in Grüppchen auf dem Markt herum, schwatzen und reden vom Wald der Gutsherrn, von den Maßgeräten der Bauern, von Fellchen, die noch auf den Hasen sitzen, von ungelegten Eiern. Da zittert plötzlich der Boden unter ihnen und erbebt. Ein Krachen, noch einmal, dann kommt ein Wagen herangejagt, seine Räder donnern … Ein wildfremder Wagen, die Pferde staubig, Tiere wie Löwen… Und der Wagen – mit einem Ruck rast er in den Markt hinein, läßt nicht Zeit zum Ausweichen. Vorne auf dem Bock steht ohne Peitsche der Fuhrknecht, vorgebeugt, mit gesenktem Kopf, in einer Mütze mit Ohrenklappen eine rote Schärpe um die Hüften, die Hände in die Seiten gepreßt, und reißt die Hüften zurück, wenn die Pferde mit gestreckten Halsen sich bäumen. Hinter ihm aber steht ein herrenmäßig gekleideter Jude, im Kaftan, in einem Prunk von Anno dazumal! In seiner Rechten schwingt er die Peitsche und knallt über die Pferde hin, daß sie sich bald aufbäumen, bald wieder dahinfliegen wie Adler. Mit der Linken stößt er ein über das andere Mal den Fuhrknecht in den Rücken, und von Zeit zu -Zeit tut er auch noch einen Pfiff, daß die Pferde aus der Haut fahren wollen und im Galopp sich strecken wie Schlangen. Und der Fuhrknecht schreit und schreit: „Juden, Söhne von Barmherzigen erbarmt euch! Juden, Söhne von Barmherzigen, rettet mich. Leicht gesagt: rettet! — ganze Bündel von Funken stieben unter den Hufen hervor… Also jagt man dem Wagen nach. Mit entsetzten Augen sagen die einen Haschem Jischmerejnu, andere überlegen noch; Frauen kommen aus den Läden gestürzt und schreien Erbarmen.

Der Wagen muß am Schlachthaus vorbei. Da springen die Hunde heraus und den Pferden an die Schnauzen, da stürzen die Metzger und die Metzgerburschen herzu und fallen den Pferden in die Zügel. Mit einem Satz bleiben die Pferde stehen, die Haut auf ihnen bebt vor Angst, und schon sind die Metzger und die Metzgerburschen auf dem Wagen.

Was ist los? Stellt sich heraus: ein kleiner Streit… Der wie ein Herr Gekleidete mit der ledernen Geldtasche auf der Hüfte schreit, der Fuhrknecht sei verrückt geworden, wolle unbedingt Rast machen, und er sei in Eile, mit Brillanten zur Messe zu kommen. Kriegen die Leute ein bißchen Achtung! Der Fuhrknecht aber erklärt: Nicht er sei der Fuhrknecht, sondern in Wirklichkeit der andere. Auf dem Wege habe er ihn, der aus der Ferne komme und in die Ferne ziehe, nachts im Walde überfallen, ihm das Messer an die Kehle gesetzt, ihn gezwungen, die Kleider mit ihm zu tauschen, und jetzt wolle er ihm die Brillanten, das Geld, den Wagen samt den Pferden, kurz, alles wolle er ihm nehmen. Deshalb habe er, als er sah, daß sie in eine jüdische Gemeinde kamen, solches Geschrei erhoben. Der andere leugnet Stein und Bein — alles glatt erfunden!

Also dreht man Pferde und Wagen um, kann sich kaum der Hunde erwehren und fährt beim Rebben vor.

Da hebt ein Forschen und Prüfen an. Der Rebbe fragt jeden besonders aus. Zuerst läßt man den Kläger herein, den, der wie ein Fuhrknecht gekleidet ist. Der Rebbe verhört ihn und sagt: „Nach dem Augenschein, nach allem menschlichen Ermessen das Gröbste vom Groben; eine Sprache wie bei einem echten Fuhrknecht, schon die Stimme ist nicht aus dem Cheder, — eine Stimme aus Wald und Feld und zu Pferde.“

Trotzdem forscht er weiter: „Wieviel Ware habt Ihr im Wagen?“ — „Weiß ich? Führe ich etwa Rechnung? Ein Am Haarez bin ich, Rebbe! Gott hat geholfen, so handle ich also mit Brillanten!“ — „Und wieviel Geld habt Ihr im Beutel gehabt?“ — „Ich zähl nicht; ich will, es soll Segen hereinkommen…“ Na ja: sicher eine ausgedachte Geschichte! Der Rebbe räuspert sich und läßt den andern hereinschicken. Der sieht aus wie ein Sohn der Tora. Der Rebbe macht einen tastenden Versuch mit seinem Talmudwissen, und jener überschüttet ihn mit einem wirren Schwall von Talmud samt Kommentatoren. Doch mittendrin unterbricht er sich: „Rebbe — was soll das lange Forschen? Seht:“ — und läßt aus seinem Gürtel eisen Goldregen auf den Tisch niederprasseln, echte Dukaten, rote Flammen kullern über den Tisch… „Und die Hälfte von den Brillanten bekommt Ihr auch, nur sagt, sie sind mein!“

Springt der Rebbe auf und brüllt: „Teufel!“

Kommen alle hereingestürzt. Man reibt sich die Augen: wo ist der Kläger, wo der Beschuldigte, wo sind die Dukaten? Alles verschwunden — auch der Wagen, auch die Pferde — als hätte die Erde sie verschlungen… War das ein Traum?, sinnen die Leute in Chelm, oder — der Barmherzige möge uns bewahren — Hexerei?

Inzwischen erhält der Böse Bericht. „Narren!“, sagt er, „— Bestechung hätte er schon genommen, aber doch nicht bei einer Sache, die offenkundig zu werden drohte — hätte ja herauskommen können wie Öl in Wasser! Er wäre zur Verantwortung gezogen und am Ende noch festgenommen worden — er ist doch kein Narr!“ Ein Jahr Haft auf brennendem Pechboden ist die Strafe für die schwachköpfigen Geschwänzten. Eine neue Konferenz wird abgehalten, und keiner schreit mehr „Ich! — Ich!“ Doch zwei von den höheren, der eine ein besonders Verschlagener, der andere von reicher Erfahrung, nehmen die Sache erneut auf sich.

*

Es war an den Bußtagen, an einem kalten, finstern Regentag. Chelm badete in Schlamm, aus dem Himmel darüber triefte Melancholie. Da kam des Weges daher ein Jude, ein Bettler, nichts als Haut und Knochen — möge die Gnade uns davor bewahren —, verhungert und auf Krücken, ein Bein untergebunden. Er schleppte sich von Haus zu Haus, von Tür zu Tür, von Laden zu Laden und bekam im zehnten Haus ein altes Stückchen Brot, für das ihm die Zähne fehlten, im zwanzigsten einen abgegriffenen Groschen, der ihm aus der Hand glitt. Chelm braucht keine fremden Bettler, hat heimische und angesehene und allerlei verschämte Arme wie Witwen und Waisen von Schächtern, Dajanim, Rabbonim und andern Gemeindebeamten… So schleppt er sich herum, einen Tag, einen zweiten. Nässe und Kälte dringen ihm durch und durch. Die Watte, die aus seinem Mantel herausquillt, trieft; die Augen treten ihm aus den Höhlen, und plötzlich, mitten auf dem Marktplatz, bricht der Alte zusammen. Eine Krücke rechts, die andre links, und er liegt dazwischen, Schaum vor dem Munde…

Juden, Söhne von Barmherzigen, eilen herbei: der eine besprengt ihn mit Wasser, jener kommt mit ein wenig Rosinenwein, ein anderer mit einem Messer, ihm die Zähne auseinanderzustemmen und ein paar Tropfen einzuflößen. Wieder andere schreien: „Chelm ist Sodom!“ Inzwischen verfällt der Alte in Agonie. Man wird ihn doch nicht — Gott behüte — in der Gasse sterben lassen! Erhebt sich die Frage: Wohin mit ihm? Die Familienväter ziehen sich zurück; einige wissen nicht, wohin mit ihm.. Da kommt gerade der Rebbe vorbei. — „Zu mir selbstverständlich“, sagt er. Gehorsamkeit wie aus der Pistole geschossen! Wie der Rebbe sie noch nie erlebt hat…

Man legt den Sterbenden in des Rebben Bett, und da liegt er nun wie tot. Der Rebbe sitzt am Tisch, sieht in ein Buch und wirft alle paar Zeilen einen Blick zu dem Kranken hinüber. Auf der Gasse draußen treiben sich die Leute herum. Kann man wissen? Man muß sich doch bereit halten.

Die Nacht bricht herein. Der Rebbe will das Abendgebet sagen, da hört er den Kranken nach ihm rufen. Voll tiefen Mitleids tritt er zu ihm hin, beugt sich über seinen Mund und lauscht: das Vermächtnis eines Sterbenden?

„Rebbe“, flüstert der Kranke, „ich bin ein großer Sünder, und ich will so nicht sterben, will meine Sünden vor Euch bekennen…“ Der Rebbe will Leute dazu rufen, doch der Kranke hascht nach seiner Hand: „Um Gottes willen, um Gottes willen, unter vier Augen.“

Und nun erzählt er, er sei all seine Tage ein Bettler gewesen, ein falscher Bettler: um Brot gegangen für Weib und Kind und hatte doch weder Weib noch Kind; um Mitgift gebettelt für erwachsene Töchter und war doch immer allein wie ein Stein im Feld; hat gesammelt für Jeschiwot, und nicht ein einziger Talmudgelehrter hat Freude oder Nutzen davon gehabt; für Erez Israel — und keinen Heller davon abgeschickt; für Rabbi Schimeon bar Jochais Grab — und es in die eigene Tasche gesteckt; mit Erez-Israel-Erde gehandelt, und sie hinter dem Zaun genommen, und so weiter und so weiter. Und indem er einen kleinen Beutel unter seinen Kleidern hervorgrabscht, sagt er: „Und dies hab’ ich zusammengebracht!“ Öffnet auch gleich den Beutel: Richtige Banknoten — eine und noch eine… hunderte… „Das“, sagt er, „übergebe ich Euch, Rebbe, für Wohltätigkeit — nach Eurem eigenen Gutdünken zu verwenden!“

Tut da nicht unser Chelmer Rebbe einen Satz zum Fenster, reißt es auf und schreit aus vollem Halse: „Juden, Leute, kommt herein, Zedaka-Geld zählen!“ — als sei er mit einem Schlag fünfzig Jahre jünger geworden?

Man stürzt herein. Keine Banknoten — kein Sterbender — nichts als ein zerwühltes Bett und zwei eingeschlagene Fensterscheiben…

Wieder sinnen sie: Ein Traum oder — der Allmächtige möge uns bewahren — Hexerei? .

Der Böse aber steht da mit offenem Mund. Das ist schon etwas Außergewöhnliches …

*

Die schwarze Welt ist in völliger Verwirrung. Da sagt Lilit: „In meine Hände wird er gegeben werden — alte Mittel…“

Nun ist einmal der Rebbe nicht recht wohl und schickt zum Feldscher, er solle ihm ein wenig zur Ader lassen, das schlechte Blut abzuziehen; inzwischen — es ist um Sonnenuntergang — schickt er sich an, das Mincha-Gebet zu verrichten. Er steht zur Wand gekehrt im Gebet, da geht die Tür auf, und ein Mädchen kommt herein mit einer Schale. Der Rebbe ist im Gebet, also wird sie warten: schwänzelt im Zimmer herum, geht auf und ab. Der Rebbe sieht sich nicht um. Vergißt sie sich, sozusagen, und beginnt vor sich hinzusingen, und hat — ihr versteht — eine Stimme — na, wie sie sein soll! Aber hört er sie etwa?! Da tut sie, als sei sie müde geworden, setzt sich ohne Umstände auf das Bänkchen und beginnt, sich darauf hin- und herzuwiegen. Das Bänkchen knirscht… Närrisch! Käme eine Schlange, ihn zu stechen, er würde sich auch nicht von der Stelle rühren. Jetzt wird das Mädchen schon ein bißchen böse und beginnt wieder hastiger im Zimmer auf- und abzugehen. Da unterbricht der Rebbe sein Gebet, speit aus und sagt den Rest. Darauf setzt er sich an den Tisch und sagt ruhig: „Zeig’ das Geflügel!“

Sie will es ihm in die Hand reichen. Doch wieder sagt er ganz ruhig zu ihr: „Leg” es auf den Tisch! Ein jüdisches Mädchen“, lehrte er sie in freundlichem Ton Anstand, „muß wissen, wie man etwas zureicht.“

Nun legt sie ihm irgendein Hühnchen vor, und er sagt: „Erzähle!“ Da erzählt sie des langen und breiten, wie man das Huhn bei einer Bäuerin gekauft hatte, nach Hause gebracht, wie das Huhn davongelaufen ist, wie man es wieder eingefangen hat… Und dabei lacht sie und zeigt die Zähnchen, und die Stimme klingt in allen Winkeln wider. Und von den Zähnchen huscht ein Schimmern umher — so schön sind sie. So redend und lachend streicht sie um den Tisch herum. Ihre Ärmel sind kurz aufgekrempelt, die Arme nackt, das Hemd vorne aufgerissen, und ihr Körper — sie hat sich parfümiert — riecht nach allen Himmelsdüften! Und sie spart keine Mühe, streift an den Tisch, an das Bänkchen, an des Rebben Hand. Der betrachtet das Hühnchen. Sie läuft und stellt sich hinter ihn und sieht ihm über die Schulter, berührt mit ihrem Frätzchen seinen Kopf; ihr Atem wärmt ihn durch das Mützchen hindurch; sie haucht ihm auf den bloßen Hals —- und alles vergebens! Der Rebbe hört zu Ende, wirft nochmals einen Blick dahin, wohin er muß, und sagt: „Koscher! Und du, Mädchen“, fügt er hinzu: „laß dich verheiraten!“

Mit dem Huhn fliegt das Mädchen zum Fenster hinaus…

Der Rebbe lächelt; er verstand schon, was es bedeutete… und? — gar nichts!

*

Dort oben wieder eine Konferenz. Der sagt dies und jener das. Da meldet sich ein ganz junges Teufelchen, noch in den Lehrjahren, hat noch nicht ein einziges Federchen auf dem Kopf, nicht ein einziges Zähnlein im Mund; meldet sich und fragt: „Hat der Chelmer Rebbe gar kein Lasterchen; hängt er an gar nichts?“

„Hat allem entsagt“, antwortet man ihm, „höchstens etwa ein Dampfbad vor dem Schabbat!“

Pause. Tut das Teufelchen noch eine Frage: „Hat er denn nicht irgendeine Neigung, irgendeine Angewohnheit, etwa beim Benschen Kügelchen zu drehen aus dem Brot?“ Man hat ihn nicht essen sehen, einfach nicht gesehen! Da fällt Lilit etwas ein: als er ihren Duft verspürte, da hat er zu einer Prise Tabak gegriffen, „Genug!“, sagt das Teufelchen, nimmt Urlaub, und fort ist es.

Eine Gewohnheit hatte der Chelmer Rebbe von eh und je: jeden Freitag nachmittag nach dem Baden aufs freie Feld hinauszugehen und da auf einem festgelegten Weg zwischen Weizen und Korn auswendig das Hohe Lied zu sagen. Und weil er ein zerstreuter Mann war und fürchtete, er könne zu weit hinausgehen, hatte er sich ein für allemal den Weg mit Schritten ausgemessen. An einem Bäumchen hatte er sich ein Zeichen gemacht… „Wie schön ist dieser Baum“, hatte er nicht gesagt, ob auch an ihm Früchte wuchsen wie die Korallen. Nur als Merkmal… Auf dem Wege bis dahin sagte er die Hälfte des Liedes, setzte sich dann unter dem Bäumchen nieder, nahm aus einem Birkendöschen eine Prise Tabak, ruhte ein wenig aus und stand wieder auf, um zum Empfang des Schabbat zu gehen, auf dem Rückweg die andere Hälfte zu sagen, und traf auch jedesmal mit größter Pünktlichkeit zu Schabbat-Beginn ein.

Diesmal nun erschien, bevor der Rebbe zu seiner Stelle gekommen war, ein Koboldchen, ein winziges Männlein in Hütchen und Hosen mit grünen Passen, riß das Bäumchen aus, trug es ein Stück weiter weg und setzte sich dahinter. Da saß es nun, so winzig klein, daß man es nicht hinter dem Stämmchen hervor sehen konnte.

Inzwischen kommt der Rebbe an den Ort, wo das Bäumchen gestanden hatte; das halbe Hohe Lied ist gesagt, doch bis zu seinem Bäumchen ist es noch weit. War er in trüben Gedanken? Hat er ohne die richtige Andacht gebetet? Sofort nimmt er eine Buße auf sich: eine Prise Tabak hatte er gerade nehmen wollen, wie jedesmal, es hatte ihn danach gelüstet. Aber nein, er wird sie nicht nehmen, nicht ehe er bei seinem Bäumchen angelangt ist! Er ist wirklich schon ein wenig erschöpft, aber — nein, sein Gelübde wird er nicht brechen. Kaum kann er sich weiterschleppen — doch da ist er auch bei seinem Bäumchen. So müde ist er, und so sehr sehnte er sich nach seiner Prise Tabak! Es ist ihm schon schwarz vor den Augen! Aber — gelobt der Ewige! — da sitzt er ja endlich unter dem Bäumchen! Hastig zieht er das Birkendöschen hervor — wie die Hand ihm zittert! Da kommt von hinten ein Windstoß, und das Birkendöschen entfällt seiner Hand. Er streckt sie aus; da kommt wieder ein Windstoß, einfach ein Windchen, und das Döschen kollert weiter. Er streckt sich auf dem Boden, schiebt die Hand nach, — das Döschen kollert, und er folgt ihm kriechend: die Prise Tabak zieht ihn, auf allen Vieren verfolgt er sie… Das Koboldlein hinter dem Bäumchen grient und hört nicht auf zu blasen… Plötzlich aber, mit einem Ruck, reißt es das Bäumchen wieder aus und hat es im Nu wieder dahin gestellt, wo es immer gestanden hatte. Dem Rebben aber ist es noch nicht gelungen, das Döschen zu erwischen. Weiter bläst das Kobold lein… Da blickt der Rebbe sich um: sein Bäumchen steht weit vor ihm! Nun denkt er, er sei in seiner Zerstreutheit zu einem andern, entfernteren Bäumchen gekrochen, — er hebt den Blick zum Himmel: — der ist ausgestirnt! Er hat nicht einmal den Sonnenuntergang bemerkt, so hat die Prise Tabak ihn gelockt. Allerdings — eine sehr helle Nacht war es… Na ja — er hat den Schabbat-Beginn versäumt! In den Ort wird er heute nicht gehen; speisen werden ihn die Raben, die Elijahu den Propheten gespeist haben, — aber das Birkendöschen muß er kriegen… Weiter kriecht er, und das Koboldlein bläst, und das Döschen kollert…

Ich will keinen langen Brei daraus machen: er ist über die Schabbat-Grenze hinausgekrochen!

Das Teufelchen ist sofort befördert worden.

Vor dem Weggehen hat es zu der schwarzen Gesellschaft gesagt: „Über einen Berg fällt man nicht — eher strauchelt man über ein winziges Gelüstchen.“

Deutsch von Berit Schiratzki

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