Es ist stiller geworden in den letzten Wochen in Sachen „Justizreform“. Doch die Pläne der Regierung, die weitreichende Eingriffe in die Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs bedeuten, sind keineswegs vom Tisch. Sie ruhen nur, solange es unter der Fittiche von Präsident Herzog Verhandlungen mit der Opposition gibt, die einen Kompromiss erzielen sollen.
Von diesen Verhandlungen abgesehen, gibt es weitere Aspekte, die großen Einfluss darauf haben, wie es mit der Justizreform und dem Obersten Gericht weitergehen wird. Einer davon ist der Ausschuss, der Richter, auch des Obersten Gerichtshofes, wählt. Im Oktober wird dieser Ausschau eine Nachfolge für Esther Chajut, die Präsidentin des Obersten Gerichts, wählen. Die Zusammensetzung des Ausschusses ist daher derzeit im Zentrum der Auseinandersetzungen. Die Hardliner in Netanyahus Koalition drängen weiter darauf, dass beide Vertreter der Knesset in diesem Ausschuss von der Koalition besetzt werden, statt wie bisher von Koalition und Opposition.
Gestern kam es zu einem beispielslosen Drama in der Knesset, nachdem die Abgeordneten ihre beiden Vertreter im Ausschuss wählen sollten. Gemäß den Koalitionsvereinbarungen sollte für die Koalition Yitzhak Kreuzer von Otzma Jehudit (der rechtsextremen Partei Ben Gvirs) in diesen Ausschuss gewählt werden. Vor der Abstimmung konnte Netanyahu alle anderen Kandidaten der Koalition überzeugen, ihre Kandidatur zurückzuziehen, so dass die Koalitionsvereinbarung eingehalten werden kann. Alle, nur nicht Tali Gottlieb aus seiner eigenen Likud-Partei. Sie weigerte sich auszusteigen. Netanyahu fand eine Lösung in der Satzung der Knesset, die es ihm erlaubt, die Wahlen zu verschieben. Dazu müsste die Koalition sowohl gegen Gottlieb, aber auch gegen die Kandidatin der Opposition, Karin Elharrar von Jesh Atid, stimmen. Wenn kein Vertreter gewählt wird, kann die Wahl innerhalb eines Monats wiederholt werden.
Wiederum ein Trick Netanyahus, Zeit zu schinden, was evtl. andere Absprachen ermöglicht. Aber es kam anders. Karin Elharar wurde mit 58 Stimmen gewählt, was bedeutet, dass mindestens vier Abgeordnete aus der Koalition für sie stimmten. Tali Gottlieb erhielt nicht die erforderliche Stimmenanzahl, die Wahl des zweiten Vertreters muss nun tatsächlich wiederholt werden.
דרמת ענק בכנסת: ח“כ @KElharrar נבחרה לוועדה לבחירת שופטים, ח“כ @TallyGotliv בחוץ@YeshAtidParty@Likud_Party@netanyahu pic.twitter.com/VXI1FPhCF9
— ערוץ כנסת (@KnessetT) June 14, 2023
Netanyahu muss nun nicht nur die Wahl der Kandidatin der Opposition hinnehmen, sondern bekam auch eine deutliche Demonstration davon, wie es um seine Koalition bestellt ist. Er steht nicht nur zwischen den Zwänge von rechts und rechtsaußen, offensichtlich gibt es eine Handvoll Rebellen, die sich nicht der Fraktionsdisziplin beugten.
Oppositionsführer Gantz und Lapid kündigten in einer gemeinsamen Pressekonferenz am Abend an, die Gespräche bei Präsident Herzog solange auszusetzen, bis der Ausschuss tatsächlich zusammentritt. Netanjahu habe Herzog und den Gesprächspartnern ausdrücklich versprochen, dass der Wahlausschuss in seiner aktuellen Form mit einem Vertreter der Opposition einberufen werde, um den laufenden Dialog unter der Schirmherrschaft Herzogs sicherzustellen. Dieses Versprechen habe er nicht gehalten. Wie es nach diesem Bruch weitergehen und ob ein Kompromiss überhaupt noch erreicht werden kann, ist fraglich.
Und bei dem ganzen Chaos, fragt man sich kopfschüttelnd, was mit den Wahlversprechen von Netanyahu und seinen Koalitionspartnern passiert ist. Während sie sich weiter auf die „Justizreform“ fixieren, scheinen die tatsächlichen Probleme im Land nicht angegangen zu werden. Über 100 Mordopfer in der arabischen Gemeinschaft, steigende Preise, sozialer und wirtschaftlicher Verfall. Die Organisatoren der Proteste gegen die „Justizreform“ sehen die Tatsache, dass Mitglieder der Koalition gegen die Fraktionsdisziplin stimmten, als großen Erfolg und rufen zu weiteren Protesten auf. Samstagabend sind wiederum Großkundgebungen in fast allen Städten des Landes geplant.
Bild oben: Screenshot Twitter Arutz haKnesset