Vor 170 Jahren wurde Isaac Leib Peretz geboren. Mit seinen zahlreichen Kurzgeschichten, Satiren wie „Bontshe Shwayg“ oder seinem epischen Gedicht „Monish“ wurde er schnell zum Wegbereiter des Modernismus in der jiddischen Literatur. Zugleich förderte Peretz zahlreiche junge Schriftsteller seiner Zeit.
Von Ralf Balke
Seine Beerdigung war zweifelsohne Ausdruck des gewaltigen Prestiges, das er genoss. Als Isaac Leib Peretz im April 1915, nur wenige Wochen vor seinem 63. Geburtstag, an einem Herzinfarkt verstarb, sollen über 100.000 Menschen die Straßen auf dem Weg zum jüdischen Friedhof in Warschau gesäumt haben. Zu Grabe getragen wurde damals ein literarisches Multitalent. Sowohl als Essayist, Dramatiker sowie als Lyriker und Satiriker hatte er sich einen Namen gemacht. Darüber hinaus galt Peretz als Wegbereiter eines Modernismus in der jiddischen Literatur. Die kulturelle und sprachliche Autonomie der Juden im östlichen Europa sah er als Schlüssel im Kampf gegen die Assimilation, den grassierenden Antisemitismus, aber auch gegen den Zionismus, dem er kritisch gegenüberstand. Jüdische Intellektuelle sollten, so sein Mantra, in einer zunehmend säkularen Welt eine Rolle übernehmen, die eigentlich Rabbinern vorbehalten war, und zwar als Stichwortgeber in den politischen Debatten und moralische Autoritäten innerhalb ihrer Gemeinschaften.
Ausschlaggebend für die Entwicklung solcher Gedanken dürfte der Ort seiner Herkunft sein. Geboren wurde Peretz 1852 in Zamość, einer polnischen Stadt, in der unter anderem Polen, Ukrainer und viele Juden lebten, und die im 16. Jahrhundert vom Architekten Bernardo Morando nach den Vorstellungen eines optimalen urbanen Raums im Sinne der italienischen Renaissance errichtet wurde. Zugleich stand der Ort jahrzehntelang bis zur Gründung der Republik Polen unter russischer Herrschaft und galt ebenfalls als ein wichtiges Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Seine Eltern waren sephardischer Herkunft und als Kaufmannsfamilien waren sie vermögend genug, um sich Privatlehrer für ihren Sohn leisten zu können. So kam er in den Genuss einer klassischen jüdischen Erziehung, erlernte aber ebenfalls Hebräisch, Französisch, Deutsch und selbstverständlich Russisch. Als etwas frühreifes und verzogenes Kind, wie in den biographischen Beschreibungen zu seiner Person immer wieder zu lesen ist, verschlang er bald alles, was er an Büchern in die Hände bekam, darunter Maimonides, Texte zur jüdischen Mystik sowie hebräische Aufklärungsliteratur und selbstverständlich die Klassiker der europäischen Literatur. Er selbst beschrieb einmal seine juvenile Entdeckung der europäischen Literatur, des Rechtswesens sowie modernen Denkens ganz allgemein als Eintritt in ein nichtjüdisches „Besmedresh“, jiddisch für „Beit Hamidrash“, womit der Ort gemeint ist, an dem Juden sich mit der Torah beschäftigen.
Kaum 18 Jahre alt wurde er mit der Tochter des bekannten Warschauer Maskil Gabriel Yehuda Lichtenfeld verheiratet. Die Ehe hielt jedoch nicht lange, weil Peretz die Unterhaltungen mit seinem Schwiegervater interessanter fand als die Gattin. Gemeinsam mit Lichtenfeld verfasste er dann auch seinen ersten Gedichtband in hebräischer Sprache, der sich in vielerlei Hinsicht an den Texten des bekannten Dichters Yehuda Leib Gordon orientieren sollte. „Sipurim BeShir VeShirim Shonim“, zu deutsch: „Geschichten in Versform und ausgewählte Gedichte“, hieß er. Es folgten weitere lyrische Gehversuche, auch auf Polnisch – jedoch blieb die Resonanz so bescheiden, dass Peretz umsatteln musste und schließlich Rechtsanwalt wurde. Weil er bald in Konflikt mit den zaristischen Behörden geriet, die ihm sozialistische Agitation und die Unterstützung des polnischen Nationalismus vorwarfen, war Peretz auch seine Anwalts-Lizenz schnell wieder los und zog nach Warschau, wo er Angestellter der jüdischen Gemeinde wurde und zuständig für Beerdigungen sein sollte. Diesen Job übte er parallel zu seinen schriftstellerischen Aktivitäten bis zu seinem Tod aus.
Doch in den späten 1880er Jahren sollte sich langsam der Erfolg einstellen, und zwar mit einer sehr gefühlsbetonten Lyrik, die sich durch einen leicht nationalistischen Unterton auszeichnete und ganz im Zeichen der damals populären „Hibbat Zion“-Bewegung, zu deutsch: „Zionsliebe“ stand. Es folgte 1888 „Monish“, sein erstes episches Gedicht in jiddischer Sprache, das sich wie eine Ballade las, folkloristische Elemente enthielt und bewusst den Stil einer Predigt aufgriff und ironisierte. Im Mittelpunkt steht Monish, ein etwas frühreifer Talmudschüler, der sich vom Teufel und dessen Frau Lilith verführen lässt. Das klingt ein wenig nach Peretz eigener Jugend und steht für seine Faszination von der Moderne, wobei Elemente der Romantik mit einflossen – eine literarische Epoche, die bis dahin so gut wie keinen Einfluss auf die jiddische Lyrik hatte.
Den eigentlichen Durchbruch hatte Peretz dann einige Jahre später mit „Bilder fun a provintz-rayse“, zu deutsch „Bilder einer Provinzreise“, einer Sammlung brillanter Kurzgeschichten. Darin brachte er seine Eindrücke als Teilnehmer einer Delegation zu Papier, die im Auftrag des zum Christentum konvertierten und ursprünglich jüdischen Finanziers sowie Philantrophen Jan Bloch statistisches Material über die Lebenssituation von Juden abseits der urbanen Räume sammeln sollte, um zu belegen, dass der antisemitische Vorwurf, Juden seien wohlhabend und würden sich auf Kosten der einfachen polnischen Bauern, nichts mit den Realitäten vor Ort zu tun hat. Empfohlen für diesen Job hatte ihn Nahum Sokolov, ebenfalls ein prominenter Schriftsteller, aber auch Journalist und Zionist.
Richtig bekannt als Autor wurde Peretz dann 1894 mit der satirischen Kurzgeschichte „Bontshe Shwayg“, zu deutsch: „Bontshe Schweig“. Der Protagonist, ein einfacher Mann, der Zeit seines Lebens betrogen wurde – nicht einmal seine Kinder stammten von ihm – und dieses Schicksal mit Geduld und Gleichmut ertrug. Eines Tages stirbt Bontshe und landet in einem Paradies, das einem Luxushotel gleicht. Opulenz so weit das Auge reicht. So camouflierte Peretz seine Kritik an den Verhältnissen und kleidete seine Ablehnung einer falschen Bescheidenheit und der Duldung sozialer Missstände in Bilder und Worte, die die zaristische Zensur nicht sofort auf den Plan rufen sollte. Denn die eigentlichen Themen waren der Klassenkampf und die Passivität großer Teile der jüdischen Bevölkerung im östlichen Europa.
Viele Jahre führte Peretz eine Art Doppelleben. Auf der einen Seite der Angestellte mit einem Job im Büro. Auf der anderen Seite der Schriftsteller, der zuhause quasi Hof hielt und regelmäßige Besuchszeiten für Schriftsteller und Kulturaktivisten hatte. Ferner musste er immer wieder die zaristische Zensur austricksen. So gab er einer Reihe jiddischen Publikationen heraus, die auf dem ersten Blick Harmloses enthielten, beispielsweise die dreibändige Anthologie „Di yudishe Bibliotek“, zu deutsch: „Die jüdische Bibliothek“, und „Literatur un lebn“, zu deutsch: „Literatur und Leben“ sowie die „Yontev bletlekh“, zu deutsch: „Feiertagsausgaben“, letzteres ein unregelmäßiges Periodikum, das seine sozialreformerischen Absichten als jüdisches Kompendium für die Feiertage tarnte.
Nach der Jahrhundertwende widmete sich Peretz chassidischen Geschichten wie „A Gilgul fun a Nigun“, zu deutsch: „Seelenwanderung einer Melodie“, „Tsvishen tszey Berg“, zu deutsch: „Zwischen zwei Bergen“ oder „Oyb nit nokh hekher“, zu deutsch: „Wenn nicht noch höher“. Damit schuf er neoromantische und pseudo-chassidische Erzählungen, die großen Einfluss auf spätere Schriftsteller wie Samuel Josef Agnon und Martin Buber haben sollte. Und anders als manch anderer jüdische Schriftsteller seiner Zeit, zeichnete Peretz kein lächerliches oder abwertendes Bild des Chassidismus, sondern versuchte diese Strömung in Einklang mit der Moderne zu bringen.
Auch in einem weiteren Punkt unterschied sich Peretz von anderen Autoren, die Jiddisch als Literatursprache voranbrachten, wie Sholem Yankev Abramovitsh, besser bekannt als Mendele Moykher-Sforim, und Sholem Aleichem, mit denen er das sogenannte „Triumvirat der klassischen jiddischen Meister“ bildete. Seine Bezugspunkte waren weniger die russische Literatur oder Sprache. Aufgewachsen in einer polnisch geprägten Umwelt, die unfreiwillig unter russischer Herrschaft stand und in der Juden nach der Ermordung von Zar Alexander II. immer wieder mit Pogromen konfrontiert wurden, orientierte sich Peretz mit seinen Konzepten einer jüdischen Renaissance vor allem an dem polnischen Bestreben nach nationaler Unabhängigkeit, das gleichfalls auf der Idee einer eigenständigen polnische Sprache und Kultur basierte. Es waren schließlich auch polnische Ethnographen, die Peretz dazu inspirierten, sich mit jiddischer Folklore zu beschäftigen, ihre Zeugnisse zu sammeln und ihre Integration in die zeitgenössische Kunst, Musik und Literatur zu propagieren.
Als Anhänger des aufkommenden jüdischen Arbeitersozialismus bediente sich Peretz in seinen Erzählungen, Artikeln und komischen Fabeln immer wieder der Satire, um religiöse Heuchelei anzuprangern. Doch wer lesen konnte, wusste, worum es ihm wirklich ging: die wirtschaftliche Ausbeutung und die Darstellung des Lebens von einfachen Menschen, die durch die Verhältnisse in Not geraten. So thematisierte er ebenfalls die Probleme jüdischer Frauen, deren Möglichkeiten einer freien Entfaltung durch gesellschaftliche Konventionen ausgebremst wurden. Entsprechend groß war die Resonanz auf seine Schriften. Unter Anhängern politischer Bewegungen wie dem „Bund“ waren Geschichten wie „Bontshe shvayg“ enorm populär. Sie schufen eine Art Gegenmythos zum still leidenden Heiligen und halfen so, ein Klassenbewusstsein zu schaffen. In dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ordnete Peretz dann sein Ideal der nationalen Einheit vorübergehend auch dem Ziel des Klassenkampfes unter. Das sollte ihm 1899 drei Monate Gefängnis wegen sozialistischer Agitation bescheren. Nur mit dem Zionismus konnte er sich nicht anfreunden, selbst nicht in der kulturzionistischen Variante eines Ahad Ha‘am, über dessen Idee eines geistigen Zentrums in Eretz Israel er sich nur lustig machen konnte und fragte, wie es überhaupt möglich sei, ein derart künstliches Zentrum so weit weg vom Leben des jüdischen Volkes zu etablieren, das nun einmal im östlichen Europa zuhause sei. Vor allem die Ablehnung des Jiddischen durch die Zionisten stieß ihm sauer auf.
Aber auch mit dem Jiddischen hatte Peretz manchmal so seine Probleme, obwohl er darin einen großen Teil seines Oeuvre schuf. Auf der Sprachkonferenz in Czernowitz im Jahr 1908 beispielsweise lehnte der mittlerweile berühmt gewordene Schriftsteller einen Antrag ab, der das Jiddische im Gegensatz zum Hebräischen zur „jüdischen Nationalsprache“ erklären sollte. Zwar lobte er die „Kreativität der jüdischen Massen, deren Sprache nun einmal das Jiddische ist“, warnte aber davor, dass ein entfremdetes Jiddisch selbst zu einem Mittel der Assimilation werden könnte, wenn es nicht auf traditionelle Quellen zurückgreift.
Zugleich sah Peretz im Konzept des Nationalstaates nun die Gefahr einer zwangsweisen Homogenisierung der Kultur und einer Einschränkung der Vielfalt von Ausdrucksformen. Seine Wahrnehmung schien rückblickend geradezu prophetisch: Denn die neuen Staaten, die infolge der Auflösung multiethnischer Imperien wie dem Habsburger Reich oder dem zaristischen Russland entstanden, versuchten auf mitunter brutale Weise genau diese Homogenisierung durchzusetzen – vor allem auf Kosten ihrer jüdischen Minderheiten.