Yom HaSikaron steht vor der Tür. Der Streit um die geplante Justizreform überschattet aber auch diesen Tag, an dem Israel seinen gefallenen Soldatinnen und Soldaten gedenkt. Während Vertreter von Regierung und Opposition eine Protestpause fordern, erklären Hinterbliebenenverbände, dass Politiker bei den Zeremonien unerwünscht seien.
Von Ralf Balke
Die Proteste die geplante Justizreform gehen bald schon in die 17. Woche. Jeden Samstagabend ziehen in ganz Israel Hunderttausende auf die Straßen, um ihrem Unmut über die von der Regierung geplante Entmachtung des Obersten Gerichtshofs Ausdruck zu verleihen. Die Demokratie werde großen Schaden dadurch erleiden, so die Befürchtung der Mehrheit der Israelis. Der Streit überschattet nun ebenfalls Yom HaSikaron, den nationalen Gedenktag für die gefallenen Soldatinnen und Soldaten sowie die Opfer von Terrorismus in Israel, der am Montagabend beginnt. Denn einerseits könnte es zu Demonstrationen und Unmutsbekundungen kommen, andererseits werden überall Forderungen laut, dass Politiker nicht wie üblich an den Zeremonien auf den Militärfriedhöfen teilnehmen sollen. Ihre Anwesenheit sei derzeit schlicht und ergreifend unerwünscht, heißt es von den Hinterbliebenenverbänden.
Nun hat sich auch Herzi Halevi, Generalstabschef der Armee, in die Debatte eingeschaltet. „Der Gedenktag stellt eine tiefe Verbindung zwischen jedem Einzelnen und der Nation her“, schrieb er in einem Beitrag in der Jerusalem Post, der am Sonntagmorgen erschien. „Gerade im Schatten der momentanen Spannungen sollten wir uns in diesem Jahr auf unsere ganz persönlichen Erinnerungen konzentrieren und daraus menschliche Kraft schöpfen. Der Gedenktag verpflichtet uns, zusammenzukommen und den Fokus auf die Dinge zu legen, die uns verbinden. Wir müssen Respekt vor den Friedhöfen haben und dafür sorgen, dass sie nicht zu Orten von Auseinandersetzungen werden.“
Damit griff Israels oberster Militär die Forderungen von Vertretern der Regierung und der Opposition auf. Denn am Freitag hatten sowohl Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant gemeinsam mit den beiden führenden Oppositionspolitikern Yair Lapid und Benny Gantz die Israelis dazu aufgerufen, an Yom HaSikaron die Proteste gegen die geplante Justizreform für einen Moment ruhen zu lassen. „Wir dürfen die Heiligkeit des Gedenktages nicht verletzen“, hieß es in ungewöhnlicher Einmütigkeit von Seiten der vier Politiker. „Es ist ein Tag, an dem Streitigkeiten zum Schweigen gebracht werden und wir dem Schmerz und der Erinnerung Raum geben.“ Ein ähnlich formulierter Aufruf zur Einheit und zur Zurückhaltung wurde ferner am selben Tag von den Bürgermeistern von Tel Aviv, Jerusalem sowie von mehr als 115 weiteren Kommunen veröffentlicht.
Auch die Organisation „Brothers in Arms“, eine Gruppe von Reservisten, die in der Vergangenheit aus Protest gegen die geplante Justizreform unter anderem zur Verweigerung des für Israelis obligatorischen Reservedienstes aufgefordert hatte und mit zu den Organisatoren der Massenproteste der vergangenen Wochen gehört, meldete sich zu Wort und betonte, dass dieser wichtige Gedenktag keinesfalls für politische Anliegen instrumentalisiert werden dürfe. „Am kommenden Yom HaSikaron werden wir nicht protestieren, weil unsere Herzen bei unseren Waffenbrüdern und -schwestern sind, die im Kampf gefallen waren“, hieß es dazu in den sozialen Medien. „Wir werden weinen und die Familien umarmen.“
Wen man aber auf keinen Fall umarmen möchte, ist Itamar Ben Gvir, Vorsitzender der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit und zugleich Minister für nationale Sicherheit. Die Ankündigung des höchst umstrittenen Mitglieds in Netanyahus Kabinett, bei einer Gedenkfeier in Beer Sheva am Dienstag als Redner aufzutreten, sorgt vielerorten bereits für Unmut – nicht zuletzt deshalb, weil Itamar Ben Gvir nie in der Armee gedient hatte. Denn schon als Jugendlicher war der Anhänger des rassistischen Rabbiners Meir Kahane durch radikale Aktionen aufgefallen, so dass die Armee ihn als potenzielles Risiko betrachte und nicht in ihren Reihen haben wollte. Zwar hat Itamar Ben Gvir erklärt, in seiner Rede keine sensiblen Themen zur Sprache bringen zu wollen, doch willkommen scheint er nicht. Und die Tatsache, dass er am Samstagabend verkündete, „Brothers in Arms“ dafür vor Gericht zu zerren und auf zehn Millionen Schekel Schadensersatz zu verklagen, weil diese ihn als „Drückeberger“ bezeichnet hatten, macht die Stimmung wohl kaum besser.
So erklärte Uri Tuval, dessen Vater im Yom-Kippur-Krieg von 1973 gefallen ist, gegenüber der Presse, dass er sich in der Vergangenheit nie darum gekümmert hätte, welchem politischen Lager ein Redner angehörte. Nun aber sei er schockiert über die Vorstellung, das jemand wie Itamar Ben Gvir an der Gedenkzeremonie teilnehmen werde. „Eine Person, die nie in der Armee gedient hatte und es vorzog, ein Rassist zu sein, der zudem mehrfach wegen seiner Verbrechen vor Gericht stand, kann für mich das Land nicht repräsentieren. Damit spuckt man mir in mein Gesicht.“ Andere haben bereits angekündigt, dass sie im Fall eines Auftritts des Ministers planen, während seiner Rede Lieder über Kameradschaft und Hoffnung anzustimmen. „Wir wollen nicht laut werden oder stören, wollen aber auch nicht zum Schweigen gebracht werden“, hieß es von anderen Teilnehmern der für Dienstag angesetzten Zeremonie. „Also werden wir singen und alle sind eingeladen, mit einzustimmen.“
Weil Itamar Ben Gvir nicht der einzige derzeit umstrittene Politiker ist, der an Gedenkzeremonien am Dienstag teilnehmen wird, sondern ebenfalls Auftritte von Justizminister Yariv Levin und Finanzminister Bezalel Smotrich geplant sind, wurden die Sicherheitsvorkehrungen für sie alle bereits deutlich erhöht. Denn in den vergangenen Wochen gab es immer wieder Proteste, sobald sie sich in der Öffentlichkeit hatten blicken lassen. Und damit ist nun auch an Yom HaSikaron zu rechnen. Genau deshalb hat May Golan, eine Likud-Abgeordnete, die ihre politische Laufbahn bei den Rechtsextremen von Otzma Yehudit begonnen hatte, sich selbst einmal als „stolze Rassistin“ bezeichnete, nie in der Armee gedient hatte und dieser Tage von Netanyahu als Generalkonsulin für die diplomatische Vertretung Israels ins Spiel gebracht wurde, ihre Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung bereits abgesagt. Offiziell muss sie ganz plötzlich auf Dienstreise in die Vereinigten Staaten, so die Erklärung. Aber dass ihre Anwesenheit auf einem Militärfriedhof ebenfalls Tumulte auslösen könnte wie bei Itamar Ben Gvir, dürfte auch ihr bewusst gewesen sein. Der Otzma Yehudit-Parlamentarier Zvika Fogel nahm ebenfalls seine angekündigte Teilnahme an einer Gedenkfeier zurück. Er begründete seinen Verzichtet auf einen Auftritt mit der Sorge um die trauernden Familien, deren Gefühle womöglich durch Demonstranten gegen ihn verletzt werden könnten.
Trotzdem werden überall bei Politikerauftritten spezielle Sicherheitskräfte bereitstehen, um Personen von den Friedhöfen zu entfernen, falls diese durch politische Kundgebungen oder Störungen auffallen – selbst wenn es sich bei ihnen um trauernde Familien handelt. Verkehrsministerin Miri Regev griff ebenfalls in die Diskussionen über mögliche Proteste zu Yom HaSikaron ein und sagte, dass das Recht auf Demonstrationen keinesfalls das Anrecht auf Anarchie beinhalte. Ihre Wortwahl diente kaum dazu, die Wogen zu glätten. Schließlich hatten in der Vergangenheit führende Vertreter der Koalition die Demonstranten, die gegen den Justizreform auf die Straße gegangen waren, immer wieder als Anarchisten diffamiert, darunter selbst auch die Angehörigen von Eliteeinheiten der Armee, die angekündigt hatten, im Falle einer Umsetzung der Pläne der Regierung, den Dienst zu verweigern. Eine Mutter, deren Sohn im Zweiten Libanonkrieg gefallen ist, hatte deshalb erklärt, dass angesichts der Äußerungen von Ministern wie Miri Regev, Regierungsvertreter den Gedenkfeiern besser fernbleiben sollten. „Wir brauchen keine Politiker“, betonte sie in der Jerusalem Post. „Allein Mitglieder der Familien sollten sprechen, das würde mir schon reichen.“
Offensichtlich ist sie nicht alleine. So spricht Eli Ben-Shem, Vorsitzender der Gedenkorganisation Yad Labanim, von vielen Tausenden von Angehörigen gefallener Soldaten, die den dezidierten Wunsch ausgesprochen hätten, dass Politiker in diesem Jahr nicht an Gedenkfeiern auf Soldatenfriedhöfen teilnehmen oder dort sprechen sollten – ein absolutes Novum in der Geschichte des Gedenktages. Zugleich warnte er davor, dass es auf den Soldatenfriedhöfen zu verbalen und sogar physischen Auseinandersetzungen kommen könnte, wenn Minister und Abgeordnete der Regierung – insbesondere solche, die nicht in der Armee gedient hatten und für das Gesetz seien, das ultraorthodoxen Jeschiwa-Studenten eine pauschale Befreiung vom Wehrdienst in einem jüngeren Alter als bisher gewähren würde – an diesen sensiblen Orten auftreten wollten. Das käme „dem Anzünden eines Feuers auf einem Friedhof“ gleich.
Und die Kontroversen gehen weiter. Denn auf Yom HaSikaron folgt unmittelbar danach Yom Ha’Atzmaut, der israelische Unabhängigkeitstag. Zudem ist dieses Jahr der 75. Geburtstag des jüdischen Staates. Doch Partylaune will sich angesichts der gravierenden politischen und gesellschaftlichen Zerwürfnisse, die die geplante Justizreform mit sich gebracht hatte, bei vielen partout nicht einstellen. Zudem sind bereits große Demonstrationen für den Tag angekündigt. Und diesmal zeigen Regierungs- und Oppositionspolitiker keine Einigkeit, wenn es um Zurückhaltung geht. So hat Yair Lapid angekündigt, dass er bei der traditionellen Fackelzeremonie, die Yom HaSikaron beendet und den Beginn des Unabhängigkeitstages markiert, nicht mit dabei sein wird und diese boykottiere wird. Der Grund: Die für den Event dieses Jahr verantwortliche Miri Regev hatte im Vorfeld bekannt gegeben, dass man im Falle von Prosteten die Live-Übertragung stoppen und stattdessen auf Bilder von den Proben zurückgreifen werde. „Mein Platz wird leer sein“, twitterte deshalb der Yesh Atid-Vorsitzende. „Ich liebe den Staat Israel aus tiefstem Herzen, aber in drei Monaten haben Sie die israelische Gesellschaft gespalten, und kein gefälschtes Feuerwerk kann das vertuschen. Wenn Ihnen die Einheit des Volkes so wichtig gewesen wäre, hätten Sie unsere Demokratie nicht demontiert und sich stattdessen für die israelischen Bürger eingesetzt.“ Die Feiertage bringen Israel also keine Entspannung oder Atempause in dem Streit um die Justizreform – ganz im Gegenteil. Die Pläne der Regierung und das erratische Verhalten ihrer Minister werden in den kommenden Wochen noch mehr Israelis auf die Straßen bringen.
Bild oben: Gedenkkerzen für die Gefallenen auf der Großdemonstration in Tel Aviv am 22.4.23, Foto: Arnon Hershkovitz