Seit Wochen gehen in Israel Hunderttausende auf die Straßen, um gegen die geplante Justizreform der Regierung zu demonstrieren. Nun mehren sich auch die Stimmen aus der Wirtschaft, die die Demokratie in Gefahr sehen. Und es bleibt nicht nur bei Appellen und verbalen Protesten.
Von Ralf Balke
Die Worte hätten drastischer kaum ausfallen können. „Sobald die Gesetzgebung durch ist, gibt es in Israel keine Zukunft mehr für die Hightech-Industrie“, schrieb Erez Shachar vor wenigen Tagen. „Daher ist es ist unsere Pflicht gegenüber uns selbst, unseren Mitarbeitern, unseren Aktionären sowie unseren Familien und unserem Land, genau das nicht zuzulassen“, so der Top-Manager von Quzmra Capital, einem Venture Capital-Geber, in einem Brandbrief an andere Führungskräfte der Branche, in dem er zur Teilnahme an den Protesten gegen die geplante Justizreform aufrief. Zugleich sollten Unternehmen ihren Mitarbeitern erlauben, auch während der Arbeitszeit an den zahlreichen Demonstrationen teilzunehmen. Und dass es sich dabei nicht um den Appell eines einzelnen Geschäftsmannes mit vielleicht etwas exotisch anmutenden politischen Einstellungen handelte, beweist die Tatsache, dass sein Schreiben in der renommierten Wirtschaftszeitung „Globes“ veröffentlicht wurde. Denn in vielen Führungsetagen zahlreicher Startups und etablierter Firmen denkt man so ähnlich. Natural Intelligence, AppsFlyer, Hello Heart, Trigo, Skai, Airwayz Drones, INX, Algosec, Sorbet und Dutzende anderer Software- und Biotech-Unternehmen, die Liste der Hightech-Unternehmen, die sich den Protesten anschließen und ihren Mitarbeitern einen Streik erlauben, wird täglich länger.
So hieß es aus der Geschäftsleitung von Skai, einem Anbieter von KI-gesteuerten Plattformen für Marketingstrategien, folgendermaßen: „Wir respektieren jede Meinung eines jeden Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Daher sind wir auch so wütend und besorgt über die Art und Weise der Veränderungen, die im Staat Israel gerade stattfinden. Wir sind besorgt über die sich daraus ergebenden Folgen für die Gesellschaft und das Unternehmen, und deshalb erlauben wir jedem, der sich an den Protestaktionen beteiligen möchte, dies auf Kosten der Arbeitstage zu tun.“ Doch es geschieht noch mehr. Sollten die Pläne der Regierung, die auf eine Schwächung des Obersten Gerichtshofes und deutlich mehr Einfluss der Politik auf die Judikative abzielen, Realität werden, werde sich wohl manche israelischen Firmen aus dem Land verabschieden. Jedenfalls wird Skai, ehemals Kenshoo, in diesem Fall alle seine Gelder aus Israel abziehen – abgesehen von dem, was zur Begleichung von ausstehender Zahlungen an das Finanzamt erforderlich ist, das jedenfalls berichtete der TV-Kanal Arutz 12 und zitierte aus einer Firmen-internen Mail, die Skai-Geschäftsführer Yoav Izhar-Prato an die Mitarbeiter verschickt hatte.
Das Unternehmen selbst ist alles andere als ein Leichtgewicht. Es beschäftigt rund 600 Mitarbeiter, davon 300 in Israel. Zu seinen Kunden zählen unter anderem Google, Amazon, Meta, Walmart, TikTok und Microsoft. Laut israelischen Medienberichten soll Skai rund eine Milliarde Dollar wert sein. Es ist übrigen nicht das einzige Unternehmen, dass dieser Tage mit einer solchen Meldung aufwartet. Weiteren Berichten zufolge beabsichtigt ebenfalls Wiz, ein Anbieter von Cybersecurity-Lösungen, sein Geld aufgrund der Pläne der Regierung aus Israel auf ausländische Bankkonten zu verlagern. Wiz will nur so viel im Land lassen, was notwendig ist, um die Gehälter seiner Mitarbeiter vor Ort auszahlen zu können. Wiz selbst wird auf einen Wert von sechs Milliarden Dollar taxiert und gilt als eines der erfolgreichsten israelischen High-Tech-Unternehmen der vergangenen Jahre.
Bereits Ende Januar hatte Eynat Guez ebenfalls für Schlagzeilen gesorgt. Die Chefin und Mitgründerin von Papaya Global, einem in Tel Aviv ansässigen Startup, das Gehaltsabrechnungssysteme entwickelt hat, erklärte als erste wichtige Hightech-Unternehmerin, das Feld räumen zu wollen. Auf Twitter verkündete sie, dass man bei Papaya nach der Ankündigung der Pläne von Premierminister Benjamin Netanyahu beschlossen habe, „alle Gelder des Unternehmens aus Israel abzuziehen“. Auch Eynat Guez sieht die Demokratie durch die Justizreform gefährdet. Und diese Entwicklung würde ihrer Meinung nach ebenfalls der Wirtschaft schaden, daher der Entschluss. „Es gibt keine Sicherheit mehr, ob wir dann in Zukunft noch von Israel aus internationale wirtschaftliche Aktivitäten durchführen können“, schrieb sie. „Dies ist auch für uns ein schmerzhafter, aber notwendiger geschäftlicher Schritt.“ Papaya ist gleichfalls keine Hinterhof-Klitsche. Das 2016 gegründete Unternehmen beschäftigt weltweit mehr als 700 Mitarbeiter, ist in 140 Ländern aktiv und verwaltet Gehaltsabrechnungen in einem Volumen von drei Milliarden Dollar.
Als Reaktion auf die Ankündigungen von Eynat Guez und anderen Firmenchefs beschuldigte Oppositionsführer Yair Lapid die Regierung von Benjamin Netanyahu, Israel mit seiner Politik eine „wirtschaftliche Katastrophe“ zu bescheren. Finanzminister Bezalel Smotrich erklärte daraufhin, dass es eine solche garantiert nicht geben werde, „da die israelische Wirtschaft stark und profitabel ist und die Investoren klug sind“. Das mag zwar für den Moment halbwegs stimmen. Doch sollte Smotrich etwas hellhöriger werden. Denn gerade die für Israel enorm wichtige Hightech-Branche ist flexibel. Es sind Dienstleistungen und Software-Lösungen, die entwickelt und angeboten werden, weshalb es keinerlei größeren Aufwand für die Verlagerungen von Produktionsstätten bedarf, um anderswo sofort weitermachen zu können. Außerdem ziehen gerade dunkle Wolken auf. So musste bereits im vergangenen Jahr Israels erfolgsverwöhnte Hightech-Branche ein sattes Minus an Investitionen hinnehmen, und zwar um 43 Prozent. Rund 6.000 Personen in diesem Wirtschaftszweig verloren 2022 ihren Arbeitsplatz. Zugleich stieg die Zahl der Software-Entwickler und Data-Analysten, die auf Jobsuche sind, sprunghaft an: von 2.600 im Oktober auf 3.100 im Dezember. Und der für dieses Jahr geplante Personalabbau bei den Giganten wie Google, Microsoft, Amazon und Meta dürfte auch in Israel Spuren hinterlassen. 2023 könnte für die Hightech-Unternehmen in Israel sowieso ein schwieriges Jahr werden, und das auch ohne die geplanten Reformvorhaben.
Mit ihnen dürfte sich das alles nur weiter verschärfen. „Netanyahus Justizputsch könnte seine Start-up-Nation zerstören“, lautete denn auch die Einschätzung von Thomas L. Friedman in der „New York Times“. „Jeder Investor, ob aus dem Ausland oder dem Inland, sollte sich darüber Sorgen machen, dass Netanyahu die Rechtsextremisten in seinem Kabinett eine juristische Intifada in Israel und eine palästinensische Intifada im Westjordanland entfachen lässt – und zwar zur gleichen Zeit“, schreibt er weiter. „Und sie tun dies in einer hypervernetzten Welt, in der amerikanische und europäische Investoren ohnehin ein starkes Interesse daran haben, ihre ESG-Ratings, die langfristige Umwelt-, Sozial- und Governance-Risiken messen, sorgfältig zu überwachen.“ Die Beispiele häufen sich. So erklärte Disruptive AI, ein israelischer Risikokapitalfonds mit Firmensitz in Herzeliya, der Geld in Startups im Frühstadium investiert, dass ausländische Investoren über die Entwicklung zunehmend besorgt seien. Sie würden immer öfter verlangen, dass ihr Kapital auf Bankkonten außerhalb Israels angelegt wird. Und Tal Barnoach, General Partner bei Disruptive AI, sagte gegenüber der Wirtschaftszeitung „Calcalist“, dass das Vorhaben der Regierung einem „juristischem Putsch“ gleiche und aus seiner Sicht definitiv zu mehr wirtschaftlicher Instabilität führen werde.
Einer der führenden Venture Capital-Geber in Israel, TLV Partners, hat sich ebenfalls an die Öffentlichkeit gewendet. „Das israelische Hightech-Ökosystem basiert auf der Meinungsfreiheit und der Unterstützung von innovativem und kreativem Denken. Es kann nur dort gedeihen, wo die Menschen Rechte und Freiheiten haben – denn was sonst ist die Hightech-Industrie, wenn nicht ein Mosaik aus all den Menschen, die in ihr arbeiten“, heißt es in dem Schreiben, das von allen vier Top-Managern, Rona Segev, Shahar Tzafrir, Adi Yarel Toledano und Eitan Bek, unterzeichnet wurde. „Das sind die Werte, die die derzeitige Regierung mit Füßen tritt. Die aktuellen Schritte, die unternommen wurden, um das Justizsystem zu lähmen und das Gleichgewicht in der Gewaltenteilung rücksichtslos zu stören, schaden der Demokratie nachhaltig.“
„Die Investoren treten einen Schritt zurück und sagen: >Entscheiden Sie zuerst, ob Sie eine Demokratie oder eine Diktatur sein wollen – dann werden wir weiter reden<“, betont auch Leo Bakman. „Sehen Sie, ich arbeite seit vielen Jahren mit den Ministerien zusammen“, so der Präsident des Israel Institute for Innovation, einer Non-Profit-Organisation, die bereits 2.500 Startups mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte, im Gespräch mit „Haaretz“. „Wir sind immer unpolitisch gewesen. Wenn ich nun der Meinung wäre, dass diese Justizreform wie ein Schuss in den eigenen Fuß wäre, hätte ich es mir wahrscheinlich zweimal überlegt, ob ich mich zu Wort melde. Aber ich glaube, dass wir uns gerade selbst in den Kopf schießen“. Uri Levin, der Vorstandsvorsitzende der Israel Discount Bank, einer der größten Banken des Landes, hatte Finanzminister Smotrich bereits gewarnt: „Wir sehen aktuell eine Verzehnfachung des Interesses an der Eröffnung von Sparkonten bei ausländischen Banken. Der Schekel wird schwächer, der Risikofaktor für Israel steigt, und unsere Börse schneidet schlechter ab als anderswo in der Welt. Der Markt basiert auf Vertrauen, und wenn wir das jetzt nicht stoppen, könnten wir in eine tiefe Krise geraten.“ Amir Yaron, der Direktor von Israels Zentralbank sagte bereits Ähnliches und warnte davor, dass die Politik der Regierung nicht nur Investoren abschrecke, sondern ebenfalls einen negativen Einfluss auf die Kreditwürdigkeit Israels haben wird. Ob all die Warnungen Gehör finden werden, wird die Zukunft zeigen. Eines jedenfalls scheint jetzt schon sicher. Man braucht keine BDS-Bewegung mehr, um Israel wirtschaftlich zu schaden. Diesen Job erledigen Benjamin Netanyahu und seine Kabinettskollegen mit ihrer geplanten Justizreform gerade selbst.
Bild oben: „Protest der Hightechisten“, Demo-Flyer der Hightech-Branche