Kahanes später Sieg?

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Foto: Guy Butavia

In den Meinungsumfragen zu den Wahlen in Israel am 1. November erlebt die Liste der Religiösen Zionisten derzeit einen Höhenflug. Sollte das Parteienbündnis wirklich dritt- oder viertstärkste Kraft werden, könnten Extremisten wie Itamar Ben Gvir in der nächsten Regierung sitzen – oder zum Scheitern von Benjamin Netanyahu beitragen.

Von Ralf Balke

Kürzlich gab es im israelischen Fernsehen ein kleines Highlight. Denn die populäre Satiresendung „Eretz Nehederet“, zu Deutsch: „Ein wunderbares Land“, zeigte einen Sketch, der es in sich hatte. So tanzte und sang ein Double des rechtsextremen Politikers Itamar Ben Gvir zu der Melodie von „Springtime for Hitler“ aus dem Mel Brooks-Klassiker „The Producers“. Zur Erinnerung: Die Komödie aus dem Jahr 1967 war sein erster Film und erzählte die Geschichte eines Gaunerpaares, das ein grottenschlechtes Musical inszeniert, das gezielt floppen sollte, um Verluste einzufahren. Auf diese Weise wollten beide die Gelder, die sie reichen Witwen als Investitionen für das Musical abgeluchst hatten, in die eigene Tasche umleiten. Doch ihr Plan geht nicht auf und „Springtime for Hitler“ wird überraschend ein Riesenerfolg. Und damit wird auch die pikante Analogie deutlich, die die Macher von „Eretz Nehederet“ auf dem Radar hatten – schließlich war es niemand Geringeres als Benjamin Netanyahu, der dafür gesorgt hatte, dass eine Person wie Itamar Ben Gvir, der offen rassistisch auftritt und sich in den Fußstapfen des verstorbenen und Terror gegen Andersdenkende predigenden Rabbiners Meir Kahane sieht, nach den Wahlen am 1. November ein Ministeramt winken könnte.

Und auch sein Plan könnte gründlich daneben gehen, weil Itamar Ben Gvir plötzlich ein Riesenerfolg wird. So wollte der Ex-Ministerpräsident, der jetzt gegen den Amtsinhaber Yair Lapid antritt, schon 2019, dass auf keinen Fall eine Stimme im rechten Lager verloren geht. Also überredete er die ebenfalls nicht ganz unproblematischen Protagonisten aus dem Lager der Religiösen Zionisten, allen voran Bezalel Smotrich, bei den letzten Wahlen im März 2021 eine Listenverbindung mit den Kahanisten der Mini-Partei Otzma Yehudit und der LGBT-feindlichen Splittergruppe Noam einzugehen, weil diese im Alleingang die 3,25 Prozent-Hürde und damit den Einzug in die Knesset verfehlt hätten. Doch das auf diese Weise Hoffähig-Machen der Extremisten könnte auch für Netanyahu – so wie für das Gaunerpaar in „The Producers“ – zum Problem werden.

Denn die Geister, die er somit rief, haben es in sich. So ist in dem „Eretz Nehederet“-Sketch ein sichtlich niedergeschlagener Netanyahu sehen, der rhetorisch fragt: „Wer wird mir die Stimmen bringen und mich vor dem Gesetz retten“, was sich wiederum auf die laufenden Strafverfahren gegen den Ex-Ministerpräsidenten bezieht. Daraufhin tritt ein Schauspieler auf, der Itamar Ben Gvir verkörpert und die Rolle Hitlers aus dem Original-Musical übernimmt, begleitet von Tänzern, die allesamt gehäkelte Kippot tragen, Erkennungsmerkmal der religiösen Siedlerbewegung, sowie T-Shirts mit den Logos extremistischer Organisationen wie Kach, Lehava und La Familia, und trällert: „Es ist Zeit für Ben Gvir… es ist Zeit für Otzma Yehudit“ und „Kahane für die ganze Familie“.

Dann singt das Otzma-Yehudit-Boss-Double davon, was alles auf dem Plan steht, wenn er und seine Gefolgsleute mit an den Schalthebel der Macht sitzen. „Wir werden die Araber und die Linken rauswerfen, wir werden die Al-Aqsa-Moschee in einen Parkplatz verwandeln, wir werden die Schwulen wieder zurück in den Schrank schicken.“ Die Tänzer mimen dabei einen Zug nach und singen davon, „die Richter in die Waggons“ zu setzen – ein weiteres Bild, das an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern soll. „Ich habe mich beruhigt, meine Freunde, es ist kein Irrtum – oder ihr habt euch nur ein wenig dem Rassismus geöffnet“, schmettert der Itamar Ben Gvir-Imitator jovial, bevor er dann Netanyahu all die Ministerämter aufzählt, die er gerne hätte.

Dabei bleibt einem das Lachen schnell im Halse stecken. Die Tatsache, dass in den aktuellen Meinungsumfragen die Religiösen Zionisten mal als drittstärkste, mal als viertstärkste Kraft gehandelt werden, deren Potenzial auf zwischen elf und vierzehn Sitze in der Knesset geschätzt wird, zeigt, wie weitverbreitet und akzeptiert ihre Ideologie ist. Und anders als noch vor einem oder zwei Jahren käme Otzma Yehudit auch im Alleingang locker auf sieben oder acht Parlamentarier – die Listen-interne Konkurrenz rund um Smotrich dagegen nur auf vier oder fünf. Das belegen Prognosen vom Ende August, als beide Partei noch separat in den Meinungsumfragen geführt wurden. Aber nicht nur im nationalreligiösen Lager könnte Itamar Ben Gvir weiter abräumen. Auch bei den ganz jungen Wählern der beiden ultraorthodoxen Parteien, dem Vereinigten Torah-Judentum und Shass, gewinnt er Anhänger. Anders ausgedrückt heißt das: Für überraschend viele Israelis sind Itamar Ben Gvir & Co. nicht mehr die durchgeknallten Radikalen, die es aufgrund ihrer rassistischen und demokratiefeindlichen Ideen zu ächten gilt. Und auch Netanyahu steht dann vor einem Problem. Sollte er allen Ernstes eine Koalition mit ihnen eingehen, lassen sich angesichts solcher Prognosen die Religiösen Zionisten nicht mehr mit ein paar unwichtigen Posten abspeisen. Im Endeffekt könnte ihr Erfolg sein Projekt einer rechten Regierung sogar gefährden, weil selbst im nationalistischen Lager nicht jeder zusammen mit einem Itamar Ben Gvir auf der politischen Bühne gesehen werden möchte.

Der „Eretz Nehederet“-Sketch ist aber noch mehr als nur eine gelungene Politsatire und ein Fingerzeig auf die Gefährlichkeit von Personen wie Itamar Ben Gvir. Denn bis dato kam der Extremist in den israelischen Medien vergleichsweise gut weg, wurde quasi mit Samthandschuhen angefasst oder einfach nur als eine Art Polit-Clown belächelt. So war er vor knapp einem Monat von dem renommierten Blich-Gymnasium in Ramat Gan eingeladen worden, vor den Schülern seine Ideen zu präsentieren. Hila Romesh, die Schulleiterin, verteidigte dies mit dem Verweis darauf, dass man bereits andere kontroverse Politiker hätte auftreten lassen, beispielsweise Ayman Odeh von der Vereinten Arabischen List. Zwar gab es vereinzelte Proteste von linken Aktivisten, darunter Gilad Kariv, Abgeordneter der Arbeitspartei. Diese wurden im Gegenzug von einigen Schülern, offenbar Anhängern von Itamar Ben Gvir, mit Rufen wie „Möge euer Dorf brennen“ begrüßt – ein Slogan, der immer wieder auf rechtsextremen Veranstaltungen zu hören war und sich darauf bezieht, dass Personen aus den Umfeld des Otzma-Yehudit-Frontmanns in verschiedene Terrorakte, vor allem Brandstiftung arabischer Häuser, verwickelt waren. Die Stimmung war also aufgeheizt, was Itamar Ben Gvir aber kaum gestört haben dürfte. Er prahlte anschließend damit, mitten in das Herz der Linken vorgestoßen zu sein. Und auch bei den Abstimmungen unter den Schülern, die traditionell danach stattfinden, kamen die Religiösen Zionisten auf ein doppelt so hohes Ergebnis wie die Linkszionisten von Meretz.

Hinzu hatte sich Itamar Ben Gvir in den vergangenen Monaten ein bewusst „moderateres“ Auftreten verordnet, um andere politisch rechts stehende Israelis mit seinen extremistischen Überzeugungen entweder nicht gleich in die Flucht zu schlagen oder aber sich selbst als Alternative zu anderen nationalistischen Parteien zu präsentieren. Zugleich wollte man so einem möglichen Verbot vorbeugen. Denn die „Aufstachelung zum Rassismus“ ist eine von drei Optionen, die der Gesetzgeber parat hält, um Kandidaten von einer Wahl auszuschließen – schließlich ist die Partei von Itamar Ben Gvirs großem Vorbild Meir Kahane genau deshalb 1988 nicht mehr zu den Wahlen zur Knesset zugelassen worden. Ein hochrangiges Mitglied von Otzma Yehudit gab dieser Tage dies alles zu, bezeichnete die neue Zurückhaltung in der Öffentlichkeit als einen „Trick“, um damit eine breitere Basis zu gewinnen und einem Verbot zu entgehen.

Itamar Ben Gvir könnte vor allem unter den jüngeren Haredim, die ihre Stimme normalerweise einer der beiden ultraorthodoxen Parteien, dem Vereinigten Torah-Judentum und Shass, geben, kräftig abräumen. „Unter den aschkenasischen Wählern des Vereinigten Torah-Judentums gibt es rechte Gruppen, die es als schwierig sehen, sich in der Partei Gehör zu verschaffen“, erklärte kürzlich Yaakov Rivlin, ein Journalist von „BeKehila“, einer Wochenzeitung der Ultraorthodoxen. „Dort beobachten wir ein Abwandern von Wählern hin zu Itamar Ben-Gvir, der sich genau das zunutze macht.“ Anders sähe die Situation bei den Sepharden aus. „Shass ist es trotz ihrer früheren Abenteuer mit den Linken in den letzten Jahren gelungen, aus der Perspektive ihrer Wähler sich ausreichend fest rechts zu positionieren.“ Sowohl die Führung von der Partei Vereinigtes Torah-Judentum als auch die von Shass haben aber die Gefahr erkannt, greifen Itamar Ben Gvir aber nicht aufgrund seiner hochproblematischen politischen Aussagen an, sondern wegen seines Auftretens und Stils. So kritisierte der sephardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef dessen Auftritt auf dem Tempelberg vor wenigen Monaten mit den Worten, weil aus ultraorthodoxer Sicht dieses Areal nicht betreten werden darf. „Was für eine Blasphemie, sich gegen all die wahren, großen Männer Israels zu stellen. Denk darüber nach, du Narr.“

Selbst wenn Netanyahu alle Skeptiker in den eigenen Reihen beruhigen könnte, denen eine Zusammenarbeit mit den Religiösen Zionisten um so mehr Bauchschmerzen bereit, je erfolgreicher sie werden, sind da noch die nicht ganz unwichtige Stimmen aus dem Ausland, allen voran den Vereinigten Staaten. Bereits 2019 rumorte es beim American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) angesichts der Bestrebungen des damaligen Ministerpräsidenten, selbst extremistische Mini-Parteien zusammenzubringen, damit sie ihn unterstützen. Diese wohl wichtigste amerikanische Lobby-Organisation, eigentlich äußerst Netanyahu-affin, wird wohl erst recht gegen eine Zusammenarbeit opponieren, wenn der Likud-Chef mit einem Bündnispartner wie den Religiösen Zionisten aufwartet, der plötzlich so stark geworden ist und nach Schlüsselressorts in der Regierung greift. Das American Jewish Committee wird ebenfalls nicht still zuschauen, sollte das der Fall sein. Auch aus dem wichtigen Senatskomitee für ausländische Beziehungen gab es bereits kritische Töne. „Netanyahu solle sich darüber im Klaren sein, dass die Zusammensetzung einer solchen Koalition die parteiübergreifende Unterstützung in Washington, die eine Säule der bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Israel ist, ernsthaft untergraben könnte“, hieß es. Die Reaktionen des Ex-Ministerpräsidenten sind ebenfalls bekannt. Er soll „angepisst“ gewesen sein.

Bild oben: Itamar Ben Gvir, Foto: Guy Butavia, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported