Warum der Union Jack über Jerusalem wehte

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Vor 100 Jahren erhielt Großbritannien vom Völkerbund das Mandat über Palästina. Erobert hatte man die Region zwar bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Doch offiziell wurde die britische Herrschaft erst 1922. Und sie brachte London kein Glück.

Von Ralf Balke

Höhepunkt der Macht sowie Anfang vom Ende des Empires – genau diese Zeitspanne ist eng mit einem kleinen Landstrich verbunden, der zwischen Jordan und Mittelmeer liegt. Denn als Großbritannien 1922 offiziell vom Völkerbund das Mandat über Palästina erhielt, erreichte das  britische Weltreich seine größte Ausdehnung. Eine Insel, kleiner als der US-Bundesstaat Kansas, beherrschte ungefähr ein Viertel der Bevölkerung und der Fläche dieser Welt. Und mit Palästina hatte man so etwas wie das letzte Puzzleteil unter seine Kontrolle bekommen, das noch fehlte, um die Verbindungswege zwischen Großbritannien und Indien zu sichern. Genau deshalb war bereits 1800 Malta erobert worden, später auch Aden. Und man sicherte sich die Mehrheit des Unternehmens, das den 1869 eröffneten Suez-Kanal betrieb, was dazu führte, dass Ägypten zwar formell weiterhin unabhängig blieb, letztendlich aber London ebenfalls das Sagen hatte.

Nun also auch Palästina – schließlich sollte der Erste Weltkrieg zeigen, dass der Suez-Kanal als Nadelöhr auf dem Weg nach Kalkutta, Bombay oder Neu Delhi schnell in Gefahr geraten kann, wenn man nicht das gesamte daran angrenzende Land ebenfalls unter seine Kontrolle bekommt, und das waren nun einmal die Sinai-Halbinsel und Palästina. Mehrfach hatten von dort aus deutsche und osmanische Truppen versucht, Richtung Ägypten vorzustoßen und nur mit sehr viel Mühe war es den Briten gelungen, den Ansturm auf die wichtige Verbindung zwischen Mittelmeer und Roten Meer abzuwehren. Dann war man zum Gegenangriff übergegangen und im Dezember 1917 wehte schließlich der Union Jack über Jerusalem. Aber allein die Tatsache, dass die Truppen des Empires fast ein weiteres Jahr gebraucht hatten, um das Gebiet nördlich der Heiligen Stadt zu erobern, belegt, dass dieser Feldzug alles andere als ein Spaziergang war.

Links: General Allenby betritt die Altstadt von Jerusalem zu Fuß, 11. Dezember 1918, Foto: Frank and Frances Carpenter Collection, Library of Congress / Rechts: Der Bürgermeister von Jerusalem Hussein Salim Al-Husseini (in der Mitte mit Stock) empfängt die britischen Truppen unter weißer Flagge, Foto: Lewis Larsson – Library of Congress

Doch die britische Herrschaft über Palästina sah anders aus als beispielsweise in Indien oder dem heutigen Nigeria. Losgelöst vom Charakter des Völkerbundmandats kann ihr Wesen deshalb kaum verstanden werden: Denn dieses neue System der Kontrolle erlaubte es den Siegermächten des Ersten Weltkriegs auf Territorien, die sich vormals im Besitz ihrer Kriegsgegner befanden, eine Form der Aufsicht und Vormundschaft auszuüben, was dann auch die Bezeichnung „Mandat“ erklärt. Obwohl die Mandatare lediglich administrativen Ratschlag und Hilfestellung bis zu dem Zeitpunkt geben sollten, an dem die hier lebenden „Nationen“ ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen konnten, war das Mandatssystem faktisch eine neue Form kolonialer Herrschaft. Und es betraf nicht nur Palästina, sondern ebenfalls den heutigen Irak, Syrien und den Libanon sowie die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik. Je nach Entwicklungsstand dieser Territorien, ihrer geographischen Lage und den Optionen, aus ihnen lebensfähige Staaten zu schaffen, sprach man von A-, B- oder C-Mandaten. Palästina fiel genau wie der Irak, Syrien und der Libanon unter die Kategorie A. Das erklärte Ziel bestand also in der Vorbereitung jener unter Mandatsautorität stehenden Gebiete hin zu einer eventuellen, zeitlich jedoch nicht festgelegten Selbstverwaltung.

Im Falle Palästinas wurde das in der Balfour-Erklärung von 1917 seitens Großbritannien an die zionistische Bewegung gegebene Versprechen bezüglich der Förderung der Errichtung einer nationalen jüdischen Heimstätte in das Mandat inkorporiert. Des weiteren fixierte es den Schutz und die Förderung aller nichtjüdischen Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen in Palästina, also der christlichen und muslimischen Araber sowie der Drusen, Armenier oder Beduinen. Offiziell gab der Völkerbund im Juli 1922 sein Okay zu der britischen Herrschaft über das Land. Der Vertrag von Lausanne im September 1923 bestätigte das Ganze noch einmal. Und obwohl das Mandat offiziell erst zum 29. September 1923 in Kraft getreten war, hatte die erste britische Ziviladministration mit Sir Herbert Samuel an der Spitze die Grundlinien britischer Palästina-Politik de facto bereits seit Juli 1920 vor Ort mit ausformuliert und umgesetzt. Aber nicht nur das. Noch vor Inkrafttreten des Völkerbundmandats für Palästina sollte London vier Fünftel des Mandatsgebiets abzweigen und daraus das Emirat Transjordanien geschaffen. Für dieses Gebiet konnten die Versprechen, die Großbritannien der zionistischen Bewegung gegeben hatte, also nicht gelten. Konkret hieß dies: Jeder Form einer jüdischen Besiedlung des Landes östlich des Jordans war somit ein Riegel vorgeschoben worden. Und 1923 wurden ebenfalls die Golan-Höhen vom britischen Mandatsgebiet abgetrennt und Frankreich überlassen.

Für die in Palästina lebende Bevölkerung brachte die britische Mandatsherrschaft viele Veränderungen mit sich. Zum einen gab es nun ein bis dato unbekanntes Maß an Rechtssicherheit. Zum anderen etablierte London neue Strukturen, die sowohl Juden als auch Arabern Möglichkeiten einer gewissen politischen Teilhabe boten. So forderte London die Schaffung einer Jewish Agency aus den Reihen der Zionisten, der die Aufgabe zugeteilt wurde, die Mandatsverwaltung in allen die Errichtung einer jüdischen nationalen Heimstätte betreffenden Fragen zu beraten und mit ihr zusammenzuarbeiten. Damals entstand eine ganze Palette jüdischer Organisationen und Parteien, die die Plattform zur späteren Staatsgründung bildeten, beispielsweise der Gewerkschaftsverband Histadrut sowie Konsumgenossenschaften und last but not least die Haganah als Nukleus der späteren israelischen Streitkräfte.

Anders dagegen die Situation in der arabischen Bevölkerung. Zwar fanden sich auch dort Personen, die mit der britischen Administration kooperieren sollten, allen voran die Oberhäupter großer Familien wie der Naschaschibis oder einige Vertreter aus dem Clan der al-Husseinis. Doch schnell handelten sie sich diese Notablen den Ruf ein, Erfüllungsgehilfen der Briten zu sein. Und im Unterschied zum Yishuv, der vorstaatlichen jüdischen Bevölkerung in Palästina, verfügten die Araber über keinen vergleichsweisen Organisationsgrad. Die sogenannten Muslimisch-Christlichen Vereinigungen, die sich nach 1918 in den Städten als Gegenwicht zu den zionistischen Organisationen bildeten, hatten nur einen geringen Wirkungsgrad. Zudem neigten die Briten dazu, eher nichtnationale traditionelle und religiöse Institutionen zu fördern, beispielsweise durch die Schaffung des Postens eines Großmuftis von Jerusalem, der dann auch noch Anfang der 1920er Jahre von einem notorischen Antisemiten wie Mohammed Amin al-Husseini besetzt wurde – eine Entscheidung, die die man später bitter bereuen sollte.

Doch unabhängig davon leitete die britische Mandatsherrschaft einen enormen Modernisierungsschub ein. Man investierte beträchtliche Summen in den Ausbau der Infrastruktur: Tiberias, Safed, Haifa und Jerusalem erhielten moderne Krankenhäuser, die Kapazitäten des Hafens von Haifa und das Straßennetz wurden ausgebaut. Und Sir Ronald Storrs, erster Gouverneur von Jerusalem, verfügte ein Gesetz, dass in der Stadt Neubauten „ausschließlich mit dem lokalen Jerusalemer Stein“ errichtet werden dürfen – eine Regel, die bis heute gilt. All das in Kombination mit dem zionistischen Aufbauwerk sowie die Präsenz des britischen Militärs machten Palästina zu einem Land mit extrem hohen Investitions- und Wachstumsraten, das nicht nur für jüdische Zuwanderer interessant wurde, sondern ebenfalls für Arbeitssuchende aus der ganzen arabischen Welt, so dass die Bevölkerung zwischen 1922 und 1945 von rund 750.000 auf mehr als 1,7 Millionen wuchs.

Britische Soldaten durchsuchen Einwohner von Jaffa nach Waffen, Foto. G. Eric and Edith Matson Photograph Collection, Library of Congress

Dennoch sollte die Herrschaft über Palästina den Briten kein Glück bringen. Bereits 1920 war es zu Unruhen in Jerusalem gekommen, die laut dem Historiker Tom Segev „gewissermaßen der Startschuss für den Kampf um das Land Israel“ war. 1929 erschütterte eine weitere Welle der Gewalt das Land. Und von 1936 bis 1939 tobte dann der sogenannte Arabische Aufstand, der im Verhältnis zur Größe des Landes enorme militärische Ressourcen band, weshalb Großbritannien recht schnell Überlegungen anstellte, wie man Palästina wieder los werden könnte. Deshalb wurden schon 1937 von der Peel-Commission erste Teilungspläne vorgelegt. Die Zionisten stimmten ihnen zähneknirschend zu, die Araber lehnten sie ab. Kurzum, London merkte recht schnell, dass das Palästina zu einem Klotz am Bein zu werden drohte. „Dieses Land und alles, was mit ihm zusammenhängt, erfüllt mich mit solchem Abscheu und solchem Überdruss, dass ich es nur noch so schnell wie möglich verlassen möchte“, schrieb bereits 1929 John Chancellor, von 1928 bis 1931 britischer Hochkommissar für Palästina, in einem Brief an seinen Sohn. Was damals aus Frust ein einzelner hoher Verwaltungsbeamter auf den Punkt brachte, sollte einige Jahre später Konsens in der britischen Regierung werden. Manche Politiker sprachen von einem „zweiten Irland“, dass man sich mit dem Mandat eingehandelt hätte und Winston Churchill bezeichnete Palästina 1941 als einen „Mühlstein um unseren Hals“.

Kontrolle durch einen britischen Polizisten in Jerusalem, 1947, Foto: Hans Pinn, National Photo Collection of Israel

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eskalierte die Lage weiter. Denn nun stand auch die jüdische Bevölkerung der britischen Herrschaft immer ablehnender gegenüber. Vor allem die restriktive Politik Großbritanniens gegenüber dem Yishuv und die Weigerung, jüdische Flüchtlinge und Überlebende der Schoah ins Land zu lassen, stieß nicht nur auf Kritik, sondern wurde auch offen bekämpft. Selbst die Präsenz von über 100.000 Soldaten sollte nicht dafür sorgen, dass Großbritannien die Kontrolle behielt. Zunehmend gerieten britische Militärangehörige nicht nur in das Visier arabischer Nationalisten, auch von zionistischer Seite drohte ihnen nun vermehrt Ungemach. Die Tatsache, dass Großbritannien nach Kriegsende wirtschaftlich geschwächt war und bald auch Indien in die Unabhängigkeit entlassen musste, waren Motive, warum man unter allen Umständen das Mandat wieder loswerden wollte. „Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Mandatsherrschaft nicht weiter andauern kann“, verkündete Außenminister Ernest Bevin am 30. März 1947. Wenige Tage später wurden die Vereinten Nationen als Nachfolger des Völkerbunds gebeten, sich der Sache anzunehmen. Das Ergebnis ist bekannt: Am 27. November 1947 stimmte die UNO für eine Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Und am 14. Mai 1948 wurde der Union Jack ganz offiziell eingeholt, die  Mandatszeit hatte ihr Ende gefunden.

Bild oben: VE Day in Jerusalem, Matson Collection – Library of Congress