„Der Hungerpastor“ – Ein antisemitischer Roman von einem nicht-antisemitischen Verfasser?

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Neben Gustav Freytags „Soll und Haben“ gehört Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“ von 1864 zu den bekanntesten Roman mit antisemitischen Stereotypen. Angeblich soll aber Raabe gar keine judenfeindlichen Positionen vertreten haben. Um Bestsellerautor zu werden, baute er solche aber wohl in die Handlung seines Romans ein.

Von Armin Pfahl-Traughber

Alltäglicher Antisemitismus kann auch durch die schöne Literatur forciert werden, was zwei Bestseller aus dem 19. Jahrhundert anschaulich aufzeigen: Gustav Freytags „Soll und Haben“ von 1855 und Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“ von 1864. Beide Romane eint eine identische Struktur: Die Entwicklung der positiven Hauptfigur wird kontrastiert mit der einer negativen Hauptfigur. Erstere ist jeweils ein anständiger christlicher Mann, letztere ein bösartiger jüdischer Mann. Ihr schreiben die beiden Autoren persönliche Neigungen zu, welche den bekannten judenfeindlichen Stereotypen entsprachen. Nachdem Freytags „Soll und Haben“ hier schon Thema war (X), soll es fortan um Raabes „Hungerpastor“ gehen. Es handelt sich um einen Entwicklungsroman, worin ein Hans Unwirsch im Zentrum steht. Er stammt zwar aus einem armen Elternhaus, kann aber durch großen Fleiß ein Studium der Theologie erfolgreich absolvieren. Dann wird er Dorfpfarrer und daher als „Hungerpastor“ tituliert. All dies ereignet sich im Romantext zwischen 1819 und 1853.

Immer wieder gibt es Begegnungen mit einem Moses Freudenstein in dieser Lebensbeschreibung, womit man es mit dem „bösartigen Juden“ als Negativfigur zu tun hat. Der junge Hans bewahrte ihn als Kind noch davor, eben als Jude von anderen Kindern verprügelt zu werden. Hier erwähnt der Autor, dass es seinerzeit, gemeint ist die Mitte der 1820er Jahre, noch eine ausgeprägte Judenfeindschaft gegeben habe. Diese würde heute, also Anfang der 1860er Jahre, nicht mehr verbreitet sein. Außerdem findet Erwähnung, dass damals Juden ebenso wie das Vieh verzollt werden mussten. Damit hat man es aber bei Raabe mit den einzigen verständnisvollen Worten zu tun. Fortan gibt es einen deutlichen Bruch bei der Einstellung zu den Juden im Roman. Alle nur möglichen negativen Eigenschaften werden fortan Freudenstein wie seinem Vater zugeschrieben: Letzterer kümmert sich nicht um das Gebäude seines Trödelladens und treibt aus egoistischen und rachedürstigen Motiven seinen Sohn zu hohem schulischem Wissenskonsum an.

Dieser giert dann nach dem finanziellen Besitz der Familie, schreibt eine philosophische Doktorarbeit „Materie als Moment des Göttlichen“ oder belästigt christliche junge Frauen auf unritterliche Weise. Um der eigenen Karriere willen tritt er dann zum Katholizismus über und nennt sich fortan Doktor Theophile Stein. Um an noch mehr Geld zu kommen, nähert er sich einer aus wohlhabendem Hause stammenden Tochter. Als sie aber aufgrund ihrer Beziehung zu Freudenstein  bzw. Stein enterbt wird, lässt er die Ehefrau fallen und an körperlichen Misshandlungen sterben. Nimmt man diese Details in direkter Kombination miteinander wahr, so wirken sie wie eine Listung platter Stereotype. In einzelnen Details über die Romanhandlung verteilt, wirken sie aber als Suggestionen für antisemitische Zerrbilder eher unterschwellig. Die erste Buchausgabe des „Hungerpastor“ erschien 1864, 1937 war die 57. Auflage erreicht. Auf dem heutigen Buchmarkt greifbar sind Exemplare aus Kleinverlagen, aber auch ein Hörbuch ebenfalls aus einem Kleinunternehmen.

Ein Antisemitismus wird dabei abgestritten, könne doch nicht von einer Judenfeindschaft bei Raabe gesprochen werden. Für eine Erörterung der angesprochenen Frage ist dann seine Person wichtig. Auffällig sind einige biographische Details: So scheiterte er am Abitur wie an einer Buchhändlerlehre und lebte hauptsächlich von Einkünften als freier Schriftsteller. Um eben als Bestsellerautor erfolgreich zu sein, so heißt es in der Forschung, habe er antisemitische Botschaften in seinen Roman integriert. Denn ansonsten gibt es wohl tatsächliche keine Belege für eine Judenfeindschaft bei Raabe. Auch die anfänglichen Bekundungen über die Diskriminierung von Juden sprechen nicht für antisemitische Positionen. Gleichwohl muss deswegen der Roman kein judenfeindlicher Roman sein. Denn nach dieser Einordnung nutzte Raabe ja bewusst entsprechende Stereotype, die dann auch antisemitische Einstellungen zumindest latent bei den Lesern verankerten. Dafür spricht ebenfalls die Ausschließlichkeit von jüdischen Negativfiguren im Roman.

Bild oben: Wilhelm Raabe 1885 (Foto: Hugo Beddies, Braunschweig) / CC BY-SA 4.0

Literatur:

Klüger, Ruth: Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“, in: Klaus-Michael Bogdal/Klaus Holz/Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgat 2007, S. 103-110.
Süselbeck, Jan: Die Totalität der Mitte. Gustav Freytags Figur Anton Wohlfart und Wilhelm Raabes Protagonist Hans Unwirrsch als „Helden“ des antisemitischen „Bildungsromans“ im 19. Jahrhundert, in: Nikolas Immer/Mareen van Marwyck (Hrsg.), Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld 2013, S. 292-321.