Ein Verbrechen ohne Namen

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Im post-kolonialen Diskurs dient die besondere Erinnerung an die Shoah dazu, um von den Kolonialverbrechen abzulenken, handele es sich doch um gleichrangige Massenmorde. Gegen derartige Auffassungen haben sich in Feuilletons kritische Historiker positioniert. Einige dieser Beiträge finden sich jetzt in dem kleinen Sammelband „Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“.

Von Armin Pfahl-Traughber

War der Kolonialismus für die Shoah nur eine Vorgeschichte? Fixierte man sich auf die Judenvernichtung, um sich nicht mit Kolonialverbrechen auseinandersetzen zu  müssen? Derartige Fragen schienen einen neuen Historikerstreit auszulösen, wobei häufig von einem zweiten Historikerstreit die Rede war. Der erste bezog sich auf die Aussage von Ernst Nolte, wonach Auschwitz der Gulag kausal vorausgegangen sei. Der zweite Historikerstreit bezog sich insbesondere auf Dirk Moses, der von einem „Katechismus“ der Vergangenheitspolitik sprach. Um „amerikanischen, britischen und israelitischen Eliten“ zu gefallen, hätten selbsternannte „Hohepriester“ die Shoah diskursiv als „heiliges Trauma“ und damit als Zivilisationsbruch inszeniert. Daneben könne es eben keine anderen Genozide geben und so seien auch die Kolonialverbrechen in der Öffentlichkeit verdrängt worden. „Deutsche Eliten“ hätten dazu die Shoah instrumentalisiert. Derartige Auffassungen durchzogen fortan den Diskurs des „Post-Kolonialismus“, lösten aber bei Historikern vehemente Kritik aus.

Einige Beiträge von ihnen finden sich in dem Sammelband „Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“. Bis auf einen Kommentar handelt es sich um Nachdrucke. Gleichwohl verdienen sie auch aus der Distanz der Ernstveröffentlichungen, die etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“,  der „Süddeutschen Zeitung“ oder der „Zeit“ erfolgten, auch im Nachhinein noch kritische Wahrnehmung: Der kurze Beitrag von Jürgen Habermas erinnert an den erwähnten ersten Historikerstreit und hebt hinsichtlich der Spezifika der antisemitischen Verbrechen hervor: Das „Merkmal, das den Holocaust von kolonialen Genoziden unterscheidet, ist diese Wendung gegen den ‚inneren Feind‘, der getötet werden muss – und der nicht wie die fremde, kolonial unterworfene Bevölkerung zusammen mit deren Naturschätzen primär ausgebeutet werden soll“ (S. 12). Das Beharren auf diesem „singulären“ Gesichtspunkt rechtfertige aber keine Ignoranz gegenüber den vorherigen Kolonialverbrechen.

Ähnliche Auffassungen vertritt Saul Friedländer, der bei den post-kolonialen Denkern die inhaltliche Orientierung hin zu israelfeindlichen Zuordnungen hervorhebt. Denn dort wird vom Kolonialismus des Staates gesprochen, was eine Opfer-Täter-Umkehr möglich macht. Er verweist auch wie der nachfolgende Autor Norbert Frei auf das Geraune um die „israelischen Eliten“, die nach Moses offenbar hier instrumentalisierendes Wirken entfaltet hätten. Frei macht dann auf die religiösen Metaphern von Moses ebenso wie seinen verächtlichen Tonfall aufmerksam. Er konfrontiert außerdem die Entwicklung der Forschung mit dessen schiefen Interpretationen und Zuordnungen. Deutlich werden die Gemeinsamkeiten mit Geschichtsdiskursen der Neuen Rechten herausgearbeitet, die dem sich als Linker verstehenden Moses offenbar nicht besonders unangenehm sind. Auch Sylvia Steinbacher setzt sich danach mit dessen Vorstellungen auseinander, wobei sie das „Empörungstheater“ und das „Geschrei vom Vergleichsverbot“ (S. 65) gekonnt kritisiert.

Und schließlich macht Dan Diner noch aus kühler Distanz darauf aufmerksam, dass es eben verschiedene Formen von „kollektiven Gewaltverbrechen“ gibt, wobei Kolonialismus und Shoah aber unterschiedlichen Varianten zugeordnet werden müssen. Er betont: „Den Holocaust von Kolonialverbrechen anhand eines durch ‚Auschwitz‘ den Opfern zugefügten ultimativen Vernichtungstodes zu unterscheiden, bedeutet indes nicht, das jeweils erlittene Leid als ethisch verschieden zu qualifizieren und somit herabzusetzen – so, als gelte eine Art Richterskala des Leidens“ (S. 79). Moses und viele Post-Kolonialisten arbeiten aber mit diesem Zerrbild. Die Autoren haben es gekonnt verworfen und deren Position als ideologische Wahrnehmung entlarvt. Dies geschieht jeweils in feuilletonistischer Form, was die Lesebereitschaft erhöhen mag. Doch mit dem wissenschaftlicheren Blick hätte gerade in der Gesamtschau die absonderliche „Katechismus“-These noch klarer widerlegt werden können, eben auch  mit Hinweisen auf die der Shoah eigenen diversen Spezifika.

Saul Friedländer/Norbert Frei/Sybille Steinbacher/Dan Diner, Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München 2022 (C. H. Beck-Verlag), 94 S., 12 Euro, Bestellen?