Die Shoah-Überlebende Rahel R. Mann, 1937 als Renate Wolf in Berlin-Neukölln geboren, spricht als Psychotherapeutin und Zeitzeugin über Gott(losigkeit) und Eigenverantwortung und über das, was sie stark gemacht hat – ihre Zeit im Versteck.
Das Interview führte Judith Kessler für das Deutschland Archiv / BpB.
Die Fotos von Rahel R. Mann hat Sharon Adler, Mitherausgeberin der Reihe „Jüdinnen nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven“ gemacht.
Foto: Rahel R. Mann vor dem Haus Starnberger Straße 2 in Berlin-Schöneberg. Im Keller des Hauses war die damals Siebenjährige 1944 mehrere Monate lang versteckt. © Sharon Adler/PIXELMEER, 2021
Judith Kessler: Ihre Mutter, Milda Wolf, war eine getaufte Jüdin, ist ungewollt mit Ihnen schwanger geworden und hat ihr Leben lang über Ihre Herkunft geschwiegen. Den Namen Ihres ebenfalls jüdischen Vaters, der 1941 erschossen wurde, haben Sie erst nach dem Krieg erfahren – und dass Sie als Baby in einer jüdischen Klinik und danach drei Jahre bei einer Pflegefamilie waren, die dann „abgeholt“ wurde, gar erst mit 70 Jahren aus der Akte des Entschädigungsamtes… Wie haben Sie das Schweigen Ihrer Mutter empfunden?
Rahel R. Mann: Es hat mich verärgert, immer wieder. Den Pflegefamilien, über die ich fast nichts weiß, habe ich ja viel zu verdanken, wahrscheinlich auch, dass mich nichts umhaut. Ich hatte kein gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Sie hat wahrscheinlich nur einmal mit meinem Erzeuger geschlafen, wollte mich nicht, wusste aber nicht, was zu tun. Sie ist mit 17 verheiratet worden, hat sich mit 22 scheiden lassen, das war eigentlich auch stark – 1924 war so etwas schließlich nicht üblich! Jedenfalls hat sie nie wieder geheiratet. Und auch nie darüber geredet, schon gar nicht über meinen Vater und unsere jüdische Herkunft. Obwohl ich immer wieder gefragt habe. Daher weiß ich auch sehr wenig, leider.
Judith Kessler: Ihre eigenen Erinnerungen, haben Sie einmal gesagt, beginnen etwa 1941, da waren Sie vier Jahre alt und sind – wieder zurück bei Ihrer Mutter – mit ihr in die Starnberger Straße 2 in Schöneberg gezogen. Sie bekamen ein Zimmer im 3. Stock im Hinterhaus in einer „Sternwohnung“ zugewiesen.[1] Was ist aus dieser ersten Zeit bei Ihnen hängengeblieben?
Rahel R. Mann: An der Wohnungstür hing ein großer Davidstern. Ich wusste nicht, was das bedeutet, und meine Mutter hat mir nicht geantwortet, als ich sie danach gefragt habe. In der Wohnung wohnte schon eine jüdische Familie. Die ist dann abgeholt worden, das habe ich aber nicht mitbekommen. Eine andere jüdische Familie mit vier Kindern wurde deportiert, zufällig, als ich dort in der Wohnung war, um mir Spielzeug zu holen. Ich stand im Zimmer herum und der Gestapo- oder SS-Beamte schob mich zu den anderen Kindern. Aber da kam die Hauswartsfrau, Frau Vater, die Treppe hochgehetzt und rief: „Das ist meine Nichte, die gehört zu mir.“ Und brachte mich ins Parterre zu einer Witwe, deren Fenster zur Straße rausgingen. Ich sah, wie die Familie abgeführt wurde und vor dem Haus in eine „Grüne Minna“, so wurden die Polizeiautos genannt, steigen sollte. Der Mann stieg mit drei der Kinder auch ein. Aber die Frau war wie angewurzelt stehengeblieben. Da griff ein SS-Mann nach dem Baby auf ihrem Arm und schlug es solange an die Wagentür, bis es keinen Laut mehr von sich gab und sich nicht mehr rührte. Das Erschütternde für mich war, dass im Haus gegenüber von unten bis oben Leute hinter den Gardinen standen, guckten und guckten, und keiner was tat. Das habe ich überhaupt nicht verstanden. Aber ich habe da schon begriffen, was Hilflosigkeit, Machtlosigkeit bedeutet, ohne das benennen zu können. Wahrscheinlich rührt daher aber auch die Erkenntnis, die mich in meinem späteren Leben geprägt hat: Wenn keiner was sagt und keiner was tut, dann musst du das tun! Aber damals habe ich nicht begriffen, was um mich herum passiert. Das Wort „Jude“ habe ich nie gehört.
Judith Kessler: Ihre Mutter musste Zwangsarbeit leisten und wurde 1942 direkt von der Fabrik weg in ein Außenlager des KZ Sachsenhausen deportiert. Sie waren danach meist ganz allein in dem Haus und haben überlebt, weil es Menschen wie Frau Vater gab, die Ihnen geholfen haben. Erzählen Sie uns bitte etwas darüber.
Rahel R. Mann: Frau Vater war die Hauswartfrau, ihr Mann war Blockwart und Parteimitglied. Er hat mich wie Luft behandelt, nie mit mir gesprochen, aber mich auch nicht verraten. Sie wohnten im Parterre und ich war oft bei ihnen, Frau Vater hat mir Essen gemacht oder ich habe dort geschlafen. Sie hat den anderen Leuten immer gesagt, meine Mutter sei auf Arbeit, und deswegen würde sie mich betreuen. Aber irgendwann wurde es zu unsicher in der Starnberger Straße und ich wurde herumgereicht. Ich war in mehreren Verstecken, die wahrscheinlich alle Frau Vater organisiert hatte, unter anderem in einer Gartenkolonie und bei Pastor von Rabenau, einem Pfarrer der Bekennenden Kirche, bis der verhaftet wurde.[2] Da musste ich also wieder zu Frau Vater. Das muss 1944 gewesen sein. Sie kriegte mich nun aber nicht mehr untergebracht. Es blieb nur noch der Keller. Da waren lauter Bretterverschläge. Ich bekam eine Matratze hinter einem Schrank, durfte das Licht nicht anmachen, nicht husten, nicht niesen, nicht weinen. Ich hatte zwar viele Ängste, aber in diesem Keller habe ich mich sicher und behütet gefühlt, und Frau Vater hat mich versorgt. Außerdem gab es noch einen jungen Mann im Haus, Wolfgang Schlüter, der wohnte über uns. Er hat mir ein Kinderbuch mit Bildern und Gedichten geschenkt. Er hat mir manchmal vorgelesen, und ich habe die Verse auswendig gelernt. Später hat er mir ein Schulheft gebracht, einen Bleistift und das Alphabet aufgemalt, und das habe ich vor Langeweile pausenlos geübt. Bis das Heft voll war. Er war auch der Einzige, der sich getraut hat, mit mir rauszugehen, wenn Entwarnung war. Wir sind dabei auch buchstäblich über Leichen gegangen. Das ist ein Bild, das ich nicht mehr loswerde. Bomben, Sirenen, Schüsse, Trümmer, Leichen. Ich bekam dann immer Brechdurchfälle. Das war Angst, Hilflosigkeit. Und dann kam Wolfgang plötzlich nicht mehr. Seine Eltern waren vorher schon nach Schweden geflohen, ich weiß nicht, ob er es auch geschafft hat …
Judith Kessler: Wie wurden Sie befreit?
Rahel R. Mann: Ende April 1945, da war ich knapp acht Jahre alt, kamen die Russen. Ein Soldat hat mich im Keller hinter dem Kleiderschrank entdeckt. Frau Vater hat sich zwar immer bemüht, aber es gab kaum noch was zu essen, und ich lag da ziemlich ausgehungert und apathisch auf meiner Matratze und konnte das alles natürlich nicht einordnen. Die hatten, wie die Deutschen, Stiefel und Uniformen, allerdings redeten sie in einer ganz fremden Sprache. Aber diese Männer haben dann etwas Kluges gemacht, sie haben Fotos aus den Taschen geholt und mir gezeigt. Auf den Bildern waren viele Kinder und da wusste ich, dass sie mir sagen wollten, dass sie auch Kinder hatten und ich keine Angst haben musste. Die haben mich aus dem Keller geholt, mich gewaschen, mir etwas Sauberes angezogen, und mich wieder nach oben in die „Sternwohnung“ gebracht. Ich konnte mich dann frei bewegen, sie haben mir Kondensmilch mitgebracht und Suppe aus ihrer Gulaschkanone. Das waren meine Freunde und langsam habe ich begriffen, dass der Krieg vorbei war. Ich konnte auch später gar nicht verstehen, warum alle, die Mitschüler und die Lehrer, so auf die Russen geschimpft haben.
Judith Kessler: Dann kam Ihre Mutter aus dem KZ zurück und Sie sind 1946 eingeschult worden…
Rahel R. Mann: Ja, meine Mutter kam mit offener Tuberkulose zurück und hat Blut gespuckt. Sie war ansteckend, man durfte sie nicht umarmen oder küssen. Und sie kam bald für ein Jahr in ein Krankenhaus – und ich war froh. Sie war eine fremde Frau für mich und quasi immer krank, ich mochte sie nicht. Ich meine, sie hat sich die Krankheit herangeholt, als Hilfsmittel. Ich habe mich gut in die Situation eingefunden, ich war immer noch bei Frau Vater und habe mich ganz viel mit den Nachbarjungen in den Trümmern herumgetrieben, auf Schatzsuche, und habe meine Freiheit genossen. Ich war sehr selbstständig. Als ich dann zur Schule gekommen bin, durfte ich bald zwei Klassen überspringen, da ich ja schon lesen konnte.
Judith Kessler: Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Sie jüdisch sind?
Rahel R. Mann: Gleich nach dem Krieg. Durch andere eigentlich. Ich habe meine Mutter gefragt, was Juden sind, aber die hat mir nur ganz allgemein und unpersönlich geantwortet. Im Religionsunterricht wurde das dann thematisiert. Die Lehrerin hat irgendwas übers Judentum erklärt und auf mich verwiesen. Das war das erste Mal, dass mir jemand direkt gesagt hat, dass ich Jüdin bin. Über Nazis und Ermordete wurde natürlich nicht gesprochen. Das habe ich mir dann alles angelesen. Das war ja so eine gespaltene Geschichte. Meine Mutter hatte mich 1940, mit drei Jahren, evangelisch taufen lassen, weil sie glaubte, uns so das Leben zu retten. Ich bin ja später ganz selbstverständlich auch mit einer Kreuz-Kette herumgelaufen. 1951 hat sie mich zum Konfirmandenunterricht angemeldet, und der Pastor von Rabenau hat mir zum Beispiel zur Einsegnung einen Psalmen-Vers gegeben und nichts aus dem Neuen Testament. Der wusste ja, was ich eigentlich war. Aber die meisten haben versucht, das so nebenbei zu behandeln. Und ich selbst dachte, ich muss eine gute Christin werden aus lauter Dankbarkeit. Als ich eingesegnet wurde, habe ich schon beschlossen, dass ich aussteigen muss, wusste aber nicht, wann und wie. Aus der Kirche ausgetreten bin ich letztlich aber erst mit 33 Jahren. Aber das Judentum spielte seit meiner Pubertät eine zunehmende Rolle, allein schon aus Opposition gegen meine Mutter. Es gab einen Buchhändler am Bayerischen Platz, Herrn Baer, der hat, seit ich 14 war, für meine gesamte Lektüre gesorgt. Meine Mutter war ja immer krank, ich habe den Haushalt gemacht und sie versorgt und immer bei ihm Bücher für sie ausgeliehen. Bei der Gelegenheit hat er mir sämtliche jüdische Literatur, die es gab, mitgegeben, weil auch er wusste, dass wir jüdisch sind.
Judith Kessler: Mit 20 Jahren sind sie bei Ihrer Mutter ausgezogen…
Rahel R. Mann: Ja, ich war noch nicht mündig, und sie hat mir das schwer übelgenommen. Aber ich wollte weg von ihr und mein eigenes Leben haben. Dabei wollte ich mich mit 17 noch umbringen. Ich habe mich immer gefragt, warum ich überlebt habe und die anderen nicht und habe versucht, mich vor ein Auto zu werfen. Aber der Fahrer hat rechtzeitig gebremst, ist ausgestiegen und hat mir eine geknallt. Das war der Wendepunkt. Irgendwas in mir hat „umgeschaltet“ – von negativen Reaktionen auf positive. Ich habe mir gesagt, wenn Du schon noch da bist, dann hat das einen Sinn und dann hast du eine Aufgabe. Als ich zuhause ausgezogen bin, hatte ich auch schon meinen Mann kennengelernt, der auch jüdischer Abstammung war und tolle Eltern hatte. Doch den habe ich nach 13 Jahren verlassen, nicht, weil wir uns nicht mehr liebten, sondern weil es mir zu langweilig wurde.
Judith Kessler: Davor haben Sie aber noch studiert und Kinder bekommen…
Rahel R. Mann: Genau. Ursprünglich wollte ich ja Ärztin in Afrika werden, mein großes Vorbild war Albert Schweitzer. Aber ich hatte einen Schatten auf der Lunge, die Tropen rückten also in weite Ferne. Medizin habe ich trotzdem studiert und dann Lehramt an der Pädagogischen Hochschule, weil ich da schneller die Staatsexamina bekam und meinen Mann unterstützen konnte. Ich habe dann als Lehrerin gearbeitet, meine Kinder Isabell und Andreas bekommen und mich nach der Trennung zur Heilpraktikerin und Psychotherapeutin weitergebildet. Anschließend habe ich in der Praxis meines neuen Partners, den ich aber nicht mehr geheiratet habe [lacht], gearbeitet. Nach zehn Jahren haben wir uns getrennt, ich bin nach Braunschweig gezogen und habe dort eine eigene psychotherapeutische Praxis betrieben. Mit beiden Männern hatte ich übrigens auch später immer ein wunderbares Verhältnis – bis sie gestorben sind.
Judith Kessler: War die breite Spezialisierung hilfreich für Ihre Arbeit – und hat der Umstand, dass Sie Jüdin sind, eine Rolle in Ihrer Praxis gespielt?
Rahel R. Mann: Beides. Ich war immer neugierig, ich hatte das Gefühl, ich verstehe meine Umwelt besser, je mehr ich weiß. Ich fand den ganzheitlichen Blick auf eine Person immens wichtig und den Fokus auf Psychosomatik. Mit zunehmendem Alter war ich auch dankbar für meine Erfahrungen als Jüdin. Ich hatte sogar mal einen sterbenskranken ehemaligen KZ-Leiter als Patienten, den ich bis zu seinem Tod begleitet habe. Wieso der ausgerechnet zu mir gekommen ist? Nach dem Motto „Juden sind miese Leute, aber gute Mediziner“ vielleicht. Vielleicht wollte er auch Absolution, er hat das aber nie thematisiert; ich weiß es nicht. Das haben viele nicht verstanden, auch meine Kinder nicht; ich verstehe auch, dass sie das nicht verstanden haben. Aber ich denke, es ist nie gut, Leid mit Leid zu beantworten. Wenn wir das tun, gehen wir auch ein Stück weit selber dabei zu Grunde.
Judith Kessler: Mit 60 Jahren sind Sie nach Israel gegangen. Warum?
Rahel R. Mann: Meine Tochter lebte schon seit 1981 in Israel. Und ich hatte nach 40 Jahren Arbeit gerade meine Lebensversicherung ausbezahlt bekommen und überlegt, machst Du weiter oder erfüllst Du dir den Traum, Hebräisch zu lernen, um die Schriften im Original lesen zu können? Ich habe mich dann kurz entschlossen. Ich wollte dort sterben. Aber dann haben die Selbstmordattentate begonnen. Da bekam ich die gleichen körperlichen Symptome wie damals im Krieg, Durchfall und so weiter, und meine Tochter hat mich gefragt, ob ich mir das nochmal antun wolle. Wahrscheinlich wollte sie mich nur loswerden [lacht]. Ausschlaggebender war aber die Sprache. Ich lebe mit der Sprache, ich schreibe, mein Hebräisch war auch noch nicht sehr gut, und so bin ich nach über zehn Jahren Israel 2007 nach Berlin zurückgekommen.
Judith Kessler: Seitdem leben Sie unweit Ihres alten Hauses aus dem Krieg in einer Ein-Zimmer-Wohnung, haben keinen Fernseher und kein Internet. Und wirken zufrieden…
Rahel R. Mann: Ich brauche das alles nicht mehr, keine 250-m2-Praxis und keinen Ballast. Das Überflüssige ist weg, und die wesentlichen Dinge kommen wieder zum Vorschein. Ich lese viel und habe viele Kontakte und Gespräche. Das ist mir wichtig – der Umgang mit dem Anderen, die Gefühle für Andere. Das kommt meines Erachtens nach zu kurz in der Gesellschaft, das Materielle wird dafür überbewertet.
Judith Kessler: Nach Ihrer Rückkehr waren Sie viel als „Zeitzeugin“ in Schulen unterwegs oder haben bei Führungen Jugendlichen ihr Kellerversteck gezeigt. Hat das was gebracht?
Rahel R. Mann: Anfangs war ich selbst nicht davon überzeugt, aber: ja. Es sind wenige, denen das was bringt, aber denen bringt es was. Mein Sohn hat mich schon gefragt, ob ich nicht endlich aufhören will damit, aber wenn von 30 Leuten zwei etwas davon haben, dann ist das auch wertvoll. Ich rede ja sehr direkt und über alles, sachlich und bestimmt, und bin, glaube ich, ganz gut als „Zeitzeugin“. Ich weiß, dass ich kein Verhalten verändern kann. Aber wenn sich junge Leute entschieden haben, das Verhalten ihrer Eltern oder Großeltern zu hinterfragen, ist doch schon etwas gewonnen.
Judith Kessler: Was ist Religion für Sie?
Rahel R. Mann: Das ist die falsche Vokabel. Es ist Konfession. „Religio“ ist Rückbindung ins Geistige. Damit habe ich nichts zu tun. Gott ist für mich eine Gedankenfigur des Menschen, wir haben ihn und den Begriff erfunden. Manche sagen, der Glaube an einen Gott kann den Menschen helfen. Aber ich glaube das nicht. Menschen, die konfessionell gebunden sind – sei es an Gott, an Allah, an den Papst – geben die Verantwortung ab. Konfessionen sind für mich konstruierte Ausreden. Die Verantwortung für das eigene Denken, das eigene Leben, das eigene Tun zu übernehmen, fällt den Menschen unheimlich schwer. Aber das ist das Wichtigste.
Judith Kessler: Sie beschäftigen sich dennoch mit den alten jüdischen Schriften. Wie können die uns heute weiterhelfen?
Rahel R. Mann: Nicht mit dem Glauben. Aber mit dem Nachdenken über unsere Geschichte, unsere Herkunft, unsere Quellen, woraus sich möglicherweise auch erschließt, was und warum Menschen glauben. Eigentlich haben diese Schriften ja nichts mit Gott zu tun, es gibt dort nicht mal eine Vokabel für Gott. Ich glaube an keinen Gott und an keine Konfession. Das Geistige ist für mich das Spirituelle. Es gibt eine geistige Kraft, die alles durchdringt und umwebt und die in uns liegt. Von mir aus nennen Sie das göttlich. In meiner Konfessionen-Kritik werde ich auch immer mutiger mit dem Alter, nach dem Motto: Mir kann keener mehr watt.
Judith Kessler: Sie schreiben auch Gedichte und haben drei Lyrikbände veröffentlicht.[3] Können Sie in Versen Dinge anders ausdrücken als in Prosa oder im Gespräch?
Rahel R. Mann: Ich finde, das Gedicht ist ein scheinbar indirekter, aber im Grunde der direkteste Weg, Andere nicht nur auf der intellektuellen Ebene zu erreichen. Es gibt ja viele Menschen, die sich als rein intellektuell sehen und Spiritualität ablehnen. Ich bin beides, intellektuell und spirituell, und das hat mir in meinem Leben viel weitergeholfen. Das ist mit der Astrologie nicht anders, auch wenn die viel belächelt oder verkannt wird. Ich habe mich sehr viel mit Astrologie beschäftigt und das auch in meine Praxisarbeit eingebracht, wenn ich den Eindruck hatte, dass sich mein Gegenüber nicht dagegen sperrt. Einige haben mich aufgrund ihrer eigenen Vorurteile aber auch abgelehnt. Das fand ich für mich persönlich nicht tragisch, aber für die Sache nicht fruchtbar, weil ich ernsthafte Astrologie für sehr aufschlussreich halte.
Judith Kessler: Glauben Sie, dass in dem, was Ihnen passiert ist als Kind, Sinn liegt?
Rahel R. Mann: Ja, das glaube ich, aber unabhängig von einer Führung, also von Gott, Jesus oder sonst wem. Für mich ist nichts Zufall. Sowohl was mir begegnet ist, als auch das, wovor ich bewahrt worden bin, hat einen Sinn. Auch wenn ich ihn nicht unbedingt sehe. Und auch was mir zufällt, fällt mir gezielt zu, aber nicht durch ein höheres Wesen. Selbst die Zeit im Keller war nie etwas Abschreckendes für mich. Aber sie hat mich bestärkt letztendlich, sie hat mich stark gemacht.
Judith Kessler: Sie wirken tatsächlich sehr stark. Sie sind eine starke Frau. Würden Sie sich als Feministin bezeichnen? Und was raten Sie anderen Frauen?
Rahel R. Mann: Feministin – das Wort habe ich nie benutzt, aber ich habe so gelebt. Ich war immer emanzipiert, ich habe mich nie unterdrücken lassen, nie erduldet und nie gejammert wie meine Mutter. Ich habe immer geguckt, was macht das mit mir und was mache ich damit und was will ich? Das sollten sich alle Frauen fragen: Was kann ich tun, was kann ich ändern? Angst ist kein guter Ratgeber. Angst kommt von Enge und das unterstütze ich bei mir nicht und auch bei anderen nicht, egal, ob Männlein oder Weiblein.
Judith Kessler: Der Antisemitismus nimmt spürbar zu. Wo sehen Sie Ursachen? Was kann man dagegen tun?
Rahel R. Mann: Den Begriff Antisemitismus finde ich falsch, weil es außer uns noch andere Semiten gibt; für mich ist das eindeutig Antijudaismus. Und der wird weiterwachsen. Meine Mutter hat immer gesagt: „Das kriegen die Deutschen mit der Muttermilch mit.“ Dagegen habe ich immer protestiert, das mache ich heute nicht mehr. Ich denke, es gibt eine Art stabilen Antijudaismus. Und ich glaube nicht, dass man viel dagegen tun kann, muss man doch aber auch nicht. Mir ist lieber, jemand ist offen und ehrlich gegen Juden, da kann ich dann wenigstens argumentieren und mich mit dem auseinandersetzen, zum Beispiel über das falsche christliche Verständnis vom Judentum. Vielleicht kann man es auch als ermutigend ansehen, dass nämlich die anderen Stimmen deutlicher werden müssen, wenn antijudaistische Kräfte erstarken. Ich denke, in Zukunft wird Zivilcourage abgefordert werden müssen.
Judith Kessler: Sie sind eine der letzten Zeitzeug*innen. Wie können wir die Erinnerungskultur erhalten und die schwächelnde Demokratie stärken?
Rahel R. Mann: Dieses Unmittelbare erhalten können wir nicht. Ich finde das auch in Ordnung. In meinen Augen gibt es dafür keine Rezepte. Jeder muss das auf seine Weise machen. Mut steigt nur, wenn er angefordert wird. Der Kern von Demokratie ist für mich, selbst über Dinge nachzudenken und die eigene Meinung zu vertreten, nicht nur schweigend zuzugucken. Ich sehe, dass die Demokratie in vielen Ländern gefährdet ist und die Leute plötzlich wieder mehr „Führung“ suchen. Das passiert, glaube ich, weil zu viel eigene Unsicherheit da ist, und weil die Menschen nicht mehr einüben, selbst zu denken, selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen, weil sie bequem geworden sind und an die Hand genommen werden wollen. Erziehung heißt ja nicht, jemanden zu etwas zu zwingen oder ihn einzuengen, sondern zu gucken, was hat der in sich, was kann man da rauskitzeln und fördern. Das passiert zu wenig, die jungen Menschen werden damit sehr viel allein gelassen, zu viel.
Ich finde auch diese Harmoniesüchtigkeit falsch, also andere Denkarten zu übernehmen, im Irrglauben, die Gesellschaft würde dann nicht weiter auseinanderdriften. Wenn man will, bekommt man schließlich für jede Position „pro und contra“ zusammen. Und wenn das zunimmt, kommt so ein Wischiwaschi in der Politik heraus, wo Parteien kaum noch voneinander zu unterscheiden sind, wie man das jetzt im Wahlkampf sieht. Wir sollten Linke, Rechte, Quere und so weiter aushalten. Wir müssen uns nicht gegenseitig akzeptieren, aber wir müssen uns gelten lassen. Es ist doch nicht wichtig, wieviel Zustimmung ich selbst kriege, sondern dass ich denen zuhöre, denen ich vielleicht gar nicht gern zuhöre und die ich nicht mag. Die bringen mir viel eher rüber, was vielleicht noch verändert werden muss. Da habe ich mehr zu verdauen und zu arbeiten dran. Ich mische mich ein und erwarte, dass andere das auch tun.
Anmerkungen:
(1) „Sternwohnung“: Gemeint sind Wohnungen in „Judenhäusern“, so der NS-Jargon für Wohnhäuser aus (ehemals) jüdischem Eigentum, in die seit 1939 (in Berlin seit Januar 1940) ausschließlich jüdische Mieter und Untermieter zwangsweise eingewiesen wurden.
(2) Eitel-Friedrich Karl Balthasar von Rabenau (1884–1959) war langjähriger Pastor der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg, während des Nationalsozialismus ein führender Vertreter der oppositionellen Bekennenden Kirche und als solcher kurzzeitig auch inhaftiert.
(3) Gedichtbände von Rahel R. Mann: erdundhimmelwärts, Gedichte, Heidelberg 1992; Das Ewige im Menschen, Heidelberg 1994; Ich Reiche dir Meine Hand. Gedichte – Gedanken – Texte, Oldenburg 2005. Rahel Mann, „Meine Mutter hat mich nie gewollt, vielleicht hat mir das geholfen“, in: Tina Hüttl/Alexander Meschnig (Hg.), Uns kriegt ihr nicht. Als Kind versteckt – jüdische Überlebende erzählen, München 2013.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Autoren/-innen: Rahel R. Mann, Judith Kessler für Deutschlandarchiv/bpb.de