Zum Tode des jüdischen Psychoanalytikers und Gruppenanalytiker Josef Shaked

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Josef Shaked, in Ungarn geboren, in Israel aufgewachsen, dann Studium in den USA und Übersiedlung nach Österreich, war einer der ganz Großen der internationalen Gruppenpsychotherapie. Nun ist er am 21.11.2021 im Alter von 92 Jahren in Österreich verstorben. Eine Erinnerung und eine Buchbesprechung seines wichtigsten Werkes.

Von Roland Kaufhold

Josef Shaked, 1929 in Ungarn unter dem Namen Scharf geboren, überlebte als Kleinkind nur mit äußerstem Glück: Seine jüdische Familie emigrierte mit ihm bereits Anfang der 1930er Jahre nach Palästina, wo sie ihren Namen sogleich in den hebräischen Namen Shaked umbenannten. Sie lebten in der jüdisch-arabischen Stadt Haifa, was ihn prägte. Für seinen Vater war der Abschied von Europa endgültig, er sprach nur noch Ivrith. Der in Entstehung begriffene, bedrohte jüdische Staat war die neue Heimat der Shakeds.

Josef Shaked begeisterte sich, im Geiste des jüdischen Psychoanalytikers und jugendbewegten zionistischen Theoretikers Siegfried Bernfeld[i], bereits als Jugendlicher gleichermaßen für Sigmund Freuds Schriften wie auch für den Marxismus. Freud las er bereits mit 15. Josef Shaked machte in Israel Abitur und kämpfte im 1948er Unabhängigkeitskrieg, war also an der Staatsgründung Israels unmittelbar beteiligt.

1951, mit 22 Jahren, mittellos, ging er nach New York, studierte dort Biochemie. Dieses Studium schloss er 1955 mit dem Bachelor of Science ab. Seine zahlreichen Tätigkeiten, mit denen er seinen Lebensunterhalt im multikulturellen New York sicherte, stärkten sein Interesse für soziale und gruppendynamische Prozesse. Sein eigentliches inneres Interesse galt jedoch weiterhin der Freudschen Psychoanalyse. Im Alter deutete er sein eigenes Verlassen Israels auch als eine Form des Rebellentums gegenüber seinem religiösen und wohl nationalistisch orientierten Vater.

1955: Übersiedlung nach Wien

Nach vier Jahren, 1955, dann ein weiterer scheinbarer Bruch: Der 26-jährige Josef Shaked hatte kein Geld, vermochte die Lebensunterhaltskosten in New York nicht mehr aufzubringen. Die europäische Geschichte war ihm nicht unvertraut, auch verstand er wohl zumindest bruchstückhaft deutsch. Nach Deutschland konnte er als Israeli nicht gehen, das untersagte ihm schon sein israelischer Pass mit der Inschrift „Alle Länder der Welt außer Deutschland“. Shaked siedelte nach Österreich über, in das Land Sigmund Freuds, aus dem alle jüdischen Psychoanalytiker zwei Jahrzehnte zuvor fliehen mussten (Kaufhold 2003), einige von ihnen wurden auch von den Deutschen ermordet. Bei ihren nicht-jüdischen psychoanalytischen Kollegen in Deutschland und Österreich fanden sie hierbei jedoch nahezu keine Unterstützung – auch wenn der wirklichkeitsferne Mythos des „freiwilligen Austritts“ bis heute fortwirkt (Kaufhold & Hristeva 2021).

Josef Shaked studierte Medizin in Wien, musste vor allem jedoch noch einmal „richtig“ Deutsch lernen; er musste sich die Sprache „im Selbststudium erst mühsam aneignen musste.“ (Shaked 2011, S. 17) Zur Finanzierung seines Studium unterrichtete er privat Englisch und an mehreren Schulen Hebräisch und jüdische Religion, „schließlich fand ich mich in der Funktion als Schulinspektor der Kulturgemeinde, mit der ich ansonsten wenig zu tun hatte, wieder.“ (ebd.)

Immer wieder beschlichen ihn Zweifel, ob er als Jude wirklich „am richtigen Ort gelandet sei“, wie er einmal schrieb. Jedoch „schütze mich“ Mitte der 1950er Jahre „wohl ein gewisses jugendliches Selbstbewusstsein vor allzu quälenden Zweifeln. Aber hin und wieder kamen mir doch Bedenken.“

Das Studium der Medizin des Mittellosen an der Universität Wien dauerte 1955 bis 1966 Medizin; 1966 wurde Josef Shaked zum Dr. med. promovierte.

Schon während seines Studiums absolvierte er eine psychoanalytische Ausbildung, die er 1969 abschloss. Seine Facharztausbildung für Psychiatrie und Neurologie absolvierte er von 1966 bis 1972 in der Nervenheilanstalt Klosterneuburg-Gugging. 1972 eröffnete er eine Arztpraxis. Sein wissenschaftliches Interesse hielt er dennoch aufrecht und übernahm über Jahre Lehraufträge an der Wiener und der Salzburger Universität.

Die Leitung von Großgruppen wurde zu seiner Lebensaufgabe, seiner professionellen Identität, ihr widmete er sich über Jahrzehnte, auch im internationalen Kontext. Sein Ansehen als Gruppenanalytiker wuchs durch sein professionelles Engagement so sehr an, dass er ab 2007 gemeinsam mit Wolfgang Martin Roth zum Herausgeber des „Österreichischen Jahrbuches für Gruppenanalyse“ ernannt wurde.

Shaked hatte bei dem in den 1960er und 1970er Jahren renommierten Igor Caruso (s.u.) seine psychoanalytische Ausbildung gemacht. Als Jahrzehnte später, ab 2008, Carusos berufliches Wirken in der NS-Zeit und die Frage von dessen Beteiligung an den Kindermorden in der damaligen Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ öffentlich sowie in der kleinen psychoanalytischen Szene Österreichs sehr kontrovers debattiert wurde bezog Shaked eine klare Position: Die Wurzeln der Psychoanalyse in Österreich lägen „in den Trümmern und Gräbern des Nationalsozialismus vergraben.“

Wien, daran wurde Shaked immer wieder schmerzhaft erinnert – was er dank seiner professionellen Ausbildung jedoch scheinbar seelisch abzuwehren vermochte – war nicht nur die Stadt Freuds und Herzls, sondern auch die von Lueger und Adolf Hitler. Die Auseinandersetzung mit diesem toxischen, verbrecherischen Erbe, dies blieb für den in Israel Aufgewachsenen eine lebenslange Herausforderung. Er diente als Jude auch in seiner professionellen Tätigkeit ganz gewiss häufig als Projektionsfläche nicht nur für Antisemitismus, sondern auch für Ansprüche der historischen Schuldentlastung, die in der österreichischen Gesellschaft wie auch in standespolitischen Selbstentlastungsversuchen verwurzelt sind (Kaufhold & Hristeva 2021).

In seiner 2011 vorgelegten Autobiografie Ein Leben im Zeichen der Psychoanalyse (s.u.) legte der 82-jährige, als arrivierter Facharzt für Psychiatrie, Neurologie sowie als Lehr- und Gruppenanalytiker, seine autobiografischen und gruppenpsychotherapeutischen Erfahrungen nieder. Hierin beschreibt er auch seine Analysen des katholischen und rechtsradikalen Antisemitismus, zu dem er in Österreich mit seinen rechtsradikalen Parteien mehr als ausreichend Studienmaterial vorfand, ohne sich hierdurch existentiell betroffen zu fühlen.

Um sein gruppentherapeutisches Wirken zu Veranschaulichen sei aus seinem 1998 gehaltenen Vortrag bei einem Kongress der Individualpsychologen – überschrieben mit: „ Die Großgruppe“ – zitiert:

„Von Versuchen in den zwanziger und dreißiger Jahren abgesehen, erhielt die analytische Gruppentherapie erst in den vierziger Jahren entscheidende Impulse, die nicht zuletzt durch die große Anzahl von Kriegsneurotikern in der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg begünstigt wurden. Was aus der Not entstanden war, erwies sich im Laufe der Zeit als eine Tugend, da sich herausstellte, dass die Gruppe selbst ein therapeutisches Medium bildet. Der anhaltende Widerstand vieler Analytiker trug dazu bei, dass die Gruppenanalyse sich fast überall außerhalb der psychoanalytischen Vereine entwickelte und zu einer selbständigen Methode wurde, die zunehmende Anerkennung fand. (…) Halten wir zum Schluss fest, dass uns die Erfahrungen mit analytischen Großgruppen tiefere Schichten des psychischen Erlebens zugänglich machen als Kleingruppen in ihrer Reproduktion der Kindheitsneurose. Darin scheint mir vor allem die Berechtigung für die Abhaltung von Großgruppen in Ausbildungssituationen zu liegen.“[ii]

Shakeds Freundschaft mit Ernst Federn

Als Autor bin ich Josef Shaked vereinzelt begegnet, so in seinem 1994er Aufsatz Der Name Federn in der Psychoanalyse.

Shaked war nahezu der ersten Analytiker, der über den jüdischen KZ-Überlebenden Ernst Federn – mit dem er befreundet war – verständnistief schrieb und dessen Emigrations- und Rückkehrer-Vita als Überlebender hierbei zugleich mit Federns Familienbiografie verband. Er zeichnet in seiner Studie den Werdegang seines 15 Jahre älteren psychoanalytischen und politischen Freundes (vgl. Federn 2014, Kuschey 2003) im Detail und kenntnisreich nach, der als Sohn des Freud-Stellvertreters Paul Federn zugleich zutiefst mit der psychoanalytischen Bewegung (Ernst Federn) verbunden war.[iii]

Shaked schrieb: Paul Federns „Sohn Ernst Federn hat die Auswirkungen des ungesunden Nationalismus am eigenen Leib erlebt. Als Student wurde er 1936 als illegaler Revolutionärer Sozialist und Trotzkist – wohl in Rebellion gegen seinen sozialdemokratischen Vater – von der Universität relegiert und zweimal mit insgesamt elf Monaten Gefängnis bestraft. Beim Einmarsch der Nationalsozialisten in Wien wurde er sofort von der Gestapo verhaftet und über Dachau ins Konzentrationslager Buchenwald verschickt. Die wahnhafte und sadomasochistische Welt des KZ konnte er dank seiner bemerkenswerten Überlebensfähigkeit und günstigen Umstände, vor allem dank der Zuwendung seiner bemerkenswerten Braut und späteren Ehefrau Hilde, überstehen.“ (Shaked 1994, S. 99)

Und wenig später führt Josef Shaked über Ernst Federns Psychologie des nationalsozialistischen Terrors (Federn 2014, Kaufhold 2001, Kuschey 2003) aus: „Aus seinen Ausführungen lässt sich schließen, daß zum Überleben in der Welt des KZ auch die Fähigkeit gehört, die Mechanismen des Terrors zu erfassen, die Fähigkeit sich in die Psyche der SS-Wachmannschaften zu versetzen, und die Fähigkeiten zur extremen Anpassung einschließlich der weitgehenden Ausschaltung der eigenen Persönlichkeit. Um zu überleben muß sich der Häftling im KZ seelisch totstellen. Dies wäre auch eine Anpassung an das Ziel der SS, die Persönlichkeit der Häftlinge auszulöschen als Vorstufe zur physischen Vernichtung. Wem es allerdings gelang der physischen Vernichtung mittels dieser Selbstverleugnung zu entgehen, scheint über bessere Chancen zum Überleben verfügt zu haben.“ (Shaked 1994, S. 100)

So verwunderte es nicht, dass Shaked den Wiener Historiker Bernhard Kuschey bei dessen Abfassung seiner monumentalen Ernst Federn-Biografie (Kuschey 2003) als psychoanalytischer Supervisor unterstützte und begleitete.

An den von der Wiener Psychotherapeutin Evelyn Böhmer-Laufer seit 20 Jahren organisierten Peace Camps mit österreichischen, israelischen, palästinensischen und ungarischen Jugendlichen beteiligte sich Josef Shaked gemeinsam mit seiner Ehefrau Susanne so lange, wie ihm das altersmäßig möglich war. 

Seinen israelischen Pass hat der vertriebene Jude Josef Shaked stets behalten. Ohne diesen Sicherheitspfand hätte er wohl nicht in Wien bleiben und dort arbeiten können, über so viele Jahrzehnte.

In einem von KollegInnen verfassten Nachruf auf Josef Shaked heißt es:

„Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse in Altaussee. In Altaussee entwickelte er eine besondere Form der psychoanalytischen Selbsterfahrung in der Großgruppe. Ausgehend von Freuds Arbeiten zu Massenpsychologie und Kulturtheorie interpretierte Shaked die Abläufe in der Großgruppe in Analogie zu gesellschaftlichen Phänomenen und Problemen. Er war der erste, der Großgruppen im deutschen Sprachraum für Zwecke der Selbsterfahrung und Ausbildung etablierte. (…) Er wurde durch die Verleihung der Ehrenpräsidentschaft des Wiener Arbeitskreises für Tiefenpsychologie und durch die Ehrenmitgliedschaften des Deutschen Arbeitskreises für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) und des ÖAGG ausgezeichnet.“ 

Bild oben: © Walter Wehmeyer

Ein bewegtes Leben – Josef Shakeds Lebenserinnerungen

„Gegen Mitte der 50er Jahre schützte mich wohl ein gewisses jugendliches Selbstbewusstsein vor allzu quälenden Zweifeln. Aber hin und wieder kamen mir doch Bedenken, ob ich am richtigen Ort gelandet war.“
Josef Shaked über seine Übersiedlung nach Wien

Von Roland Kaufhold

Josef Shaked, 1929 in Ungarn geboren, dann noch rechtzeitig mit seinen Eltern in das damalige Palästina emigriert, lebt seit knapp 60 Jahren in Österreich. Er blickt auf ein spannendes, höchst außergewöhnliches Leben zurück. Versammelt hat er seine Lebenserfahrungen nun in einem Lehrbuch über Gruppenpsychotherapie – also über das Fach, welches er als Psychoanalytiker und undogmatischer Freud-Schüler entwickelt hat. Und doch ist sein Buch bei Weitem mehr als ein Fachbuch: Es ist auch eine autobiografische Zeitreise, eingebettet in die Geschichte der Psychoanalyse. Ein außergewöhnliches Leben. Ein Leben als Jude, der sich immer wieder selbstreflexiv auf seine jüdische Abstammung bezieht. Ein außergewöhnliches Werk. Ein Stück Zeitgeschichte.

Versammelt sind hierin Bruchstücke, die nur schwer miteinander zu verbinden sind – für seine Umwelt. Josef Shaked hat sie seelisch zusammen geführt. Was blieb ihm anderes übrig? Vergleichbar ist sein mit „Ein Leben im Zeichen der Psychoanalyse“ betiteltes Spätwerk am ehesten mit dem Essayband „Ein Leben mit der Psychoanalyse“ seines langjährigen Freundes Ernst Federn.

Josef Shaked wuchs in Ungarn auf, seine Eltern emigrierten Anfang der 30er Jahre als überzeugte Zionisten nach Palästina, entgingen so der Shoah. Die Familie hieß ursprünglich Scharf, sie nahm im jungen jüdischen Staat als zionistische Familie den Namen Shaked an. Sie lebten in einem arabischen Viertel der multikulturellen Stadt Haifa, im Norden Israels gelegen. Sein Vater, ein gelernter Steuerberater, beteiligte sich als Zionist am Aufbau Israels – seiner neuen biografischen Heimat. Er arbeitete auf dem Bau, obwohl er körperlich hierzu nur wenig geeignet schien. Und er sprach nur noch hebräisch. Mit seiner Muttersprache wollten sein Vater nichts mehr zu tun haben.

Der junge Josef Shaked war identifiziert mit dem „linken Zionismus“, den u.a. der linke Psychoanalytiker und Zionist Siegfried Bernfeld repräsentierte. Er las die Schriften Freuds wie auch Marx. Josef Shaked kämpfte im Unabhängigkeitskampf Israels als Soldat, seine Identität blieb mit dem jüdischen Staat verknüpft, welchen er doch bald verlassen sollte.

Shaked wollte Psychoanalytiker werden, wusste jedoch nicht wie. Und er war weitgehend mittellos. 1951 ging er Dank eines Stipendiums zum Medizinstudium nach New York, dem damaligen Zentrum emigrierter Wiener Psychoanalytiker. Sein Schwerpunkt war die Biochemie: „Dieses Studium absolvierte ich zwar in viereinhalb Jahren, freilich ohne besondere Interessen oder gar Engagement.“ (S. 14) Nebenbei arbeitete er als Nachhilfelehrer und Übersetzer, als Kellner und als Schichtarbeiter. Hierbei machte er zahlreiche soziale Erfahrungen, die sein Interesse am Verständnis des Menschen weckten. Viele Jahre später, in Österreich, freundete er sich mit dem 15 Jahre älteren Ernst Federn an, der sieben Jahren Konzentrationslager überlebt hatte und sich, wie Shaked selbst, anfangs als Linker, als „Trotzkist“ verstand. Für solche Ideen war in ihrem neuen, seinerzeit von der McCarthy Ära geprägtem Heimatland USA kein Platz. Beide sollten die USA wieder verlassen. Dies unterschied sie von der Mehrzahl ihrer in die USA geflohenen jüdischen Kollegen und Freunden.

Im autobiographischen Rückblick beschreibt Josef Shaked seine vier Jahre in den USA so: „Ich fühlte mich dann bald in eher linken Kreisen heimisch, das Jüdische spielte keine wesentliche Rolle. (…) Dass sich der Freundeskreis aus Schwarzen, aus Trotzkisten und anderen Oppositionellen zusammensetzte mag wohl eine Art Protest gegen das Establishment gewesen sein, der in Israel begann und sich in Amerika nun verstärkte; vielleicht war es auch eine Rebellion gegen den Vater, denn schließlich verließ ich ja Israel.“ (S. 15) Die Erfahrungen im multikulturellen, weltoffenen New York prägten seine Identitätssuche.

Nach Abschluss seines Biochemiestudiums betrieb er noch ein Semester jüdische Studien, „vielleicht ein Versuch, in dieser Zeit des persönlichen Zweifels und der grundlegenden Skepsis an allem mich nochmals mit meinen Ursprüngen auseinanderzusetzen.“ (S. 16)

Josef Shaked suchte eine neue seelische Heimat, eine private und berufliche Identität. Er fasste einen höchst außergewöhnlichen Beschluss, den im jungen jüdischen Staat wohl kaum jemand nachzuvollziehen vermochte: Er wollte nach Europa, „zurück zu Freud“. Deutschland kam nicht in Frage, trug sein israelischer Pass doch (wie alle israelischen Pässe) den Stempel „Alle Länder der Welt außer Deutschland.“ 1955 beschloss der 26-jährige, zum Studium in das Freudsche Wien zu gehen, um dort die Psychoanalyse zu erlernen. Er wollte etwas zurück bringen, von dem doch nichts mehr existierte: Nahezu alle jüdischen Psychoanalytiker hatten in der Nazizeit Wien verlassen, die Mehrzahl von ihnen emigrierte in die USA, einige wurden ermordet, nur drei Psychoanalytiker waren in Wien geblieben. Der 82-jährige Psychoanalytiker und Emigrant Josef Shaked sinnt über seine Motive für diese höchst ungewöhnliche Wahl nach: In Wien, „so dachte ich, würde sich mein Lebenstraum verwirklichen lassen. Dieser Traum hatte sich in mir schon als 15-jährigem festgesetzt, als ich während meiner Mittelschulzeit in Israel auf die Schriften Sigmund Freuds stieß und in der Folge nicht mehr von der Idee lassen konnte, selbst Psychoanalytiker zu werden. Im Nachhinein erscheint mir diese frühe Weichenstellung als eine Art Pubertätsreaktion, als ein Protest gegen die traditionelle Erziehung und wohl auch gegen mein religiöses Elternhaus. In der Klasse war ich damit ein Außenseiter,  keiner meiner Freunde oder Mitschüler ließ sich zu einem solchen intellektuellen Abenteuer überreden.“ (S. 13)

Shaked studierte Medizin in Wien, musste vor allem jedoch noch einmal Deutsch lernen, dessen er „kaum mächtig“ war, so dass er sich die Sprache „im Selbststudium erst mühsam aneignen musste.“ (S. 17) Zur Finanzierung seines Studium unterrichtete er privat Englisch und an mehreren Schulen Hebräisch und jüdische Religion; „schließlich fand ich mich in der Funktion als Schulinspektor der Kulturgemeinde, mit der ich ansonsten wenig zu tun hatte, wieder und hatte mehrere Lehrer unter mir. Alles in allem führten diese Umstände dazu, dass sich das Studium doch sehr in die Länge zog.“ (S. 17)

Anfang der 60er Jahre machte er bei Igor Caruso eine Psychoanalyse. Ein lang gehegter Traum erfüllte sich. Und doch beschlichen ihn Zweifel an der Qualität dieser Ausbildung. Caruso, der aus einem adeligen, katholischen  Elternhaus stammte, war eine charismatische Persönlichkeit. In den 60er und 70er Jahren profilierte er sich in Österreich als ein „progressiver“ Hochschullehrer und Psychoanalytiker, der Impulse der Frankfurter Schule und der (in Österreich winzigen) Studentenbewegung aufzugreifen bzw. eine eigene therapeutische „Schule“ aufzubauen schien. Vor wenigen Jahren, ab 2008, wurden die Idealisierungen, die Caruso lange von „linken“ Psychotherapeuten und Sozialwissenschaftlern entgegen gebracht worden sind, durch Entdeckungen über seine Verstrickungen als medizinischer Gutachter im nationalsozialistische Euthanasieprogramm schwer erschüttert (vgl. Publikationen von Vogt, Parth, List, Reiter, Göllner, Benetka und Rudolph). Josef Shaked zeichnet seine eigene berufliche Sozialisation unter Caruso ausführlich nach, wie auch seine tiefe Erschütterung über diese Entdeckungen über die „andere Seite“ seines langjährigen, 15 Jahre älteren Kollegen. Er hebt hervor: „Dabei ist mir mein eigenes Nicht-wissen-Wollen in dieser Sache umso unbegreiflicher, als ein anhaltend hohes Interesse an Geschichte und Verbrechen der NS-Zeit schon wegen meiner jüdischen Herkunft für mich ebenso eine Selbstverständlichkeit war wie ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Erwachsenen, die im Dritten Reich lebten.“ (S. 67) Und: „Die ganze Angelegenheit erfüllt mich mit großer Betroffenheit, um nicht zu sagen mit Fassungslosigkeit.“ (S. 68)

Den Schwerpunkt dieses umfassenden Werkes bilden jedoch seine klinischen und theoretischen Studien. Josef Shaked zeichnet die  Entstehung und Entwicklung der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse“ nach, diskutiert verschiedene theoretische Schulen, insbesondere die Ich-Psychologie, und rekapituliert die vielfältigen, zeithistorisch eingebetteten Angriffe gegen Freuds Werk.

Sein theoretisches Hauptinteresse bilden jedoch seine Erfahrungen mit analytischen Großgruppen, deren theoretischen Modelle er maßgeblich geprägt hat. Einige Kapitel seien genannt: „Setting und typische Merkmale von Großgruppen“, „Zur Verflechtung von Politischem und Psychischem“, „Zum Problem der Gruppenleitung“ sowie „Interkulturelle Großgruppen“.

Josef Shaked, der mit der 68er -Protestbewegung sympathisiert hatte, machte immer wieder heftigste Erfahrungen mit Angriffen gegen seine Person, was vor allem in seiner jüdischen Identität begründet war. Die Projektionen und Attacken gingen gleichermaßen von „linken“ wie von „rechten“ politischen Kräften aus. Immer wieder wurde er als ein „jüdischer Rächer“ phantasiert; in Großgruppentherapien kam es zu Phantasien von körperlichen Übergriffen. Andererseits wurde er positiv als ein vergebender jüdischer Vater projiziert. Immer wieder musste er die schmerzhafte Erfahrung machen, dass er als Jude selbst nicht akzeptiert wurde. Er blieb das Phantasma seiner Umwelt. Sein seelischer Ort blieb randständig, fern ab von der „kompakten Majorität“ (Sigmund Freud).

In Wien freundete er sich mit dem 15 Jahre älteren Ernst Federn an, der sieben Jahren Konzentrationslager überlebt hatte und sich, wie Shaked selbst, anfangs als Linker, als „Trotzkist“ verstanden hatte. Die politischen und psychoanalytisch-reformerischen Interessen führten sie zusammen, wie auch die Gemeinsamkeiten in ihren Biografien. Shaked und Federn waren wohl die einzigen Wiener Psychoanalytiker, die auf Dauer wieder nach Wien zurück gekehrt bzw. nach Wien übersiedelt sind.

Josef Shaked beteiligte sich an zahlreichen Forschungsvorhaben über Antisemitismus und über Fortwirkungen des Nationalsozialismus, ein Engagement, das bis heute fortwirkt. Gegen Ende seines Buches bemerkt er: „Im Wien der Nachkriegszeit bot sich mir reichlich Gelegenheit, den traditionellen und wieder erwachten katholischen Antisemitismus, gepaart mit Restbeständen der nationalsozialistischen Ideologie aus der Nähe zu erleben und zu studieren, ohne mich persönlich betroffen zu fühlen.“ (S. 390)

Wenn auch Wien seit mehr als fünf Jahrzehnten sein Zuhause ist so bleibt Israel doch seine emotionale Heimat. Der Antisemitismus der Wiener habe ihn nie persönlich gekränkt, hat er mehrfach betont, weil er ja als Fremder, aus einer anderen Welt, nach Wien gekommen sei. Seinen israelischen Pass hat er stets behalten, neben seinem österreichischen. Die Wiener hätten ja immer dafür gesorgt, dass man sich dort nicht daheim fühle. Seiner Utopien, die ihn als jungen Mann prägten, ist er verlustig gegangen. Aber diese skeptische Grundhaltung teilt er mit Freud.

Öffentliche Aufmerksamkeit, dies bleibt noch nachzutragen, haben in den letzten Jahren die von ihm, seiner Ehefrau Susanne sowie der Wiener Psychotherapeutin Evelyn Böhmer-Laufer – als Begründerin und Hauptmotor – seit zehn Jahren regelmäßig durchgeführten Peace Camps mit österreichischen, israelischen, palästinensischen und ungarischen Jugendlichen gefunden.

Nachdrücklich haben sich in mir die Szenen eines Dokumentarfilmes über ihr Projekt der Peace Camps festgesetzt, in denen der betagte, kleine Mann zwischen diesen auf dem Fußboden sitzenden Jugendlichen steht und wohl über sich selbst spricht. Es sind friedenspolitische Bemühungen eines Unentwegten, eines skeptischen Menschenfreundes, die sein gesamtes Leben widerspiegeln.

Josef Shaked: Ein Leben im Zeichen der Psychoanalyse,  Psychosozial Verlag 2011, 456 S., 39,90 Euro, Bestellen?

Literatur

Federn, E. (2014): Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. (Hg.: Roland Kaufhold). Gießen: Psychosozial-Verlag.

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung, Psychosozial-Verlag, Gießen. http://www.suesske.de/kaufhold-1.htm

Kaufhold, R. (2003): „Wo wäre die Psychoanalyse in Wien heut“? Spurensuche zur Geschichte der die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen. In: Aichhorn, T. (Hg.) (2003): Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung I. 1938 – 1949, Luzifer-Amor, 16. Jg., H. 31, 2003, S. 37-69. Internet: https://www.hagalil.com/2020/09/psychoanalyse-2/

Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021)„Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene jüdische Psychoanalytiker, Psychoanalyse im Widerspruch H. 66/2021: Vernichtung, Verschwörung, Verleugnung, Gießen: Psychosozial Verlag, S. 7-69, https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/cPath/4000_4200/products_id/8357

Kuschey, B. (2003): Die Ausnahme des Überlebens – Ernst und Hilde Federn. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Roth, W. M. (2010): Josef Shaked, Helga Felsberger (Hrsg.): Die analytische Großgruppe: Festschrift zu Ehren von Josef Shaked (=Österreichisches Jahrbuch für Gruppenanalyse. Bd. 4). Facultas, Wien.

Shaked, J. (1994): Der Name Federn in der Psychoanalyse, in: Werkblatt Nr. 33, 2/1994, S. 96-102. Internet: http://werkblatt.at/archiv/33_shaked.pdf

Shaked, J. (2001): Vorwort. In: Igor A. Caruso: Die Trennung der Liebenden: Eine Phänomenologie des Todes. Wien 2001.

Shaked, J. (2011): Ein Leben im Zeichen der Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.

[i] Roland Kaufhold (2014): “Das Schulwesen und die Erziehungseinrichtungen sind veraltet”. Siegfried Bernfeld: Zionist und psychoanalytischer Pädagoge, in: Tobias, J. G. & N. Schlichting (Hg.): Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Davidstern und Eisernes Kreuz – Juden im Ersten Weltkrieg, nurinst 2014, S. 153-168.

[ii] Josef Shaked (1998) https://docplayer.org/36125158-Die-grossgruppe-josef-shaked-wien.html

[iii] Roland Kaufhold & Galina Hristeva (Hrsg., 2014): „Gewalttätigkeit verstehen“. Zum 100. Geburtstag des Psychoanalytikers und psychoanalytischen Sozialarbeiters Ernst Federn, In: Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung, 18. Jg., H. 2, 2014.