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Der Weg ins Exil:
Vor 70 Jahren emigrierte Sigmund Freud nach London

"Die Juden haben sich von allen Seiten und aller Orten mit Begeisterung meiner Person bemächtigt als ob ich ein gottesfürchtiger großer Rabbi wäre. Ich habe nichts dagegen nachdem ich meine Stellung zum Glauben unzweideutig klargelegt habe, das Judentum bedeutet mir noch sehr viel affektiv."

Sigmund Freud an Arthur Schnitzler, 24. Mai 1926[1]


Foto: © Archiv S. Fischer Verlag

Von Roland Kaufhold und Hans-Jürgen Wirth

[ENGLISH]

Am 4.6.1938 schrieb der 82-jährige Sigmund Freud an seinen langjährigen Briefpartner Arnold Zweig – welcher fünf Jahre zuvor nach Palästina emigriert war – noch von Wien aus einen knappen Brief: "Leaving today for 39, Elsworthy Road, London N. W. 3. Affect, greetings Freud." Der Schriftsteller Arnold Zweig, zutiefst mit Freuds Werk identifiziert, antwortet ihm zwei Wochen später – die Post benötigte seinerzeit etwas länger - voller Erleichterung: "Nun sind Sie in Sicherheit, weg von den Opfern einer jahrzehntelangen Rachsucht. (...) Ihr Archiv, Ihre Bücher, die Sammlungen sind gerettet."[2]

Noch am gleichen Tag – alle von den Nationalsozialisten geforderten Formalitäten waren nun erfüllt - emigrierte Sigmund Freud mit einem Teil seiner Familie über Frankreich nach London. Das Photo mit Anna und Sigmund Freud im Bahnabteil ging durch die Weltpresse. 15 Monate später verstarb der schwer krebskranke jüdische Begründer der Psychoanalyse 83-jährig im Londoner Exil. Ein Anlass, sich an die Stationen seiner Emigration zu erinnern.

Vorgeschichte

Sigmund Freud wurde vor 152 Jahren, am 6. Mai 1856, in Mähren geboren. Er besuchte in Wien die Schule und entwickelte in Wien, im gemeinsamen Austausch mit zahlreichen Kollegen - nahezu alle waren Juden - die Psychoanalyse. Freud war ein durch und durch skeptischer Mensch, kein Menschenfreund, verwendete gelegentlich den Begriff des "Gesindels", wenn er an seine ihm großteils feindlich gesonnene Umwelt dachte. Über die dem Menschen innewohnende Destruktivität machte er sich keine Illusionen. Der Möglichkeit der menschlichen Selbstzerstörung war er sich immer bewusst. Am Vorabend der nationalsozialistischen "Machtergreifung" schrieb Freud, von dunklen Vorahnungen erfüllt, am Ende seiner großen Arbeit "Das Unbehagen in der Kultur":

"Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. (...) Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung."[3]

Der 82-jährige Freud trat den Weg ins Exil nur mit größtem Widerstreben an. In den Jahren von 1932 bis 1938 hatten nahezu alle Wiener Psychoanalytiker den Weg ins Exil ergriffen, ergreifen müssen - Freud jedoch nicht. Der krebskranke alte Mann beurteilte - wie zahlreiche Intellektuelle der damaligen Zeit - die Gefährlichkeit und Langlebigkeit des Nationalsozialismus zu optimistisch. Auch durfte der Schwerkranke, durchaus nicht unberechtigt, damit rechnen, in seiner Heimatstadt "unbehelligt und ruhig sterben zu können."[4]

Ein "gottloser Jude"

Die Selbstbeschreibung als "gottloser Jude" verwendete Freud 1918, gegen Ende des 1. Weltkrieges, in einem Brief an den Schweizer Pfarrer und Psychoanalytiker Oskar Pfister. Zehn Jahre zuvor hatte er eben diesem Pfarrer Pfister geschrieben: "Ganz nebenbei, warum hat keiner von all den Frommen die Psychoanalyse geschaffen, warum mußte man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?"

An die Existenz eines unser Seelenleben trostgebenden Gottes vermochte der überzeugte Atheist Freud nicht zu glauben. Illusionen waren nicht seine Sache. Seine leidenschaftliches Erkenntnisinteresse galt den uns unangenehmen Wahrheiten, der Wahrheit über die Abgründe des menschlichen Seelenlebens, einschließlich unserer Fähigkeit zur äußersten Destruktivität.[5]

Seiner Identität als Jude war sich Freud bereits früh bewusst - sie wurde ihm von seiner ganz überwiegend katholischen Umwelt aufgenötigt. Immer wieder kam er in seinen Briefen und Studien auf seine Zugehörigkeit zum Judentum zu sprechen - eine Identität, welche zunehmend die Haltung eines stolzen Trotzes einnahm.

Wien war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Zufluchtstätte für Juden geworden. 1880 - Freud hatte soeben seine ersten medizinischen Schriften publiziert, 15 Jahre vor seiner ersten großen psychoanalytischen "Studie(n) über Hysterie" - waren zehn Prozent aller Wiener Juden. "In den 1880er Jahren waren mindestens die Hälfte aller Wiener Journalisten, Ärzte und Anwälte Juden", schreibt Peter Gay in seiner monumentalen Freud-Biographie.[6] Als Freud von 1865 - 1873 in Wien das Gymnasium besuchte stieg die Zahl seiner jüdischen Mitschüler von 44 auf 73 Prozent.

Das Gefühl einer gesellschaftlichen Ablehnung seiner beunruhigenden, bahnbrechenden Entdeckungen, sowohl aus unbewussten als auch aus antisemitischen Motiven, bildete sich in Freud früh heraus. Als sein Vater dem wohl zehn- oder zwölfjährigen bei einem Spaziergang eine antisemitische Episode berichtete, in welcher ihm ein Christ mit dem Ruf "Jud, herunter vom Trottoir" die Mütze vom Kopf schlug, was sein Vater scheinbar ohne Gegenwehr ertrug, empörte dieses Zurückweichen den jungen Sigmund. Diese "unterwürfige Reaktion" seines Vaters "schien mir", wie er in seiner "Traumdeutung" (1900) schreiben sollte, als "nicht heldenhaft".[7] Das Zurückweichen erweckte in dem Jungen Rachephantasien, er identifizierte sich mit dem unerschrockenen, kämpferischen Semiten Hannibal.

Die grundlegende Bedeutung, welche Sigmund Freud in seinen Schriften ab 1895 der seinerzeit tabuisierten menschlichen Sexualität zuerkannte, rief im durch und durch katholischen Wien heftige Gegenreaktionen hervor. So schrieb beispielsweise 1896 der Psychiater Rieger, als Reaktion auf Freuds soeben publizierte Hysteriestudie, Freuds Ansichten seien so abwegig, dass "kein Irrenarzt sie lesen könne, ohne ein wahres Gefühl des Entsetzens zu spüren."[8] Freud fühlte sich gesellschaftlich geächtet.

Für einen Juden war eine akademische Karriere in Wien nur bei Überwindung hartnäckiger Hindernisse zu erlangen. Freud führte diese realistische Einschätzung nicht zu einer Assimilation, zu einer Verleugnung seiner jüdischen Wurzeln. 1897 trat der 41-jährige vielmehr der zwei Jahre zuvor gegründeten Wiener Loge B'nai Brith bei und hielt dort Vorträge. Das Gefühl einer Zugehörigkeit zu dieser jüdischen Vereinigung formulierte Freud verschiedentlich in für ihn ungewohnter persönlicher Wärme.

Bereits in seiner bekannten autobiographischen Schrift "Selbstdarstellung", 1914 publiziert, kennzeichnete Freud seinen Standpunkt in entschiedener, vielleicht etwas stilisierter Deutlichkeit:

"Meine Eltern waren Juden." Und Freud fügt hinzu: "Auch ich bin Jude geblieben."

"Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einverständnis mit der 'kompakten Majorität' zu verzichten."

B'nai B'rith feierte am 8. Mai 1926 Freuds 70. Geburtstag in Form einer Festsitzung und widmete eine Sondernummer ihrer "Mitteilungen" ihrem prominenten Mitglied.

In seiner Ansprache an B'nai B'rith - welcher krankheitsbedingt durch einen Mitbruder verlesen werden musste - erinnert sich Freud im autobiographischen Rückblick der Umstände seines 30 Jahre zurückliegenden Beitritts in diese jüdische Vereinigung, welche "mein erstes Auditorium" war:

"Es geschah in den Jahren nach 1895, daß zwei starke Eindrücke bei mir zur gleichen Wirkung zusammentrafen. Einerseits hatte ich die ersten Einblicke in die Tiefen des menschlichen Trieblebens gewonnen, manches gesehen, was ernüchtern, zunächst sogar erschrecken konnte, andererseits hatte die Mitteilung meiner unliebsamen Funde den Erfolg, daß ich den größten Teil meiner damaligen menschlichen Beziehungen einbüßte; ich kam mir vor wie geächtet, von allen gemieden. In dieser Vereinsamung erwachte in mir die Sehnsucht nach einem Kreis von auserlesenen, hochgestimmten Männern, die mich ungeachtet meiner Verwegenheit freundschaftlich aufnehmen sollten. Ihre Vereinigung wurde mir als der Ort bezeichnet, wo solche Männer zu finden seien. (...) Daß Sie Juden sind, konnte mir nur erwünscht sein, denn ich war selbst Jude, und es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es zu verleugnen."[9]


Foto: © Archiv S. Fischer Verlag

Um zu verhindern, dass seine neue Wissenschaft Psychoanalyse als eine "jüdische" Erkenntnis- und Behandlungsmethode von der größtenteils nicht-jüdischen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, machte Freud bei seiner "Vereinspolitik" (Gay), beim Aufbau seiner Psychoanalytischen Vereinigung, bewusst einige Konzessionen: Er bemühte sich darum, dem Psychiater Carl Gustav Jung - der "Arier" - , welcher 1906 Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, eine hohe Funktion innerhalb seiner Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zukommen zu lassen. Über mehrere Jahre sah Freud in Jung sogar seinen "Kronprinzen", bezeichnete ihn gelegentlich als "seinen Sohn". In Briefen an seinen jüdischen Kollegen Karl Abraham führte Freud 1908 aus, dass es für Jung "als Christ und Pastorensohn" innerlich sehr viel schwieriger sei, die inneren Widerstände gegen die Psychoanalyse zu überwinden, als für seine jüdischen Kollegen. Freud fügte, auf Jung bezogen, hinzu: "Um so wertvoller ist sein Anschluß. Ich hätte beinahe gesagt, daß erst sein Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen hat, eine jüdische nationale Angelegenheit zu werden."[10] Im gleichen Jahr schrieb er Abraham: "Seien Sie versichert, wenn ich Oberhuber hieße, meine Neuerungen hätten trotz alledem weit geringeren Widerstand gefunden."[11] Und: "Unsere arischen Genossen sind uns doch ganz unentbehrlich, sonst verfiele die Psychoanalyse dem Antisemitismus. (...) Wir müssen als Juden, wenn wir irgendwo mittun wollen, ein Stück Masochismus entwickeln, bereit sein, uns etwas Unrecht tun zu lassen." (ebda.) Sein Bruch mit Jung, wenige Jahre später, stellte ein Trauma innerhalb der Geschichte der Psychoanalyse dar. C. G. Jung, dies bleibt noch nachzutragen, war sich nicht einmal zu schade, ab dem Jahr 1933 - also zu einem Zeitpunkt, als seine ehemaligen jüdischen Freunde und Kollegen existentiell bedroht, einige Wenige ermordet wurden[12] - in seinen psychologischen Schriften eine dezidierte Unterscheidung zwischen dem "jüdischen und arischen Unbewußten" einzuführen.[13]

Mitte der 1920er Jahre - Freud hatte einen Großteil seiner Schriften publiziert, eine beeindruckende Schar von Mitstreitern gefunden und internationale Anerkennung gefunden - wurden die Anzeichen des Antisemitismus immer stärker. 1927 unterschrieb der liberale Freud einen Wahlaufruf für die Sozialisten. Seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, zu seinen jüdischen Wurzeln, betonte Freud nun immer nachdrücklicher.

In einem Interview formulierte der 70jährige Freud 1926: "Meine Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Bildung sind deutsch. Ich betrachtete mich geistig als Deutschen, bis ich die Zunahme des antisemitischen Vorurteils in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seit dieser Zeit ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen." Und 1935 schrieb Freud in einem Brief, "daß ich mich immer treu zu unserem Volk gehalten und nie für etwas anderes ausgegeben habe, als ich bin: ein Jude aus Mähren, dessen Eltern aus dem österreichischen Galizien stammten."[14]

1932 flohen die ersten Wiener Analytiker ins Exil - ein Prozess, welcher in den Jahren 1937 und 1938 seinen traurigen Höhepunkt fand.[15] Freuds zutiefst ambivalente Einschätzung seiner eigenen existentiellen Gefährdung spiegelt sich in seinem regen Briefwechsel der 1930er Jahre wider. Im März 1933 schrieb er an Marie Bonaparte - die fünf Jahre später seine Emigration nach London unterstützen sollte: "Man darf nicht übersehen, daß Judenverfolgung und Einschränkung der geistigen Freiheit die einzigen Punkte des Hitler-Programms sind, die sich durchführen lassen. Alles übrige ist ja Phrase und Utopie. (...) Die Welt ist ein großes Zuchthaus, die ärgste Zelle ist Deutschland. (...) In Deutschland sehe ich eine paradoxe Überraschung voraus. Sie haben dort mit der Todfeindschaft gegen den Bolschewismus begonnen und werden mit etwas enden, was von ihm nicht zu unterscheiden ist. Außer vielleicht darin, daß der Bolschewismus doch revolutionäre Ideale aufgenommen hat, der Hitlerismus nur mittelalterlich-reaktionäre."[16]

Und auf die öffentliche Verbrennung seiner Bücher im Mai 1933 reagiert er mit den sarkastischen Worten: "Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen."

Die 1930er Jahre: Freuds Briefwechsel mit Arnold Zweig in Palästina

Freud war zeitlebens ein produktiver und zuverlässiger Briefeschreiber. Er führte eine umfangreiche Korrespondenz mit Kollegen, mit Schriftstellern und Künstlern.

Auch in dieser Phase der zunehmenden Bedrohung durch den Nationalsozialismus setzte Freud seinen regen Briefwechsel fort. Einer seiner bevorzugten Briefpartner war der jüdische Schriftsteller Arnold Zweig (1897-1968), dessen Schriften Freud mit Interesse las. Zweig war 1933 nach Palästina emigriert. Ebendorthin war auch Freuds enger Mitarbeiter Max Eitingon von Berlin aus geflohen. Zahlreiche Psychoanalytiker und psychoanalytische Pädagogen folgten ihm nach Palästina und bauten bereits 1934 die Palästinensische Psychoanalytische Gesellschaft (ab 1948: Israel Psychoanalytic Society) auf. Amtssprache war seinerzeit, immer noch - deutsch. [17] Diese Emigranten setzten in Palästina ihr europäisches Engagement fort und waren vor allem an der Reform des im Aufbau befindlichen jüdischen Erziehungs- sowie des Gesundheitswesens interessiert. Jahrzehnte später sollten viele von ihnen in Israel sowie den USA maßgebend an psychoanalytischen Bemühungen involviert sein, Shoah-Opfern durch psychoanalytisch fundierte Bemühungen dabei zu helfen, besser mit ihren traumatischen Erfahrungen umzugehen.[18] Viele von ihnen waren in Wien und Berlin von dem jungen Psychoanalytiker, Pädagogen, Sozialisten und Zionisten Siegfried Bernfeld (1892-1953) geprägt worden, der der jungen psychoanalytisch-pädagogischen Reformbewegung entscheidende Impulse geliefert hatte. Dessen 1919 gegründetes Wiener Kinderheim Baumgarten - ein pädagogisches Modellprojekt, in dem 240 jüdische Kriegswaisen betreut wurden - war der Mikrokosmos einer modernen jüdische Erziehung, dessen Grundgedanken nun in zahlreichen Kibbuzim aufgegriffen und realisiert wurden.[19]

Arnold Zweig war in Palästina mit Eitingon befreundet und bezeichnete dessen Wohnung Freud gegenüber als "das erfreulichste Haus in Jerusalem"; und er fügte hinzu: "... und es ist wunderschön, Menschen so nahe zu haben, die Ihnen innerlich so nahe stehen und Ihre Arbeit so treu betreuen."[20]

Zweig hatte sich in seiner Jugend, wie Bernfeld, leidenschaftlich mit dem Zionismus identifiziert. 1924 war er der Redaktion der Jüdischen Rundschau beigetreten und publizierte 1925 das Werk "Das neue Kanaan", mit dem er seine Identifikation mit dem Zionismus zum Ausdruck brachte. 1929 publizierte er den Essay "Freud und der Mensch" in der Zeitschrift "Die Psychoanalytische Bewegung".

Im März 1927 hatte der tiefgründige Briefwechsel zwischen diesen beiden Intellektuellen begonnen; er endete erst zwölf Jahre später mit Freuds Tod. "Vater Freud" - wie ihn Zweig in seinen Briefen häufig respektvoll nannte -, blieb all die Jahre, trotz der geographischen Distanz, ein freundschaftlich-liebevoller Berater und Begleiter Arnold Zweigs.[21]

Im April 1932 hatte Arnold Zweig das Wagnis auf sich genommen, von einer Palästinareise wieder nach Deutschland zurückzukehren. Am 1.5.1932 schreibt Zweig an Freud: "Welcher Irrtum, hierher zurückzustreben! Was von diesem Europa, das ich liebe, von diesem Deutschland, das ich zum guten Teil bin, ist in diesem Augenblick noch greifbar da, Kraftquelle und Arbeitsanschluß? Warum nicht drüben geblieben, in der heroischen Landschaft Galiläas oder am Meer von Tel Aviv oder am Toten Meer."[22]

Und am 29.5.1932 fügt Zweig hinzu: "Sie haben zwei schwierige Punkte berührt, über die ich viel nachgedacht habe. Mein Verhältnis zu Deutschland und zu meinem Deutschtum, und mein Verhältnis zu den Juden, dem Judentum in mir und in der Welt, und zu Palästina. Dies Land der Religionen kann doch, gerade von Ihnen, auch unter anderen Aspekten angesehen werden als denen von Wahn und Wunsch."[23]

Am 18.8.1932 antwortet ihm Freud. Er hat von den nationalsozialistischen Drohungen gegen Zweig gehört und ermutigt seinen Freund zu einer Fortsetzung ihres Briefwechsels, ihres regelmäßigen Manuskriptaustausches: "Also vielleicht arbeiten die Nazis mir einmal in die Hände. Wenn Sie mir von ihren Grübeleien erzählen, kann ich Sie von dem Wahn befreien, daß man ein Deutscher sein muß. Sollte man dies gottverlassene Volk nicht sich selbst überlassen? Ich schließe, damit Sie dieser Brief eher erreicht und grüße Sie beide herzlich."[24]

1933 tat der 46jährige Arnold Zweig etwas, was der 31 Jahre ältere Freud nicht ernsthaft in Erwägung zog: Er emigrierte nach Palästina - bzw. blieb nach einer Palästinareise im Gelobten Land. Freunde hatten ihm hierzu geraten.

Zweig ließ sich in Haifa nieder. Des Hebräischen weitestgehend unkundig, durch eine Sehbehinderung am Erlernen der Sprache zusätzlich behindert, wich seine anfängliche Euphorie rasch einer Ernüchterung: Er fühlt sich in Eretz Israel als Schriftsteller zu wenig geschätzt, leidet unter den bedrückenden ökonomischen Lebensverhältnissen, vermag sich gesellschaftlich nicht zu assimilieren und verweigert eine vollständige Identifikation mit dem Zionismus. Am 21.1.1934, nur einen Monat nach seiner Ankunft in Palästina, schreibt er entmutigt an Freud: "Bald funktioniert die Zentralheizung nicht, bald stank der Petroleumofen (...) Wir sind nicht bereit, unseren Standard aufzugeben, und das Land ist noch nicht bereit, ihn zu befriedigen. (...) Ich mache mir nichts mehr aus dem Land der Väter. Ich habe keinerlei zionistische Illusion mehr. Ich betrachte die Notwendigkeit, hier unter Juden zu leben, ohne Enthusiasmus, ohne Verschönerungen und selbst ohne Spott."[25]

Sieben Tage später, am 28.1.1934, antwortet ihm Freud: "Ich habe lange in Spannung auf Ihren Brief gewartet. (...) ich bin begierig, sie zu lesen, jetzt, da ich Sie von Ihrer unglücklichen Liebe zum angeblichen Vaterland geheilt weiß. So eine Schwärmerei taugt nichts für unsereinen."[26]

Und am 25.2.1934 fügt Freud, auf seine eigene schwierige Lebenssituation in Wien bezogen, hinzu: "Sie erwarten richtig, daß wir in Ergebung hier ausharren wollen. Wohin sollte ich auch in meiner Abhängigkeit und körperlichen Hilflosigkeit? Und die Fremde ist überall so ungastlich. Nur, wenn wirklich ein Hitlerscher Statthalter in Wien regiert, muß ich wohl fortziehen, gleichgültig wohin."[27]

Zwei Monate später sucht Zweig in seiner Not Hilfe durch eine psychoanalytische Behandlung. Er schreibt am 23.4.1934 an Freud: "Lieber Vater Freud, ich gehe noch einmal in Analyse. Ich werde die Hitlerei nicht los. Der Affekt hat sich gegen jemanden umgelagert, die unsere Sachen 1933 unter Schwierigkeiten betreut hatte. Aber mein Affekt ist Besessenheit. Und ich lebe nicht in der Gegenwart, sondern bin 'abwesend'."[28]

In der Phase der eigenen Bedrohung galt Freuds größte Sorge dem Überleben seiner Familie sowie dem seiner analytischen Kollegen. Deren Emigration sah er wohl als eine Notwendigkeit an - und hing gelegentlich doch der trügerischen Illusion an, dass seine Psychoanalyse, seine psychoanalytischen Zeitschriften und sein Verlag in Wien überleben könnten. In dieser Phase arbeitete er an seinem "Alterswerk": Der religions- und kulturkritischen Studie "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" (GW XVI, S. 101-246). Dieses Buch des knapp 80-jährigen, krebskranken Mannes war ein Versuch, den "ewigen Antisemitismus", den mörderischen Haß auf "die Juden" in historischer Dimension zu verstehen.[29] Je konkreter der Antisemitismus nun Freud selbst bedrohte, desto stärker identifizierte dieser sich mit seinen jüdischen Wurzeln. Die ersten beiden Kapitel der Moses-Studie erschienen 1937 in "Imago", vollständig publiziert wurde sie jedoch erst nach Freuds Emigration nach London, in einem holländischen Verlag.

In einem Brief vom 30.9.1934 an Arnold Zweig skizziert Freud seine thematische und methodische Zugangsweise: "Der Ausgangspunkt meiner Arbeit ist Ihnen vertraut; derselbe wie für Ihre 'Bilanz' (Zweig 1934). Angesichts der neuen Verfolgungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat. Ich hatte bald die Formel heraus. Moses hat den Juden geschaffen, und meine Arbeit bekam den Titel: Der Mann Moses, ein historischer Roman.[30]

Am 9.9.1935 dankt Freud für die Zusendung von Zweigs Roman "Erziehung von Verdun". Freud ist angetan von diesem Werk seines Freundes: "Meine Tochter Anna liest jetzt die 'Erziehung von Verdun' und kommt immer wieder zu mir, ihren Empfindungen Ausdruck zu geben. Wir tauschen dann unsere Bemerkungen aus. Sie wissen, ich bilde mir ein, meine Warnung hätte Sie abgehalten nach Berlin zurückzugehen, und ich bin noch immer stolz darauf, und jetzt ist es erst recht sicher, daß Sie nie in die Nähe einer deutschen Grenze kommen dürfen. Es wäre schade um Sie. Es (Zweigs 'Verdun', d. Verf.)  ist eine langersehnte Befreiung. Endlich die Wahrheit, die grimmige, endgültige Wahrheit, die man nicht entbehren kann. Man versteht das Deutschland von heute nicht, wenn man um 'Verdun' (und wofür es steht) nichts weiß."[31]

Gelegentlich tauchen bei Freud nun Andeutungen auf, in denen er seine eigene existentielle Bedrohung durch die Nationalsozialisten nicht mehr beiseitezuschieben vermochte. Am 14.10.1935 schreibt er Zweig: "Eine bange Ahnung sagt uns, daß wir, oh die armen österreichischen Juden, einen Teil der Rechnung werden bezahlen müssen. Es ist traurig, daß wir Weltereignisse auch vom Judenstandpunkt beurteilen, aber wie könnten wir anders!"[32]

Arnold Zweigs Klagen über sein Leben in Palästina häufen sich. Am 15.2.1936 schreibt er Freud: "Ich sträube mich gegen das ganze Dasein hier in Palästina. Ich fühle mich falsch am Platze. (...) Was sagen Sie dazu? Sie und kein anderer haben mich doch vor der Tollheit zurückgehalten, im Mai 33 noch einmal nach Eichkamp, d. h. ins Konzentrationslager und den Tod zu gehen. Außer Ihnen hat von meinen Freunden nur noch Feuchtwanger so klar gesehen. Aber was raten Sie mir zu tun?"[33] Freud ist von Zweigs Not berührt. Bereits sechs Tage später, am 21.2.1936, entgegnet er ihm: "Ihr Brief hat mich sehr bewegt. Er ist nicht das erste Mal, daß ich von den Schwierigkeiten des Kulturmenschen höre, sich in Palästina einzuleben. Die Geschichte hat dem Judenvolk keinen Anlaß gegeben, seine Fähigkeiten zur Bildung eines Staates und einer Gesellschaft zu entwickeln. (...) Sie fühlen sich unbehaglich, aber ich wußte nicht, daß Sie die Isolierung so schlecht vertragen. Fest auf Ihrer Künstlerschaft fußend, sollten Sie auch eine Weile allein sein können. In Palästina haben Sie wenigstens persönliche Sicherheit und Ihre Menschenrechte. Und wo wollen Sie hingehen? Amerika würden Sie, nach all meinen Eindrücken, darf ich's sagen, vielmehr unerträglicher finden. Überall sind Sie ein kaum geduldeter Fremder. In Amerika müßten Sie auch Ihre Sprache abwerfen, nicht ein Kleidungsstück, sondern Ihre eigene Haut. Ich meine wirklich, Sie sollten zunächst bleiben, wo Sie sind. Die Aussicht, nach einigen Jahren Deutschland wieder zugänglich zu finden, ist wirklich vorhanden. (...) Freilich, auch nach den Nazis wird Deutschland nicht mehr das Frühere sein. (...) Aber man wird an der Aufräumungsarbeit teilnehmen dürfen." [34]

Die immer weiter eskalierende Entrechtung und Verfolgung in Österreich führen Freud zu einer zunehmend pessimistischeren - will heißen: realistischen - , aber auch fatalistischen Sicht auf seine Existenzmöglichkeit in Wien. Am 22.6.1936 schreibt er Zweig: "Österreichs Weg zum National-Sozialismus scheint unaufhaltsam. Alle Schicksale haben sich mit dem Gesindel verschworen. Mit immer weniger Bedauern warte ich darauf, daß für mich der Vorhang fällt."[35]

Und gegen Ende des Jahres 1937 scheint seine Resignation obsiegt zu haben: "In Ihrem Interesse kann ich es kaum bedauern, daß Sie nicht Wien zur neuen Heimat gewählt haben. Die Regierung hier ist eine andere, aber das Volk ist dasselbe, in der Anbetung des Antisemitismus durchaus einig mit den Brüdern im Reich. Die Kehle wird uns immer enger zugeschnürt, wenn wir auch nicht erwürgt werden. Palästina ist wenigstens noch British Empire, das ist nicht zu unterschätzen."[36]

Die Emigration der Wiener Psychoanalytiker und der Pädagogen ins Exil

Die Vertreibung der intellektuellen Eliten aus Wien bzw. Österreich in den 1930er Jahren stellt die schärfste Zäsur in der Wissenschaftsgeschichte Österreichs dar. Die Psychoanalyse sowie die - von Freud nachdrücklich geförderte - Psychoanalytische Pädagogik wurde im eigenen Ursprungsland vollständig zerstört und zur Emigration - größtenteils in die USA - genötigt. [37] Von dem kulturellen und biographischen Schaden, den die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung erlitt, von ihrer historisch-biographischen Entwurzelung, vermochte sie sich über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht mehr zu erholen.[38] Die psychoanalytische Bewegung selbst ist seit den 1930er Jahren nur noch als Emigrationsbewegung zu beschreiben. Den meisten Psychoanalytikern gelang die Flucht ins rettende Exil; über 20 von ihnen wurden jedoch ermordet, für ihr Schicksal hatte sich bis in die 1980er Jahre nahezu niemand interessiert.

Die Emigration vieler Psychoanalytiker wurde vor allem ermöglicht, weil diese im Unterschied zu den meisten anderen jüdischen Berufsgruppen über vielfältige ausländische Kontakte verfügten. Die Ausreise beispielsweise in die USA war vor allem davon abhängig, dass der Emigrant einen Bürger in Amerika fand, der die Erklärung abgab, ihn im Notfall finanziell zu unterstützen. Auch waren in den 1920er und 30er Jahren viele Interessierte - vor allem aus den USA - nach Wien gekommen, um die Psychoanalyse in ihrem Geburtsort aus erster Hand zu erlernen. Einige von ihnen gründeten in Wien therapeutische Schulen und Kindergärten, übersetzten Schriften Freuds, erteilten einigen Analytikern Englischunterricht. Einige dieser amerikanischen Analytiker - die durch ihre amerikanische Staatsbürgerschaft in den 1930er Jahren nicht unmittelbar bedroht waren - nutzten ihre Stellung und Kontakte, um Wiener Analytikern bei der Flucht zu helfen. Einige waren sogar in Wien im illegalen Untergrund engagiert, besorgten Affidavits, falsche Pässe, Geld und versteckten Analytiker vor den Nazis. Als die wagemutigste Helferin gilt die amerikanische Psychoanalytikerin Muriel Gardiner. Besondere Erwähnung verdient das mutige Verhalten des renommierten Psychoanalytikers Richard Sterba, der - obwohl als Katholik nicht persönlich gefährdet - aus Solidarität mit seinen jüdischen Kollegen in die USA emigrierte.

Mehrere Analytiker - zu nennen sind u.a. Edith Jacobson, Edith Buxbaum[39], Rudolf Ekstein, Marie Langer, Ernst Federn, Muriel Gardiner und Thea Erdheim-Genner - waren intensiv im "illegalen" Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagiert und wurden von der Gestapo eine Zeit lang inhaftiert. Bruno Bettelheim[40] sowie Ernst Federn[41] überlebten eine ein- bzw. eine siebenjährige Konzentrationslagerhaft in Dachau und Buchenwald und wurden nach ihrer Befreiung zu den Begründern einer Psychologie des Terrors.

Ein besonders tragisches Schicksal erlitt der kämpferische Antifaschist Wilhelm Reich, der in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche wegweisende Studien zur Psychologie des Faschismus publiziert hatte. Er wurde 1933/34 wohl wegen seines politischen Engagements gegen die Nazis sowohl aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung als auch aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen; sein Schicksal hat für bis heute anhaltende Kontroversen gesorgt.[42]

Einige Zahlen seien genannt: Von den 149 Mitgliedern der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung - nahezu alles Juden - emigrierten bis 1939 146. Nahezu alle Psychoanalytischen Pädagogen emigrierten, größtenteils in die USA. Den meisten von ihnen gelang es, trotz des in den USA vorherrschenden "Medicozentrismus" (Paul Parin), sich in ihrer neuen Heimat zu behaupten, Teile ihrer professionellen Identität in ihre neue Heimatkultur einzubringen. Die sozial-aufklärerische Aufbruchstimmung, die in dieser Weise wohl nur in Wien hatte entstehen können, war jedoch ausgelöscht worden. In den USA gab es nahezu keine Möglichkeit mehr, hieran kulturell anzuknüpfen.[43] Andererseits gelang es vielen von Sigmund Freud sowie Siegfried Bernfeld geprägten jungen psychoanalytischen Pädagogen, in ihrer neuen Heimat im psychoanalytisch-pädagogischen Feld Pionierarbeit zu leisten. Zu nennen sind u.a.: Anny Angel-Katan, Bruno Bettelheim, Siegfried Bernfeld, Peter Blos, Berta und Stefanie Bornstein, Edith Buxbaum, Kurt Eissler, Rudolf Ekstein, Erik Erikson, Ernst Federn, Anna Freud, Judith S. Kestenberg, Else Pappenheim, Lili Peller, Emma Plank, Fritz Redl, Emmy Sylvester, Richard und Editha Sterba.

Freuds Emigration - Tod im Exil

Ab 1936 verschärfte sich die Situation in Wien immer weiter. Der gescheiterte Februaraufstand im Februar 1934 hatte auf Seiten der Linken einen Prozess der Desillusionierung eingeleitet und die Emigrationswelle noch einmal ansteigen lassen. In Freuds Briefen schlichen sich starke Züge von Fatalismus ein: "Überflüssig, etwas über die allgemeine Weltlage zu sagen" schrieb er im April 1932 an seinen ungarischen Kollegen Ferenczi.[44] Der Gedanke an die eigene Emigration, welche ihm auch von besorgten Freunden nahegelegt wurde, tauchte vereinzelt auf, wurde jedoch gleich wieder verworfen. "Flucht, meine ich, wäre nur durch direkte Lebensgefahr gerechtfertigt", schrieb er im April 1933 an Ferenczi.[45] Freud wollte in Wien ausharren, solange es nur irgend ging. Die Rolle eines Flüchtlings, der vor den Nazis davonlief, erschien dem knapp 80-jährigen krebskranken Mann als keine hinnehmbare Lebensperspektive. Nach dem gescheiterten Februaraufstand 1934 schreibt er am 20.2.1934 an seinen Sohn Ernst Freud: "Entweder ein österreichischer Faschismus oder das Hakenkreuz. Im letzteren Falle müssen wir weg."[46] Die international beachteten Geburtstagsfeiern um den 6. Mai 1936 anlässlich Freuds 80. Geburtstages ermöglichen noch einmal eine kurze Ablenkung. Thomas Mann verliest persönlich in Freuds Berggasse Nr. 19 seinen Gratulationstext: "Freud und die Zukunft". Die international renommierte "Royal Society" in London ernennt ihn zu ihrem korrespondierenden Mitglied; unter den internationalen Presseberichten fiel insbesondere der der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf auf.


Foto: © Archiv S. Fischer Verlag

Zugleich leidet Freud jedoch zunehmend an den durch seine Krebserkrankung bedingten Schmerzen, hat Sterbensgedanken. Seine Briefe, auch die an Arnold Zweig, werden düsterer. Sein Angewiesensein an seine über alles geliebte Tochter Anna, welche ihn jahrelang versorgt hatte, nimmt weiter zu. Diese beschreibt in Briefen anschaulich die Panik unter Wiener Juden, durch die sie sich jedoch nicht anstecken lasse. Am 11.3.1938 notiert Freud, nach einem Ultimatum Hitlers, in seiner knappen Arbeitsnotiz "Finis Austriae", am 13.3.38 "Hitler in Wien".[47] Der Vorstand der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung empfiehlt seinen noch in Wien verbliebenen Mitgliedern die Emigration. Die Synagogen brennen, Juden werden auf der Straße misshandelt. Am 15.3.1938 wird Freuds Wohnung und sein Psychoanalytischer Verlag durchsucht, eine Woche später schließlich wird Anna Freud von der Gestapo verhaftet und zu einem Verhör vorgeladen - für Freud ein Schock. Die Ereignisse überschlagen sich: Nun vermag er die Asylangebote mehrerer Regierungen, u.a. der von Palästina, nicht mehr zu ignorieren. William Bullitt, amerikanischer Botschafter in Frankreich, der amerikanische Außenminister Cordell Hull, der amerikanische Generalkonsul in Wien sowie Freuds langjährige Freundin Prinzessin Marie Bonaparte setzen sich nachdrücklich für Freuds Ausreiseerlaubnis aus Wien ein.

Am 4. Juni 1938 sind alle Formalitäten erfüllt: Freud emigriert mit einem Teil seiner Familie über Frankreich nach London. Das Photo mit Anna und Sigmund Freud im Bahnabteil geht durch die Weltpresse. Sein letzter knapper Brief, noch in Wien, vom 4.6.1938, geht an Arnold Zweig: "Leaving today for 39, Elsworthy Road, London N. W. 3. Affect, greetings Freud." Zweig antwortet ihm am 18.6.38 u.a.: "Nun sind Sie in Sicherheit, weg von den Opfern einer jahrzehntelangen Rachsucht. (...) Ihr Archiv, Ihre Bücher, die Sammlungen sind gerettet."[48]

Freuds Beobachtungsgabe und Formulierungskunst ist ungebrochen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in London, am 6.6.1938, schreibt er an Eitingon in Jerusalem einen langen, persönlichen Brief: "Die Affektlage dieser Tage ist schwer zu fassen, kaum zu beschreiben. (...) Wir sind mit einem Schlag populär in London geworden."[49]

Und ein schon nahezu versöhnlicher Zug macht sich bemerkbar, fügt er diesem Brief an Eitingon doch die introspektive Selbstbeobachtung hinzu: "Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt." [50]

Auch in London setzt der 82-jährige sein wissenschaftliches Schreiben fort. Er schließt seinen "Moses" ab, beginnt im Juli 1938 mit seiner dichten Schrift "Abriß der Psychoanalyse".

Seine Krebserkrankung, an welcher er seit dem Jahre 1923 gelitten hatte, überwältigt Freud zunehmend. Im September 1938 wird er ein letztes Mal operiert; von diesem Eingriff wird er sich nicht wieder erholen. Ein Jahr später, im September 1939, vermag er die Schmerzen nicht mehr zu ertragen. Am 21. und 22. September verabreicht ihm sein Arzt mehrere Dosen Morphium, in den frühen Morgenstunden des 23. September 1939 stirbt der weise alte Mann im Londoner Exil.

Von dem Fürchterlichen, welches folgen sollte, erlebte Freud nichts mehr. Vier seiner Schwestern wurden in Theresienstatt sowie in Auschwitz ermordet.

Diese Studie ist zuvor, in einer etwas gekürzten Version, in der TRIBÜNE. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 44. Jahrgang, Nr. 177 (Heft 1/2006), S. 158-171 publiziert worden. Wir danken dem Tribüne-Verlag herzlich für die Nachdruckrechte.

[ENGLISH]

Anmerkungen:
[1] Peter Gay (1989): Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt/M. (Büchergilde Gutenberg), S. 673.
[2] Freud - Zweig, a.a.O., S. 169f.
[3] Sigmund Freud (1930): Das Unbehagen in der Kultur. GW, Bd. XIV, S. 506.
[4] Ernst Federn (1988): Die Emigration von Sigmund und Anna Freud. Eine Fallstudie. In: F. Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940. München Wien 1988, S. 248. Siehe vertiefend zu Ernst Federn: Roland Kaufhold (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen (Psychosozial-Verlag)  www.suesske.de/kaufhold-1.htm; www.hagalil.com/archiv/2007/08/federn.htm
[5] Vgl. Bernd Nitzschke (1996): Wir und der Tod. Essays über Sigmund Freuds Leben und Werk. Göttingen (Sammlung Vandenhoeck); Peter Schneider (1999): Sigmund Freud. München (dtv).
[6] Gay, a.a.O., S. 29.
[7] Gay a.a.O., S. 20
[8] Ernest Jones (1984): Sigmund Freud, Bd. 2, S. 139.
[9] Freud (1926), in: Nitzschke, a.a.O., S. 118; s. auch Gay, a.a.O, S. 671.
[10] Gay, a.a.O., S. 234.
[11] Siehe hierzu vertiefend: Susann Heenen-Wolff (1987): "Wenn ich Oberhuber hieße ... " Die Freudsche Psychoanalyse zwischen Assimilation und Antisemitismus. Frankfurt am Main (Nexus).
[12] Kaufhold (2001), S. 45, 268.
[13] Ludger M. Hermanns (1982): John F. Rittmeister und C. G. Jung. In: H.-M. Lohmann (Hg.) (1985):  Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas. Frankfurt/M. (Fischer TB), 137-145. Siehe auch die dort wiedergegebenen eindrücklichen Stellungnahmen von Thomas Mann (1935) sowie von Ernst Bloch zu Jung; letzterer bezeichnete Jung expressis verbis als "psychoanalytischen Faschisten".
[14] Gay a.a.O., S. 504 und S. 671.
[15] Roland Kaufhold (2003): Spurensuche zur Geschichte der die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, in: Luzifer-Amor, 16.  Jg., Heft 31, 2003, S. 37-69.
[16] Nitzschke a.a.O., S. 50.
[17] Ruth Kloocke (2002): Mosche Wulff. Zur Geschichte der Psychoanalyse in Rußland und Israel, Tübingen (edition diskord).
[18] Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchten wir nennen: Maria und Martin Bergmann, Bruno Bettelheim, Yael Danieli, Nathan Durst, Ernst Federn, M. Jucovy, Hans Keilson, Judith S. Kestenberg, Hillel Klein, R. Moses, Yehuda Nir, Martin Wangh und Zvi Lothane. Als Literatur möchten wir nennen: M. S. Bergman; Jucovy, M. E.; Kestenberg, J. S. (Hg.) (1982): Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt M. (Fischer).
[19] Roland Kaufhold (2008): Siegfried Bernfeld - Psychoanalytiker, Zionist, Pädagoge. Vor 55 Jahren starb Siegfried Bernfeld, in: TRIBÜNE, 47. Jg., Nr.  185 (H. 1/2008), S.178-188.
[20] Ernst L. Freud (Hg.) (1984): Sigmund Freud - Arnold Zweig: Briefwechsel. Frankfurt/M. (Fischer TB), S. 134f.
[21] Siehe vorhergehende Fußnote sowie: Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig: Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers, Frankfurt/M.; Wilhelm von Sternburg (1998): Um Deutschland geht es uns. Arnold Zweig. Die Biographie, Berlin (Aufbau).
[22] Sigmund Freud - Arnold Zweig: Briefwechsel, a.a.O., S. 49.
[23] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 54.
[24] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 56.
[25] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 66-68.
[26] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 70.
[27] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 76f.
[28] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 84.
[29] Siehe hierzu: Bernd Nitzschke (1996): "Freud, der Mann Moses und der Antisemitismus" sowie "Judenhaß als Modernitätshaß. Über Freuds Studie 'Der Mann Moses und die monotheistische Religion' (1937/39), beide in: Nitzschke (1996), a.a.O,, S. 40-53, S. 149-183.
[30] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 102.
[31] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 120.
[32] Gay a.a.O., S. 686.
[33] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 130f.
[34] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 132.
[35] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 142f.
[36] Sigmund Freud - Arnold Zweig, a.a.O., S. 163.
[37] Siehe Roland Kaufhold (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen (Psychosozial-Verlag)  www.suesske.de/kaufhold-1.htm; ders. (2003): Spurensuche zur Geschichte der die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, in: Luzifer-Amor: Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Hg. Thomas Aichhorn), 16. Jg., Heft 31 (1/2003), S. 37-69; Hans-Jürgen Wirth/Trin Haland-Wirth (2003): Emigration, Biographie und Psychoanalyse. Emigrierte PsychoanalytikerInnen in Amerika. In: Kaufhold et. al. (Hg.) (2003), "So können sie nicht leben" - Bruno Bettelheim (1903-1990), Zeitschrift für politische Psychologie Heft 1-3/2003, S. 91-120; Hans-Jürgen Wirth (2002): Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen, Gießen (Psychosozial-Verlag) www.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=1044&ojid...
[38] Kaufhold 2001, a.a.O.
[39] Siehe die Internetseite www.Edithbuxbaum.com
[40] Vgl. Kaufhold (2001), a.a.O., Fisher, D. J. (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim. Gießen (Psychosozial-Verlag).
www.suesske.de/buch_fisher.htm
[41] Roland Kaufhold (Hg.) (1999): Ernst Federn - Versuche zur Psychologie des Terrors. Gießen (Psychosozial-Verlag). http://www.suesske.de/kaufhold-2.htm
[42] Karl Fallend/Bernd Nitzschke (Hg.) (2002): Der "Fall" Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Gießen (Psychosozial-Verlag). http://www.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=147&ojid=03aa2b6b80c1dbbf0c5953b5a6ebd4b1
[43] Wagner, R. (2002): Psychoanalytische Pädagogik – ein Gespräch zwischen Roland Kaufhold und Rolf Wagner. In: "Fragen und Versuche" Nr. 100, Juli 2002 (Zeitschrift der Freinet-Pädagogen), Internet: http://www.text-galerie.de/kaufhold_wagner.htm.
[44] Gay, a.a.O., S. 660.
[45] Gay, a.a.O., S. 666.
[46] Gay, a.a.O., S. 668.
[47] Gay, a.a.O., S. 694.
[48] Freud - Zweig, a.a.O., S. 169f.
[49] Gay, a.a.O., S. 709f.
[50] Gay, a.a.O., S. 707.

haGalil.com 26-11-2008

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