Israel hat eine neue Regierung. Zugleich endet damit nach über zwölf Jahren die Ära Netanyahu. Wie lange die Monsterkoalition aus acht Parteien aber Bestand haben wird, das steht auf einem anderen Blatt…
Von Ralf Balke
Spannung bis zur letzten Minute. Auch den ganzen Mittwoch liefen die Verhandlungen über Israels neue Regierungskoalition weiter auf Hochtouren – schließlich ging es darum, acht Parteien unter einen Hut zu kriegen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Denn so viele sind nötig, um mindestens 61 Parlamentarier hinter sich zu wissen. Und wie zu erwarten rangen die zentristischen Parteien Yesh Atid und Blau Weiß, die rechten Gruppierungen Yamina, Tikva Hadasha und Israel Beitenu sowie die Arbeitspartei wie auch die Linkszionisten von Meretz und last but not least die Islamisten von Ra’am ausgiebig um Posten und Verantwortlichkeiten. Zuletzt stritten sich Ayelet Shaked von Yamina und Merav Michaeli von der Arbeitspartei darüber, wer von beiden in das wichtige Komitee zur Ernennung von Richtern darf. Und Ra’am pochte lange darauf, den nächsten stellvertretenden Innenminister stellen zu wollen. Andere Hürden dagegen waren schnell genommen. So gab Staatspräsident Reuven Rivlin bereits im Vorfeld seinen Segen für das ausgehandelte Rotationsverfahren zwischen Yair Lapid und Naftali Bennett – schließlich hatte er ja den Parteichef von Yesh Atid das Mandat erteilt, eine Regierung zu bilden und nicht dem Vorsitzenden von Yamina, der laut Koalitionsdeal nun aber als erster das Amt des Ministerpräsidenten antritt.
Wer in der kommenden Regierung die wichtigsten Ressorts erhält, ist ebenfalls bereits bekannt. Lapid übernimmt so lange das Außenministerium, bis er im September 2023 den Stab von Bennett weitergereicht bekommt und selbst Premier wird. Benny Gantz bleibt Verteidigungsminister, Avigdor Lieberman steigt zum Finanzminister auf und Gideon Sa’ar zum Justizminister. Das Innenministerium geht an Ayelet Shaked, die Nummer Zwei von Yamina, zuständig für Gesundheit soll wohl Nitzan Horovitz von Meretz werden. Und Arbeitspartei-Chefin Merav Michaeli wird Transportministerin. Bis zuletzt hatte Amtsinhaber Netanyahu versucht, einen Keil in die sich selbst „Wechsel-Koalition“ nennende Allianz zu treiben. Kurzzeitig schien er damit Erfolg gehabt zu haben. Während der elf Tage andauernden militärischen Auseinandersetzung mit der Hamas hatte Bennett erklärt, dass er die Koalitionsgespräche nun abbrechen würde, weshalb es fast so aussah, als ob Yamina wieder in das Pro-Bibi-Lager wechseln würde. Doch dort schien bereits Panik vorzuherrschen. Weil Netanyahu selbst mit Bennett an seiner Seite keine Mehrheit zustande bringen konnte, nahmen die Lockrufe des Amtsinhabers fast schon verzweifelte Züge an. Auch den Likud-Abtrünnigen Gideon Sa’ar wollte man plötzlich zurück an Bord holen. Und das sogar mit dem Angebot, das Amt des Ministerpräsidenten zwischen Netanyahu, Bennett und Sa’ar rotieren zu lassen.
Auch die Tatsache, dass Mansour Abbas aufgrund der Gewalt zwischen jüdischen und arabischen Israelis sowie des Konflikts mit der Hamas seine Zustimmung für eine Unterstützung der zu diesem Zeitpunkt noch sieben Parteien zählenden Koalition wieder entzog, ließ den Eindruck entstehen, dass Lapid bis zum Ablauf der Frist am Mittwoch um genau Null Uhr, die er hatte, um Rivlin eine Regierung zu präsentieren, ebenfalls keine Mehrheit zustande bringen kann. Aber der islamistische Zahnarzt überlegte es sich ein weiteres Mal und wollte jetzt nicht einfach nur derjenige sein, der Lapid die fehlenden Stimmen in der Knesset verschafft. Plötzlich ging es ihm darum, seine Ra’am mit in die Koalition bringen, und zwar als gleichberechtigter Partner, was die Sache nicht unbedingt einfacher machte. „Es ist schon eine ziemlich bizarre Situation“, bringt es Roni Rimon, ein erfahrener politischer Stratege, der 2009 Netanyahus Wahlkampf geleitet hatte, auf den Punkt. „Parteien von der äußersten Linken und solche von der äußersten Rechten tun sich zusammen, weil sie nur ein Ziel haben, und zwar Netanyahus Sturz.“
Der neue Ministerpräsident ist nun also ein 49 Jahre alter High Tech-Millionär, der politisch weit rechts von Netanyahu steht und über gerade einmal sieben Sitze in der Knesset verfügt. Ihm folgt dann in zwei Jahren ein ehemaliger TV-Moderator, dessen zentristische Partei ebenfalls auf nur 17 Sitze kommt. Und selbst so unterschiedliche Charaktere in der israelischen Politik wie Lieberman oder Horovitz stellen ihr Ego zurück – zumindest für eine Weile. Denn der Wunsch, den Amtsinhaber vom Sockel zu stoßen, war größer als die politischen Gräben. Zugleich möchte man sich so bei Netanyahu auch für die Schmähungen, gebrochenen Versprechen und Intrigen revanchieren, und zwar ganz nach dem Motto: Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt serviert. Denn egal ob Lapid, Bennett oder Lieberman, sie alle waren in den vergangenen zwölf Jahre einmal seine Mitstreiter und hatten in einem der Kabinette wichtige Ministerposten besetzt. Doch irgendwann einmal stieß ihnen Netanyahu gewaltig vor den Kopf.
„Der Likud-Chef hatte Verbündete immer mit Verachtung behandelt“, fasst Ovadia Yehezkel, ehemals Kabinettssekretär von Ehud Olmert, diese Haltung in einem Kommentar für das Nachrichtenportal Ynet zusammen. „Mit seinem Abgang als Ministerpräsident auf der nationalen Bühne werden alle diejenigen, die Netanyahu beleidigt hatte, sehr wahrscheinlich auch seinen Abgang von der Spitze der Partei fordern.“ Schließlich waren es vor allem Vertreter des rechten Lagers, die sich am Ende gegen ihn gestellt hatten. Lieberman, damals Verteidigungsminister, machte 2018 den Anfang. „Netanyahu erklärte damals, dass die Motive seines ehemaligen Verbündeten persönlicher und keinesfalls ideologischer Natur gewesen seien“, so Yeheskel. „Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht mal so falsch.“ Die letzten beiden, die am Ende das Weite suchten, sollten Bennett und Shaked sein. „Sie alle kennen die Netanyahus Geheimnisse. Schließlich waren sie an der Formulierung seiner Strategien beteiligt und kennen seine Motive bei wichtigen Fragen zur nationalen Sicherheit ebenso wie in dem kleinlichen politischen Hickhack des Alltags.“
Die Tatsache, dass sich in der Politik ab einem bestimmten Zeitpunkt alles nur noch um Netanyahu und seinem Drang drehte, an der Macht zu bleiben, und nicht mehr die zahlreichen wirklich wichtigen Probleme des Landes Thema waren, hat am Ende sogar zahlreiche Vertreter des nationalistischen Lagers gegen ihn aufgebracht. Auch ein Bibi-Comeback dürfte ausgeschlossen sein. Ein Gesetz, dass die Amtszeit eines Ministerpräsidenten auf acht Jahre beschränkt, sowie eine weiteres, dass es Personen, gegen die ein Verfahren läuft, unmöglich machen soll, diesen Job zu übernehmen, befinden sich in der Pipeline. Und auch im Likud gibt es bereits erste Stimmen, die ihren Anspruch anmelden, an Stelle von Netanyahu die Partei führen zu wollen. Der Noch-Gesundheitsminister Yuli Edelstein preschte bereits vor und meldete Ansprüche an.
Wer sich ebenfalls jetzt schon Gedanken über die Zukunft macht, sind die politischen Vertreter der Ultraorthodoxie. Die Vorsitzenden der Partei Vereintes Torah-Judentum und Shass beschworen Bennett, Shaked und Sa’ar zuerst, sich nicht auf den Koalitions-Deal mit den „Linken“ einzulassen, weil dieser „das Land Israel und die Torah gefährden“ würde. Als das Bloss-Nicht-Bibi-Lager dann aber trotz aller Widrigkeiten doch zusammenfand, wurden sie geradezu ungehalten. „Lapid Premierminister werden zu lassen und dabei zugleich die religiösen Werte und Traditionen Israels zu gefährden, ist ein eklatanter Mangel an nationaler Verantwortung“, tobte Noch-Wohnungsbauminister Yaacov Litzman von der Partei Vereintes Torah-Judentum, gegen den gerade ein Verfahren eingeleitet wurde, weil er Ermittlungen im Falle einer Schulleiterin, der mehrfacher sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen werden, behindert hatte. Weder Vereintes Torah-Judentum noch Shass werden in der neuen Regierung vertreten sein – auch das war schon viele Jahre nicht mehr der Fall.
Was die Ultraorthodoxen aber besonders wurmt, ist die Übernahme des Finanzministeriums durch Lieberman sowie die Besetzung des Vorsitzenden des Knesset-Finanzausschuss durch einen weiteren Israel Beitenu-Abgeordneten. Schon im Vorfeld hatte Lieberman angekündigt, Sozialleistungen für die Haredim zusammenzustreichen und Stipendien für die Yeshivot ebenso zu kürzen wie Gelder für Schulen, an denen keine weltlichen Kernfächer wie Mathematik oder Englisch unterrichtet werden. „Den großen Propagandisten von Hass gegen die Religion und die Rechten das Schatzamt und den Vorsitz im Finanzausschuss zu geben, ist eine Schande und eine existenzielle Bedrohung für die Welt der Torah“, so Litzman weiter.
Kurz vor Mitternacht um 23.35 Uhr jedenfalls konnte Lapid dem Staatspräsidenten Rivlin mitteilen, dass er eine Koalition auf die Beine stellen konnte. „Ich verspreche Ihnen, Herr Präsident, dass diese Regierung daran arbeiten wird, allen Bürgern Israels zu dienen. sie nicht unterstützen.“ Damit hat die „Wechsel-Koalition“ ihr eigentliches Ziel bereits erreicht, und zwar die Ära Netanyahu beendet. Doch schon am frühen Morgen schon war es vorbei mit der Harmonie. Denn eine der zentralen Forderungen von Ra’am ist ein Stopp der weiteren rechtlichen Gleichstellungen von Homosexuellen. Da wiederum will Meretz nicht mitmachen. Dieses ist nur der erste Streit, der quasi vorprogrammiert ist. Weitere werden garantiert folgen, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass die Acht-Parteien-Koalition die gesamte Legislaturperiode überstehen wird, ziemlich gering einzuschätzen ist.
Bild oben: Yair Lapid, Naftali Bennett und Mansour Abbas bei der Unterzeichnung des Koalitionsabkommens, Foto: Raam