Theo, wir fahr‘n nach Lodz

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1974 landete Vicky Leandros mit dem Schlager Theo, wir fahr‘ nach Lodz einen Hit. Kaum ein Hörer, ist anzunehmen, hat sich damals mit dem Hintergrund des Liedes näher beschäftigt. Auf dem Land regiert die Langeweile, das Leben mit all seinen Freuden spielt sich in der Stadt ab, eben in Lodz. Stadtluft macht frei, das wusste man bereits im Mittelalter, und so besingt es Vicky Leandros…

Heutzutage gibt es Wikipedia, und wer sich die Mühe macht, dort der Geschichte des Liedes nachzugehen, gerät ins Staunen:

„Im Jahre 1915 veröffentlichten die beiden Österreicher Fritz Löhner-Beda, ein Operettenlibrettist, und Artur Marcell Werau ihren Titel Rosa, wir fahr’n nach Lodz. Dabei handelte es sich um ein Soldatenlied („Marsch-Couplet“), denn deren „Rosa“ war der 30,5-cm-Mörser des Österreichisch-Ungarischen Heeres, der von der böhmischen Rüstungsfirma Skoda hergestellt wurde, das Gegenstück zu Krupps „dicker Bertha“ in Deutschland. Im österreichischen Originaltext ist Franzls schwere Braut nichts anderes als der Mörser „Rosa“, mit dem er bei Kriegsbeginn die Hochzeitsreise nach Lodz antritt. Das Lied war als persiflierender „Hymnus über unsere 30,5 ctm. Mörser, genannt Rosa“ gedacht.“

Der Link zu Fritz Löhner-Beda führt zu folgender Auskunft:
„Fritz Löhner, geboren als Bedřich [tschechisch für Friedrich] Löwy; auch Fritz Lohner, Pseudonym Beda, nannte sich mitunter Löhner-Beda (* 24. Juni 1883 in Wildenschwert, Böhmen; † 4. Dezember 1942 in KZ Auschwitz III Monowitz), war ein österreichischer Librettist, Schlagertexter und Schriftsteller. Viele seiner Werke sind noch heute ungleich bekannter als Löhner-Beda selbst.“

Löhner war ein außerordentlich erfolgreicher Schriftsteller, bekannt mit Franz Lehár und Hans Moser, dem er „zu seinem Durchbruch als Schauspieler in Wien, indem er für ihn auf seine Bitte hin den Solo-Einakter Ich bin der Hausmeister vom Siebenerhaus schrieb.“ Weiterhin erfährt man bei Wikipedia: „Am 23. September 1938 wurde er ins KZ Buchenwald deportiert. Dort verfasste er Ende 1938 den Text für das Buchenwaldlied, der gleichfalls verschleppte Komponist Hermann Leopoldi komponierte die Melodie dazu.“

All das war 1974 kaum bekannt – oder es hat niemanden interessiert.

Im Jahr 2007 erscheint im Wallstein-Verlag Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt.

Wir zitieren aus dem Klappentext: „Zwischen 1940 und 1944 pferchten die Nationalsozialisten im besetzten Lodz (später umbenannt in Litzmannstadt) nahezu 200.000 Juden auf etwas mehr als vier Quadratkilometern zusammen. Zu den erschütterndsten Dokumenten aus dem Getto Litzmannstadt gehört die so genannte Getto-Chronik. Dieser rund 2000-seitige Text wurde seit 1941 auf Polnisch und Deutsch im Archiv der Verwaltung des ‚Judenältesten von Litzmannstadt-Getto‘ erstellt.“ Walter Kempowski kommentierte die Herausgabe der Getto-Chronik mit den Worten „Wir dürfen nicht nachlassen in der Erforschung der deutschen Schuld.“

Vor wenigen Tagen erschien im Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein Beitrag mit dem Titel Florenz ist das nicht (Reise, S. 46, 4. Oktober 2020). Und auf der Folgeseite wird der Artikel mit der Überschrift Auf nach Łódź! fortgesetzt und zum Abschluss gebracht. Was gibt es über die drittgrößte polnische Stadt nach Ansicht von Susanne Romanowski, der Autorin des Beitrags, zu berichten? Zunächst dass sich der Name nicht wie im Lied von Vicky Leandros Lodsch, sondern eher wie Wutch ausspricht. Geschildert wird anschließend die Geschichte der Stadt als Zentrum der Textilindustrie.

Nicht erzählt und nicht erwähnt, mit keinem Wort und keiner Andeutung, wird die Geschichte der jüdischen Bevölkerung von Łódź, und auch über die Existenz des Gettos in den Jahren 1938 bis 1944 erfährt der Leser nichts. Ebenso wenig erwähnt wird der jüdische Friedhof: „Der Jüdische Friedhof zählt mit seinen etwa 0,4 km² zu den größten der Welt und ist der größte jüdische Friedhof Europas. Er wurde 1882 eröffnet, nachdem Izrael Poznański die Fläche erworben und dafür zur Verfügung gestellt hatte. Es befinden sich 160.000 bis 180.000 erhaltene Grabmale dort, wobei das Poznański-Mausoleum das größte ist. Auf einem Teil des Friedhofs sind etwa 43.000 Opfer des Ghettos Litzmannstadt beerdigt.“

Auf den Namen eines Vernichtungslagers lautet der Titel eines Gedichtes von Alfred Margul-Sperber:

Auf den Namen eines Vernichtungslagers

Daß es bei Weimar liegt, vergaß ich lang.
Ich weiß nur: man hat Menschen dort verbrannt.
Für mich hat dieser Ort besondern Klang,
Denn meine Heimat heißt: das Buchenland.

Entrücktes Leben, unvertgeßner Tag:
Der Buchenwald – ich weiß es noch genau,
Wie ich als Bub in seiner Lichtung lag
Und eine weiße Wolke schwamm im Blau …

O Schmach der Zeit, die meinen Traum zerstört!
Erinnern, so verhext in ihrem Bann,
Daß, wenn mein Ohr jetzt diesen Namen hört,
Ich nicht mehr an die Kindheit denken kann,

Weil sich ein Alpdruck in mein Träumen schleicht,
Ein Schreckgedanke, jeden Sinnes bar:
Ob jene weiße Wolke dort vielleicht
Nicht auch der Rauch verbrannter Menschen war ? –

„Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“ So Ludwig Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Die polnische Stadt Łódź hat sicherlich viele Facetten, und es gibt sicherlich viele Gründe, sie zu besuchen. Wer über diese Stadt berichtet, sollte nicht verschweigen, was sich dort zwischen 1938 und 1944 im Getto abgespielt hat, denn was geschehen ist, lässt sich klar sagen und sollte nicht verschwiegen werden.

Bild oben: Ghetto Litzmannstadt.- Deportation von Juden ins Ghetto, Bundesarchiv, Bild 137-051639A / CC-BY-SA 3.0