Ein Jahr nach dem rechtsextremen Terroranschlag in Halle

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Diskrepanz zwischen Wahrnehmung der jüdischen Community und der Mehrheitsgesellschaft bleibt deutlich…

Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.

Am 9. Oktober 2019 versuchte ein rechtsextremer Täter, in die Synagoge von Halle (Saale) einzudringen, schoss auf die Holztür und warf Sprengsätze über die Mauer aufs Innengelände. Sein Ziel war es, möglichst viele Jüdinnen_Juden zu ermorden – seine Tat begründete er mit antisemitischen Verschwörungsmythen, wonach Jüdinnen_Juden für die Emanzipation der Frau, den Niedergang der Geburtenrate sowie für eine vermeintliche Masseneinwanderung verantwortlich seien. Den Livestream seiner Tat begann er mit einer Schoaleugnung.

Der Versuch des Massakers in der Synagoge scheiterte – der Täter mordete trotzdem. Aus einem misogynen Motiv erschoss er Jana Lange direkt vor der Synagoge und später aus einem rassistischen Motiv Kevin Schwarze im Imbiss „Kiez-Döner“. Auf seiner Flucht verletzte er gezielt weitere Menschen, teils ebenso aus rassistischen Gründen. Es sind alles Opfer und Betroffene eines im Grundmotiv antisemitischen Anschlags.

In den Reaktionen auf den Anschlag wurde eine deutliche Diskrepanz zwischen den Wahrnehmungen der jüdischen Community und denjenigen der Mehrheitsgesellschaft sichtbar. Dass ein solcher Anschlag möglich sei, überraschte Politik und Polizei, was viele Betroffene von Antisemitismus als Hohn empfanden. In vielen Städten ist gerade die Gefahr eines solchen Anschlags ein Grund für die Maßnahmen zum Schutz jüdischer Einrichtungen wie Sicherheitsschleusen und polizeilicher Objektschutz – ein trauriger Zustand, der für die meisten Jüdinnen_Juden in Deutschland selbstverständlich ist. Trotz dieser Schutzvorkehrungen dokumentierte der Bundesverband RIAS e.V. 61 antisemitische Vorfälle in und um Synagogen seit 2017. Unterdessen äußerten viele nichtjüdische Menschen in den sozialen Netzwerken und anderswo, dass sie diese Schutzvorkehrungen für übertrieben halten und sich mehr Öffnung von den jüdischen Gemeinden wünschen würden. Über den Alltag jüdischer Gemeinschaften demonstrierte die Mehrheitsgesellschaft so eine bedenkliche Unwissenheit.

Dies bildet auch den Hintergrund für die häufig entpolitisierende mediale Berichterstattung über den Anschlag als Handlung eines Einzeltäters oder eines „geistig verwirrten“ Menschen. Eine solche Betrachtung wird jedoch der Verantwortung der Politik und der Mehrheitsgesellschaft keinesfalls gerecht und ist zudem auch sachlich irreführend: Der Attentäter handelte geplant und vorbereitet, er hatte Vorbilder und ein Publikum. In Zeiten der Internetkommunikation ist das Bild eines Einzeltäters nicht zeitgemäß. Schlimmer noch: Es trägt zu einer Verharmlosung der todbringenden Gefahr, die von Rechtsextremen und Antisemit_innen ausgeht bei und täuscht darüber hinweg, dass der Anschlag von Halle einer von insgesamt sechs Fällen von extremer antisemitischer Gewalt seit 2018 war. Das Sicherheitsgefühl gesellschaftlicher Minderheiten in Deutschland wird so nicht durch die Anschläge selbst, sondern auch durch die gesellschaftliche Reaktion dauerhaft verschlechtert.

Die Diskrepanz zwischen jüdischen Perspektiven und der Mehrheitsgesellschaft wird auch in den Medienbeiträgen über die Tür zum Innengelände der Synagoge deutlich. Zu häufig unerwähnt bleibt indes, dass die Gemeinde infolge der prekären staatlichen Zuwendung für Sicherheitsmaßnahmen auf Fördermittel der „Jewish Agency for Israel“ zurückgreifen musste, um die Verstärkung des Eingangsbereichs zu finanzieren – ebenso, dass der Täter Sprengsätze über die Mauer warf und so trotz der verstärkten Tür Menschen hätte ermorden können.

Nach etwa sechs Monaten war das Attentat von Halle kaum noch im Fokus der öffentlichen Diskussion und erhielt erst mit dem Beginn des Prozesses in Magdeburg wieder kurzzeitig mediale Aufmerksamkeit – wobei die Nebenkläger_innen die Berichterstattung als zum Teil sehr unsensibel beschrieben. Zudem äußerten sie im Rahmen des Prozesses umfassende Kritik am Verhalten der Sicherheitsbehörden am und vor dem Tattag. Zur Sprache kam, dass das Innenministerium keine Kosten für Sicherheitsmaßnahmen übernehmen wollte, sowie, dass die Polizei keinen Bedarf für zusätzliche Vorkehrungen sah und nicht darüber informiert war, dass am Tattag Jom Kippur-Gottesdienste stattfanden. Ebenso angesprochen wurde das sehr späte Eingreifen der Beamt_innen am Tattag und die fehlende Rücksicht gegenüber den Bedürfnissen der Betroffenen.

Kurz nach dem Anschlag forderte der Bundesverband RIAS e.V. tiefgreifende Konsequenzen bei Sicherheitsbehörden, Medien und Politik, insbesondere eine umfassende Auseinandersetzung mit allen aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus und Bedürfnissen den Betroffenen. Mehrere Vorfälle in diesem Jahr lassen anzweifeln, dass seitdem ein Problembewusstsein bei den Polizeibehörden entstanden ist. Dass der Innenminister von Sachsen-Anhalt Holger Stahlknecht vor wenigen Tagen in Dessau die notwendigen Arbeitsstunden für den polizeilichen Schutz jüdischer Gemeinden anführt, um die polizeiliche Unpünktlichkeit bei anderen Belangen zu rechtfertigen, lässt schon sehr tief blicken. Ein Jahr nach dem Anschlag an Jom Kippur zeigt sich hier trauriger Weise zweierlei: Der Innenminister ist seiner besonderen Verantwortung, für den adäquaten Schutz jüdischer Hallenser, Dessauer und Magdeburger Sorge zu tragen und diesen den Medien und der Bevölkerung verständlich zu machen, nicht gewachsen. Darüber hinaus leistet er sogar den gesellschaftlich weit verbreiteten antisemitischen Ressentiments von einer vermeintlichen Sonderbehandlung der Jüdinnen und Juden noch Vorschub.

Die Herausforderung für die gesamte Gesellschaft in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren bleibt enorm. Heute sind unsere Gedanken jedoch bei den Angehörigen von Jana Lange und Kevin Schwarze sowie den Überlebenden und Betroffenen des Anschlags.

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