Die Juden im Landkreis Freising

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Die biologische Uhr tickt unerbittlich; bald werden die letzten Shoa-Überlebenden des NS-Regimes kein Zeugnis mehr ablegen können. Glücklicherweise sind viele ihrer Erlebnisse und Erfahrungen rechtzeitig archiviert worden und werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Freisinger Stadtrat und Politikwissenschaftler Guido Hoyer hat in jahrelanger mühsamer Kleinarbeit die jüdische Geschichte seiner Heimatregion erforscht ­– von 1871 bis in die 1950er-Jahre… 

Obwohl bereits im Mittelalter die Existenz jüdischer Einwohner in Freising nachweisbar ist, konnten in der Stadt über Hunderte von Jahren Juden keinen Fuß fassen. Grund war die rigoros antijüdische Politik der Wittelsbacher, die den Juden das Niederlassungsrecht in Altbayern verwehrte. Erst mit dem Übergang zum modernen Bayern im 19. Jahrhundert siedelten sich einige jüdische Kaufleute sowie Vieh- und Hopfenhändler im Landkreis und den Städten Moosburg und Freising an. Zur Gründung einer deutsch-jüdischen Religionsgemeinschaft kam es jedoch nie. Dennoch lebten und arbeiteten rund 70 Jahre im Landkreis einige deutsch-jüdische Familien, die zum wirtschaftlichen Wohle beitrugen und sich damit gesellschaftliche Anerkennung erwarben. Eine Erfolgsgeschichte, die mit der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten ein jähes Ende fand.

Guido Hoyer zeichnet die Lebenswege dieser ausgegrenzten und ermordeten Menschen nach – die ab 1933 mit Enteignung und Verfolgung konfrontiert waren und deren Leben in den Vernichtungslagern ausgelöscht wurden. Dazu besuchte der Autor zahlreiche Archive, wo er Meldebücher, Restitutionsakten, Testimonies und andere Dokumente auswertete. Denn auf eine umfassende Publikation über die Opfer der Shoa im Landkreis Freising konnte er nicht zurückgreifen – sie existierte bis dato nicht und wird nun endlich vorgelegt. Gleichzeitig wird forschungsgeschichtliches Neuland mit der Einbeziehung der Biografien über die im NS-Jargon als „jüdische Mischlinge“ bezeichneten Menschen betreten. Zudem erzählt Hoyer die bislang im öffentlichen Bewusstsein kaum verankerte Geschichte der jüdischen Nachkriegsgemeinden, die zwischen 1945 und 1950 in Freising, Nandlstadt, Franzheim und Moosburg, von zumeist osteuropäischen Juden, Überlebende der Todesmärsche und Lager, gegründet worden waren. Diese DP-Communities, die Abkürzung DP steht für Displaced Persons, entwurzelte und verschleppte Menschen, waren temporäre Gemeinschaften, die nur so lange bestanden, bis im Mai 1948 der Staat Israel proklamiert wurde und die klassischen Emigrationsländer zum Ende der Dekade ihre Einwanderungsbestimmungen liberalisierten. Eine Zukunft im Land der Täter war für die Shoa-Überlebenden unvorstellbar.

Hoyers Biografien über die Mitglieder dieser „Gemeinschaften auf Zeit“ sind eine hervorragende Ergänzung der bislang bekannten und veröffentlichten Informationen. Seit vielen Jahren bietet nämlich das Nürnberger Institut in seinem Internetlexikon https://www.after-the-shoah.org grundlegende Fakten und Zahlen zu den Communities Nandlstadt, Freising, Moosburg sowie zum DP-Kibbuz „La Atid“ in Franzheim. Auf diese Informationen hat Hoyer auch oft zurückgegriffen. Warum er sich dann aber rühmt, „erstmals der Öffentlichkeit“ vorgelegt zu haben, „was über diese jüdischen Gemeinden im Landkreis bekannt ist, die von Überlebenden“ gegründet worden waren, bleibt daher rätselhaft.

Trotz dieses kleinen Wermutstropfens ist das Buch eine wichtige und quellengesättigte Forschungsarbeit, die auf umfangreichen akribischen Recherchen beruht und ein lang verdrängtes Kapitel der örtlichen Heimatgeschichte dem Vergessen entreißt. – (jgt)

Guido Hoyer, Verfemt – Verfolgt – Vernichtet. Die Juden im Landkreis Freising unter dem NS-Terror, München 2020, ISBN 978-3-86222-338-1, 192 Seiten, 19,90 €, Bestellen?