Mit Iman Khatib-Yassin zieht die erste Hijab-tragende Frau in die Knesset ein. Zugleich verkörpert sie das Problem der bei den Wahlen am 2. März so erfolgreichen Vereinten Arabischen Liste. Denn Israels drittstärkste politische Gruppierung ist viel zu heterogen, um langfristig Bestand zu haben…
Von Ralf Balke
Die Wahlen zur 23. Knesset kennen einen klaren Sieger. Aber er heißt weder Benjamin Netanyahu, noch Benny Gantz. Denn zwischen Amtsinhaber und Herausforderer bleibt die Patt-Situation, die Israels politisches Leben seit bald einem Jahr lähmt, erst einmal weiter bestehen. Vielmehr ist es die Vereinte Arabische Liste, die ihre Position als drittstärkste Kraft nicht nur behaupten, sondern auch noch ausbauen konnte. Statt zuvor mit dreizehn wird die politische Vertretung der arabischen Israelis mit nunmehr fünfzehn Abgeordneten in der nächsten Knesset vertreten sein.
Gründe für diesen Erfolg gibt es einige. Da ist zum einen der neue amerikanische Friedensplan für den Nahen Osten, wodurch israelisches Staatsgebiet mit einem hohen arabischen Bevölkerungsanteil einem zukünftigen palästinensischen Gemeinwesen zugeschlagen werden könnte, was die wenigsten der arabischen Israelis in den betroffenen Ortschaften begeistert. Zum anderen sorgten die araberfeindliche Rhetorik Netanjahus sowie die zögerliche Haltung von Gantz, die Vereinte Arabische Liste als potenziellen Partner zu akzeptieren, für reichlich Unmut, was die Wahlbeteiligung unter Israels Arabern auf rekordverdächtige 64,7 Prozent ansteigen ließ. Last but not least ist da noch die Welle der Gewalt und Mordtaten, die die arabische Gesellschaft in Israel zunehmend erschüttern – all das schlägt sich nun in dem Ergebnis nieder.
Zugleich gab es eine Premiere: Auf Platz 15 konnte mit Iman Khatib-Yassin die erste arabische Frau einen Sitz in der Geschichte der Knesset erobern, die einen Hijab trägt. Die 55-Jährige aus Yafa an-Naseriyye nahe Nazareth kann auf einen Bachelor der Universität Haifa im Fach Sozialarbeit, einen Abschluss des privaten Mandel College of Leadership sowie einen Master im Bereich Sozialarbeit mit Frauen der Universität Tel Aviv verweisen. Als Sozialarbeiterin managte sie zudem in ihrem Heimatort ein kommunales Zentrum. Das erste Mal stand sie im Frühjahr 2019 auf der Kandidatenliste von Ra’am-Balad, einem Listenbündnis zweier nationalistischer arabischer Gruppierungen, die dem politischen Islam nahestehen. Zur Erinnerung: 2015 ist die Vereinte Arabische Liste als gemeinsame Plattform der vier arabischen Parteien Hadash, Balad sowie Ta’al und Ra’am in den Wahlen an den Start gegangen und hatte aus dem Stand heraus dreizehn Sitze in der Knesset erobert. Im Frühjahr 2019 ging man in Form zweier kleinerer Parteienbündnisse wieder getrennter Wege, was bei den Wählern bei dem Urnengang vom 9. April gar nicht so gut ankam, weshalb im Sommer 2019 eine Neuauflage dieser Vier-Parteien-Konstellation beschlossen wurde.
„Es scheint wohl unmöglich, dass der Hijab keine Aufmerksamkeit erregt“, erklärte Iman Khatib-Yassin, als sie nach der Wahl in Nazareth die Glückwünsche ihrer Anhänger entgegennahm. „Viel wichtiger ist jedoch zu zeigen, was in dem Menschen steckt, der ihn trägt: die Fähigkeit und das Potenzial, etwas in unserer Gemeinschaft voranzubringen.“ Khatib sagte ferner, dass sie das Gefühl habe, ihr Hijab triggere in Israel vorhandene islamfeindliche Ressentiments. „Jede Herausforderung, mit der ich mich in meinem Leben konfrontiert sah, wurde durch das Tragen des Hijabs weiter erschwert“, beklagt die frisch gebackene Abgeordnete. Sie forderte die Israelis dazu auf, „über den Schleier hinaus zu schauen“ und die Person dahinter zu erkennen. Iman Khatib-Yassin geht dabei nach einem Strategiemuster vor, wie es bei Vertretern des politischen Islams häufig zu beobachten ist: Sich selbst erst einmal als Opfer zu inszenieren, obwohl bis dato die Tatsache, dass sie die erste Hijab-tragende Frau in der Knesset sein wird, von den Medien in Israel weitestgehend neutral bis positiv zur Kenntnis genommen wurde. Auf diese Art und Weise imprägnieren sich ihre Akteure immer wieder vor Kritik, unabhängig davon, ob sie berechtigt ist oder nicht.
Denn Iman Khatib-Yassin ist via Ra’am in die Knesset eingezogen. Und diese Partei hat es in sich. Sie steht dem sogenannten südlichen Flügel der Islamischen Bewegung in Israel nahe oder ist mit ihr personell sogar eng verflochten. Im Unterschied zu dem nördlichen Ableger dieser Vertreter eines politischen Islams, die beide ihre Wurzeln in der Muslimbruderschaft haben, versteht sich der Südflügel als ihr legalistischer Arm. Zu dem Bruch kam es bereits Anfang der 1990er Jahre – Gründe dafür waren die unterschiedlichen Haltungen zu dem damals einsetzenden Friedensprozess von Oslo und der Streit um die Frage, ob man sich an den Wahlen zur Knesset beteiligen sollte oder nicht. Der nördliche Flügel unter Führung von Scheich Raed Salah vertrat eine radikalere Position und lehnte jede Form einer engeren Zusammenarbeit mit den israelischen Institutionen ab. Ihre unter dem Namen „Humanitäres Hilfskomitee“ firmierende Wohltätigkeitsorganisation stand zudem im Ruf, Unterstützung für die Hamas zu mobilisieren, ebenso ihre Leitfigur Scheich Raed Salah, der beispielsweise 2010 auf der Mavi Marmara mitfuhr. Er wurde bereits mehrfach verhaftet und stand unter anderem wegen Anstachelung zum Rassenhass, Verbreitung der antisemitischen Ritualmordlegende sowie Aufrufen zum Terror vor Gericht.
Der Radikalismus von Salah & Co. wiederum kam dem pragmatischer agierenden Südflügel zugute. Dank ihres Netzwerk sozialer Einrichtungen, die typisch für die missionarischen Da’wa-Aktivitäten der Muslimbruderschaft sind, konnte dieser vielerorts vor allem unter der jüngeren Generation arabischer Israelis punkten. Doch nicht immer sind diese Trennlinien zwischen beiden Fraktionen eindeutig. Zudem können sich die „moderateren“ Islamisten nun der Instrumente des Staates bedienen, um ihr Leitbild von einer Gesellschaft, die auf der Schariah basiert, effizienter zu propagieren. Denn das langfristige Ziel ist und bleibt die Islamisierung des arabischen Sektors der israelischen Bevölkerung. Und genau da kommen Personen wie Iman Khatib-Yassin ins Spiel, die laut eines Videos auf der Facebook-Seite der Vereinten Arabischen Liste „vor allem die Stimme der Frauen“ und aller anderen marginalisierten Gruppen sein will. Zugleich nennt sie darin die Proteste vom 30. März 1976 als auslösenden Moment für ihre politischen Aktivitäten. Damals hatten israelische Sicherheitskräfte sechs arabische Israelis bei Demonstrationen gegen die Pläne zur Landenteignungen in Galiläa erschossen – bis heute ist dieses Datum als „Tag des Boden“ daher ein wichtiger jährlicher Gedenktag. „All das geschah vor meinen Augen“, so Iman Khateb-Yassin in dem Video weiter. „Und einer der Märtyrer, der während des >Tag des Bodens< getötet wurde, war mein Cousin. Das war meine erste politische Erinnerung, die mich bis heute stark geprägt hat.“
Politikerinnen wie Iman Khatib-Yassin stehen nur auf dem ersten Blick für eine positive Diversität des politischen Personals der Vereinten Arabischen Liste. Zugleich ist diese nämlich auch ihr zentrales Problem. Denn ob eloquente und säkulare Personen wie Parteichef Ayman Odeh, der aus der sozialistisch-kommunistischen Hadash stammt, mit stramm antizionistischen Politikern vom Schlage eines Ahmad Tibi von der arabisch-nationalistischen Ta’al oder Islamisten wie Walid Taha von Ra’am langfristig konfliktfrei zusammenarbeiten kann, lässt sich durchaus bezweifeln. Sehr wahrscheinlich dürfte eine Iman Khatib-Yassin ebenfalls völlig andere Vorstellungen von der Gleichberechtigung haben als die christliche Frauenrechtlerin Aida Touma-Suleiman von Hadash. Zu heterogen ist also die Agenda der einzelnen Gruppierungen und ihrer Akteure innerhalb der Vereinten Arabischen Liste, als dass man sich nicht bald wieder im Streit trennen könnte – warum auch sollte man sich anders verhalten als die zahlreichen kurzlebigen Parteienbündnisse der jüdischen Israelis?
Dabei hätte die Partei gute Karten, das demografische Gewicht der arabischen Israelis stärker in die politische Waagschale zu bringen, wenn sie sich endgültig von ihrem traditionellen Antizionismus und der jahrzehntelang kultivierten Verweigerungshaltung verabschieden würde. Auch haben so kontroverse No-Go-Figuren wie Haneen Zoabi der aktiven Parteipolitik Lebewohl gesagt, was eine Zusammenarbeit mit anderen Gruppierungen durchaus erleichtern könnte. Zudem gelingt es der Vereinten Arabischen Liste zunehmend, sogar für jüdische Israelis eine Alternative zu sein – immerhin waren rund zehn Prozent ihrer Wähler am 2. März keine Araber. Wer so etwas wie das soziale Gewissen in der israelischen Parteienlandschaft sucht und sich enttäuscht von Meretz oder der Arbeiterpartei verabschiedet hat, für den könnte die Vereinte Arabische Liste also durchaus interessant sein, wenn sie denn etwas mehr Pragmatismus und Kooperationsbereitschaft an den Tag legen würde.
Ansätze dazu sind durchaus zu erkennen. „Am Wahltag dachten wir noch, dass unsere Unterstützung für einen Kandidaten auf das Amt des Ministerpräsidenten irrelevant ist, weil es aussah, als ob Netanyahus rechter Block 60 Sitze in der Knesset erhalten würde,“ hieß es am Sonntag in einem Statement der Partei, nachdem ihre Führung zu Beratungen darüber zusammengetroffen war, ob man nun gegenüber Staatspräsident Reuven Rivlin eine Empfehlung aussprechen soll, Netanyahu-Herausforderer Benny Gantz mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. „Jetzt aber ist das Bild viel komplexer. Der Ball liegt nicht mehr bei uns, sondern bei Blau-Weiß.“ Einzelne Vertreter der Vereinten Arabischen Liste wie Mtanes Shehadeh von Balad sind dagegen, andere unentschieden – schließlich säßen sie dann in einem Boot mit Avigdor Lieberman von der nationalistischen Israel-Beitenu-Partei, der nicht gerade als Freund der israelischen Araber bekannt ist. Wohl aber will man die Gesetzesinitiative unterstützen, die die Wahl eine Ministerpräsidenten, gegen den ein Gerichtsverfahren läuft, unmöglich machen soll und damit eine erneute Amtszeit von Netanyahu verhindern könnte – wenn es also darum geht, Netanyahu für seine zahlreichen Diffamierungen der arabischen Israelis einen Denkzettel zu verpassen, dann haben die Politiker der Vereinten Arabischen Liste keine Hemmungen, mit Gantz und Lieberman gemeinsame Sache zu machen. Und um die Sache endgültig absurd klingen zu lassen, berichten Fraktionsmitglieder der Vereinten Arabischen Liste plötzlich von Annäherungsversuchen seitens des Likuds. Offensichtlich wollte man wissen, was der Preis dafür wäre, wenn die Araber bei dieser Gesetzesinitiative nicht mitspielen würden. Unabhängig davon, ob diese Gerüchte stimmen oder nicht: Fakt ist, dass die arabischen Israelis derzeit eine größere Rolle in der Politik spielen als jemals zuvor. Jetzt müssen sie nur lernen, auch Verantwortung zu übernehmen.
Bild oben: Logo der Vereinten Arabischen Liste, www.jointlist.org.il