„Kein gutes Datum“

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Im Leben meiner Mutter waren Trauma, Mut und Lebensfreude eng ineinander verwoben…

Von Anita Haviv-Horiner

Ich brauchte die Ruhe der jüdischen Feiertage um diese Zeilen, die mir schon so lange auf der Feder liegen, zu schreiben. Und noch nie habe ich so schweren Herzens einen Text verfasst.

Genau ein Jahr ist es her, dass meine Mutter Julianna Kiss gestorben ist. In gewisser Weise hat sie sich davon gestohlen. Davon gestohlen vor mir. Sie wusste, dass ich nicht wahrhaben wollte, dass ihr Leben seinem Ende zuneigte. „Jeder muss einmal gehen.“ Wie oft habe ich diesen Satz von ihr vernommen und doch nicht gehört.

In der Zeit seit ihrem Tod sind viele Erinnerungen an sie und  unsere gemeinsame Zeit zurückgekommen.

Juli ist 1936 in Budapest geboren. “Kein gutes Datum“, stellte sie oft fest. In der Tat gab es wenig Anlass zu Freude, in dieser Zeit als  jüdisches Kind in Ungarn aufzuwachsen. Die ersten Jahre hatte sie eine schöne Kindheit. Ihre Eltern führten eine harmonische Ehe, vergötterten ihre einzige Tochter und verwöhnten sie nach Strich und Faden. Ihr Vater, Ernö Propper,  war – bis zu seiner Zwangsentlassung –  Buchhalter in einem angesehenen Verlag.

Doch bald zeichnete sich die Katastrophe ab.

Mit Ungarns Eintritt in den Krieg gegen die Sowjetunion 1941 wurden etwa 18.000  aus ihren Herkunftsländern geflüchtete Juden mit polnischer und sowjetische Staatsbürgerschaft  an die Deutschen ausgeliefert, in die Ukraine deportiert und in Kamenec-Podolsk massakriert. Darunter waren die Eltern meiner Oma Beer Izrael Leip und  Grünmandel Janka sowie drei ihrer Geschwister Margit, Tibo und Pál. Meine Großmutter und ihre ältere Schwester Olga blieben zu diesem Zeitpunkt verschont, weil sie durch ihre Ehemänner die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten hatten.

Klárika – unsere geliebte Matriarchin – erzählte mir als Kind, wie schrecklich die Deportation ihrer Angehörigen für sie gewesen war. Von da an hatte sie keine ruhige Nacht mehr.

Das war nur der Anfang.1944 kam der Rest der Familie dran.

Olga wurde nach Auschwitz deportiert und nach der Befreiung von sowjetischen Soldaten vergewaltigt.

Mein Opa wurde in ein ungarisches Arbeitslager verschleppt. Von dort schrieb er seiner Frau und seiner Tochter herzzerreißende Briefe. Zu Kriegsende wurde er bei einem Fluchtversuch erschossen.

Juli verbrachte den Krieg mit ihrer Mutter im Ghetto von Budapest. Sie waren in einem Kinderhaus untergebracht, in dem meine Großmutter den Job einer Köchin ergattert hatte.

Dennoch schwächten Hunger und Entbehrungen das achtjährige Kind dermaßen, dass sie sich nur im Rollstuhl fortbewegen konnte.

“Wir waren viele Kinder in einem Zimmer und wir wussten nicht immer, welches lebte und welches  tot war”, beschrieb sie immer öfter die Schreckensbilder aus dem Ghetto.

Man befürchtete, dass sie zeitlebens gelähmt bleiben würde. Doch ihre Mutter gab nicht auf, sie fand nach Kriegsende  einen Arzt, der Juli wieder auf die Beine stellte.

Er war einer der ersten Menschen, der meiner Mutter  in einer ausweglos scheinenden Situation half. Sie war ihm und Anderen zeitlebens dankbar. “Wenn Du glaubst, es geht nicht weiter, kommt plötzlich jemand und hilft dir,” lautete eines ihrer zahlreichen Mantras.

Das gelähmte traurige Mädchen mit den blonden Zöpfen wuchs zu einer attraktiven und lebenshungrigen jungen Frau auf.

Sie hatte eine schöne Stimme, doch den Traum einer Ausbildung als Opernsängerin konnte sie sich nie erfüllen.

1956 flüchtete sie vor der kommunistischen Diktatur nach Wien. In ihrem dürftigen Gepäck trug sie eine Puppe, das letzte Geschenk ihres Vaters. 

Wien nahm die 20 jährige mit offenen Armen auf. Auch das  hat Juli nie vergessen. Noch wenige Tage vor ihrem Tod erzählte sie mir von dem Hotelportier, der ihr abends Geld in einem Kuvert durch die Türe schob, damit sie das Zimmer bezahlen konnte.

Allerdings ist ihr Antisemitismus im Alltag auch oft begegnet. Manchmal sah sie sich gezwungen Kompromisse zu machen. So  wies sie mich in meiner Jugend an, den Davidstern an der Kette im Geschäft nicht offen zu tragen. Doch mit zunehmendem Alter  gewann die bewusste Jüdin in ihr die Oberhand. Oft habe ich sie erlebt, wie sie kämpferisch zu ihrer Herkunft gestanden ist – auch und gerade wenn – es sie die eine oder andere Kundschaft kostete.

Bald nach ihrer Ankunft in Österreich lernte sie meinen zehn Jahre älteren Vater Miki Horiner kennen. Auch er war  ein traumatisierter Holocaustüberlebender, der wenige Jahre zuvor nach der Inhaftierung in Ausschwitz und anschließender Zwangsarbeit in Mauthausen befreit worden war.

Er stammte aus einer orthodoxen Familie, wenn er auch selbst nicht mehr fromm war.

Doch sein älterer Bruder und dessen Familie lebten nach den Gesetzen der jüdischen Religion. Daher war es klar, dass die Ehe meiner Eltern vor einem Rabbiner geschlossen werden musste. Juli hatte aber keinen jüdischen Namen. So kann es, dass sie erst als Braut einen solchen erhielt: Leah nach ihrer ermordeten Schwiegermutter.

Bedingt  durch die familiäre Bande führten meine Eltern zunächst einen koscheren Haushalt und hielten sich an die Feiertage. Für Juli waren religiöse Rituale stets ungeliebtes Neuland und Quelle von Ärger. Das hinderte sie allerdings nicht daran, an Gott zu glauben. Er war für sie eine Art unsichtbares Familienmitglied, an welches sie sich in Zeiten der Not hilfesuchend wenden konnte.

Vier Jahre nach ihrer Ankunft in Österreich brachte sie mich zur Welt. Sie liebte mich abgöttisch, doch war sie nicht reif für die Mutterrolle. Die Erfahrungen der Vergangenheit hatten ihre Seele zu tief verletzt. Zeitlebens spürte ich in ihr das traumatisierte  Mädchen, das  nie aufgehört hat, um ihren ermordeten Vater zu trauern. Das angsterfüllte Kind steckte in der erwachsenen Frau, doch konnten es Viele nicht sehen. Sie hörten nur ihr mitreißendes Lachen, ließen sich durch ihre Schönheit und ihre Lebenslust täuschen.

Meine Eltern überschütteten mich mit Liebe, doch konnten sie einander und auch mir nicht Stabilität geben. Woher auch? Die zerrüttete Ehe wurde nach 14 Jahren geschieden.

Nach der Trennung schlug meine Mutter sich vorbildlich durch. Sie eröffnete ein kleines Textilgeschäft und nach mehreren Jahren übernahm sie ein etabliertes Lederwarengeschäft in der gutbürgerlichen Josefstädterstraße. Dort schaltete und waltete sie über 40 Jahre. 

Sie war stolz darauf, Schauspieler und Politiker zu ihrem Kundenkreis zu zählen. „Frau Christen“, wie man sie dort nach der Firma nannte, beriet die Menschen und “führte Schmäh“ mit ihnen. Sie genoss ihre Beliebtheit.

Dass ihre Vorgängerin, die echte Frau Christen, allen anliegenden Geschäften verkündet hatte: “Hätte ich gewusst, dass sie Jüdin ist, hätte ich ihr das Geschäft nicht verkauft“, spornte Juli noch mehr an, erfolgreich zu sein.

Sie war bis zum Umfallen fleißig, und liebte ihre Arbeit. Den Abschied  von dem Laden im Alter von 75 Jahren hat sie nie verwunden. In der Auslage hinterließ sie ein Plakat, darauf hatte sie nur geschrieben:  “DANKE”.

Es gibt keinen Menschen, mit dem ich so viele Konflikte ausgetragen habe, wie mit meiner Mutter. Wir konnten uns über Nichtigkeiten streite. Ihr gegenüber blieb ich  – bis vor wenigen Jahren noch – das trotzige pubertäre Mädchen.

Gleichzeitig war sie mir immer auch Inspiration und Vorbild.

Ihre Begeisterung für Ihr Fach, ihr Wissensdurst und ihre Expertise haben mich schon als Kind zutiefst beeindruckt.

Alles was sie tat, tat sie mit voller Konzentration.

Mindfulness habe ich bei ihr gesehen, lange bevor ich diesen Begriff in Büchern gelesen habe. Wenn sie einen Knopf annähte, war ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf Zwirn und Nadel fokussiert. Man konnte Gift drauf nehmen, dass dieser Knopf nie wieder abreißen würde. Wenn Sie die Sonne auf ihrer Haut spürte, strahlte sie, wie nur sie es vermochte.

Juli war eine Meisterin der Kommunikation. Sie konnte wildfremde Menschen unbefangen ansprechen, diese erzählten ihr in kürzester Zeit ihr Leben.

Im Laufe der Jahre wandelte sich unsere Beziehung.

Meine Mutter wurde immer weicher, fand Alles, was ich tat, großartig. Das war für mich eine neue und wohltuende Erfahrung.

Sie war meine erste Leserin. Sie freute sich wie ein Kind, dass  ich oft Bezug auf sie nahm. „Ich bin deine Muse“, stellte sie stolz fest. Das stimmte auch. Ihre scharfen und pointierten Beobachtungen amüsierten und inspirierten mich.

Als ich ihr vor drei Jahren berichtete, dass sich mein neues Buch mit dem Thema Judenhass befassen würde, meinte sie nur lakonisch: “Komm für einen Monat nach Wien, dann hast du das Buch schnell geschrieben.“ Sie hatte im Krankenhaus viele Erfahrungen gesammelt.  Mehrere der älteren Frauen mit denen sie das Zimmer teilte, nahmen sich bezüglich ihrer Einstellung zu Juden und anderen Minderheiten kein Blatt vor den Mund.

Sobald ich einen Text abgeschlossen hatte, trug ich ihn ihr am Telefon vor. Diesem Ritual sind wir bis zum Ende treu geblieben.

Je älter sie wurde, desto mehr litt sie darunter, dass ihre Enkelkinder und ihre Tochter in Israel leben. Die Sorge um uns machte sie zu einer Nahostexpertin. Und Optimismus war dabei nicht ihr Credo. ”Bei Euch unten wird es nie Ruhe geben”, lautete ein weiterer ihrer wahrheitsgemäßen Glaubenssätze.

Die israelischen Uniformen meiner Kinder haben sie nie mit Stolz erfüllt, sie fürchtete sich vor Allem Militärischem. Das Einzige, was sie interessierte war, dass Daniel und Nicole  keiner Gefahr ausgesetzt sein sollten. Und „Nätanyu“, wie sie den israelischen Premierminister mit ihrem ungarischen Akzent nannte, konnte sie – genau wie ich – wenig abgewinnen.

Die letzten Jahre hat das traumatisierte Kind in ihr den Kampf um ihrer Seele gewonnen. Das Gefühl der existentiellen Einsamkeit, das immer stärker Besitz von ihr ergriff, konnte niemand beschwichtigen. Kaum war ich in Wien gelandet, trübte ihre Furcht vor dem Abschied die Wiedersehensfreude.

Gleichzeitig pochte sie – wider jede Vernunft – auf ihre Unabhängigkeit. Wenn ich ihr die schwere  Einkaufstasche abnehmen wollte, reagierte sie mit Abwehr: “Wenn Du nicht da bist, muss ich sie ja auch selbst tragen.“

Unsere letzte Begegnung fand wenige Tage vor ihrem Tod statt. Sie ging nicht mehr außer Haus. Doch mir zuliebe stand sie auf.
Und wir  unternahmen mehrere unserer gemeinsamen  Spritztouren, die wir beide so geliebt haben. Sobald sie auf der Straße war, lächelte sie glücklich.
Wir ließen uns beim Friseur verschönern, wir waren  in ihrem Lieblingsrestaurant essen, wir besuchten ihre Freundinnen im Kaffeehaus. Wir  sind im Park gesessen, sie hat meine Hand gehalten und die Herbstsonne genossen.

Als ich abgereist bin, hat sie mir aus dem Fenster zugewinkt. Und ich habe mehrere Straßenbahnen vorbeifahren lassen, damit sie noch dort stehen bleibt. Tief im Innern habe ich geahnt, dass es das letzte Mal  sein würde, dass wir uns sehen. Ihr Lebenswille war gebrochen. Sie ist drei Tage später so gestorben, wie sie es sich gewünscht hat – zu Hause friedlich vor dem Fernseher.

Auch wenn ich das nicht immer verstanden habe, meine Mutter war meine beste Lebenslehrerin.

Unvergesslich wird mir immer bleiben, dass wir – selbst in den letzten Wochen ihres Lebens – in den  unpassendsten Situationen miteinander lachen konnten. Das ist vielleicht das schönste Erbe, das meine Mutter mir hinterlassen hat.

Ich bin dankbar, dass sie  mich 58 Jahre begleitet hat.

Und wirklich erwachsen geworden bin ich am  28. Oktober 2018.