Anetta Kahane, Konrad Weiß und die „nachholende Revolution“

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Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Martin Jander zur Veranstaltung der Deutsch Israelischen Gesellschaft (DIG) Berlin-Brandenburg am 14. Oktober 2019 („Schalom Neues Deutschland – Die DDR, Israel und die Juden“) mit Anetta Kahane und Konrad Weiß. Die Veranstaltung wurde von Verunglimpfungen gegen Anetta Kahane begleitet…

Wie schon in der Vergangenheit wurde auch aus Anlass der DIG-Veranstaltung Anetta Kahane wegen ihrer Vergangenheit als IM bei der Stasi verunglimpft. Zum Thema ist genug bekannt. Anetta Kahane, die 1986 einen Ausreiseantrag stellte und schließlich selbst vom MfS beobachtet wurde, später die Amadeu Antonio Stiftung gründete und heute eine der wichtigen Stimmen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland ist, hat in ihrer Autobiografie ausführlich über ihre Tätigkeit bei der Stasi berichtet und außerdem einen unabhängigen Politikwissenschaftler mit der Aufarbeitung ihrer Akte beauftragt. Die Ergebnisse und Bewertung daraus sind auf der Website der Amadeu Antonio Stiftung veröffentlicht, jeder kann sich selbst ein Bild machen. 

Anetta Kahane und die Amadeu Antonio Stiftung werden immer wieder von rechtskonservativen und rechtsextremen Akteure in Bezug auf diese Stasi Vergangenheit angegriffen. Und auch jetzt fanden sich wieder die richtigen Kommentatoren ein. 

So suggeriert Hubertus Knabe in einem Vorbericht in der NZZ, die Veranstalter hätten Kahanes Vergangenheit verschleiern wollen und stellt eine absurde Parallele zu einem arabischen Terroristen her. Auf der „Achse des Guten“, wo sonst, wird das noch getoppt. Denn hier durfte Thomas Marten, der als DIG Mitglied ausgewiesen ist, über den Abend berichten. Marten war übrigens auch stellvertretender Vorsitzender des AfD Bezirksverbands Berlin-Charlottenburg, für die Achse kein Grund für Berührungsängste. Das Thema heiligt den Autor, den schon in der Vergangenheit wurde auf dieser Plattform auf übelste Weise mit klassischen antisemitischen Stereotypen gegen Anetta Kahane gehetzt. Offensichtlich scheint man Gemeinsamkeiten zu Entdecken, denn erst im vergangenen Jahr hat die AfD mit einer antisemitischen Karikatur gegen Anetta Kahane gehetzt

Wir freuen uns, Martin Janders Rede auf der DIG-Veranstaltung zu dokumentieren.

 

Anetta Kahane, Konrad Weiß und die „nachholende Revolution“

Von Martin Jander

Als Historiker und als Demokrat verdanke ich Anetta Kahane und Konrad Weiß viel. Ich glaube die vereinigte demokratische Bundesrepublik verdankt beiden sehr viel.[1]

Die friedliche Revolution, vom Herbst 1989 bis zum Beitritt der DDR zum Grundgesetz, war, so Jürgen Habermas, eine „nachholende Revolution“.[2] In vielen Diktaturen sowjetischen Typs, die nach der Befreiung vom Nationalsozialismus entstanden, setzten sich 1989/90 demokratische Revolutionen durch. Die Träger orientierten sich an demokratischen Ideen aus der Vergangenheit ihrer Gesellschaften.

In der DDR orientierte man sich nicht an der ersten deutschen Demokratie in Weimar. Die hatten die Demokraten kampflos aufgegeben. Die Wähler der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer votierten, zum Ärger vieler DDR-Dissidenten, für eine rasche Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. „Nachholende Revolution“ das hieß für die DDR: eine Verfassung, Gewaltenteilung, unabhängige Parteien, Pressefreiheit, Öffnung der Mauer, Schließung der Stasi und vieles mehr, ganz so wie eben in der „alten“ Bundesrepublik.

„Nachholende Revolution“ das hieß aber auch, und hier kommen Anetta Kahane und Konrad Weiß ins Spiel, öffentliche Auseinandersetzung über die Verbrechen des Nationalsozialismus, das Unrecht der DDR und eine Zukunft jüdischen Lebens im post-nationalsozialistischen Täterland.

Eben genau so, oder vielleicht doch noch etwas besser, wie in der (alten) Bundesrepublik.[3]

Anetta Kahane

Anetta Kahane war während der „nachholenden Revolution“ als Mitglied der AG „Ausländerfragen“ am Zentralen Runden Tisch mit verantwortlich für einen wesentlichen Antrag. Er nannte sich „Aufruf zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR“ und wurde am 12. Februar 1990 ohne Gegenstimmen angenommen. Der entscheidende Satz des Beschlusses lautete:

„Eingedenk der Tatsache, dass bei der Judenverfolgung und –vernichtung durch den deutschen Faschismus die ganze Welt zugesehen hat, rufen wir auf, die deutsche Schmach der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Ein talmudisches Gesetz sagt: [Lo tamood dam reecha pekuach nefesh doche et kol hatorah culah.] Alle Gesetze müssen gebrochen werden, wenn ein Leben gerettet werden kann.“[4]

Der Runde Tisch forderte die amtierende Regierung der DDR auf, die Möglichkeit zur Einwanderung verfolgter sowjetischer Juden zu schaffen. Diese Entscheidung wurde von der damaligen DDR-Regierung umgesetzt und später von den Ministerpräsidenten der vereinigten Bundesrepublik bestätigt.[5]

Diese Entscheidung des Zentralen Runden Tischs war in vielerlei Hinsicht revolutionär. Sie enthielt eine Einladung, die so in der alten DDR nie möglich gewesen wäre. Sie hat darüber hinaus jüdisches Leben in der Bundesrepublik wesentlich verändert. Etwa 200.000 Menschen konnten kommen. Die sich vereinigende Republik hieß verfolgte Juden willkommen. Wäre das heute, 30 Jahre später, noch denkbar?

Konrad Weiß

Konrad Weiß gehörte während der wilden Tage zur Gruppe „Demokratie Jetzt“ und zum Leitungsgremium der christlichen „Aktion Sühnezeichen“. Er ist der wesentliche Initiator einer der ersten Erklärungen der im März 1990 neugewählten Volkskammer, die sich schmucklos „Antrag aller Fraktionen der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik zu einer gemeinsamen Erklärung“ nennt.

Diese Erklärung vom 12. April 1990 hat es nicht in den Einigungsvertrag geschafft, aber sie gehört zumindest zu seinen Anlagen. Ich lese Ihnen nur die Präambel des Textes vor:

„Wir, die ersten frei gewählten Parlamentarier der DDR bekennen uns zur Verantwortung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre Zukunft und erklären einmütig (…): Durch Deutsche ist während (…) des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden. Nationalismus und Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma. Diese Schuld darf niemals vergessen werden.“[6]

Auch diese Erklärung ist revolutionär. Ein Bekenntnis der Verantwortung für die Verbrechen der Deutschen von 1933 – 1945 hatte weder die SED noch eine DDR-Regierung je abgegeben. Die Erklärung behandelt nicht nur die Mitverantwortung für die deutschen Verbrechen, sie spricht auch das Unrecht an, für das die DDR und ihre Bürger mit verantwortlich sind (gegenüber Israel, gegenüber den Juden in der DDR und gegenüber der Tschechoslowakei).

Die Erklärung ist auch deshalb revolutionär, weil sie eine Verpflichtung auf einen europäischen Einigungsprozess enthält, für den sich die Autoren und die Volkskammerabgeordneten von damals eben wegen der deutschen Vergangenheit besonders verantwortlich ansahen.

Auf einer Pressekonferenz am 15.10.1990 zogen die Bürgerbewegungen und die Grünen Ost und West eine kritische Bilanz nach den Landtagswahlen. Die Ergebnisse hätten verdeutlicht, daß ein gemeinsames Antreten zu den Bundestagswahlen unumgänglich ist. Von rechts: Christina Schenk (UFV), Friedrich Heilmann (Grüne Ost), Kathrin Menge (Initiative Frieden und Menschenrechte), Konrad Weiß (Demokratie Jetzt), Klaus Wolfram (Neues Forum), Christian Ströbele (Grüne West). Bundesarchiv, Bild 183-1990-1015-012 / CC-BY-SA 3.0

Nachfolgestaat des Nationalsozialismus

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die antifaschistische DDR keine Verantwortung und Haftung für die deutschen Verbrechen übernahm, eine nicht nur gegen Juden des eigenen Landes, sondern auch gegen den Staat Israel gerichtete Politik führte? Wie konnte es dazu kommen, dass eine „nachholende Revolution“ überhaupt nötig wurde?

Dazu gilt es zunächst zu verstehen: die DDR war einer der drei Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus – DDR, BRD und Österreich. Die DDR setzte sich in ganz besonderer Weise mit der Shoa auseinander, besser gesagt, sie tat es nicht.[7]

Das begann nicht gleich 1945. So wie die Sowjetunion damals die Gründung Israels in der UNO unterstützte und sogar über die Tschechoslowakei Waffen lieferte, mit denen Israel 1948 den Krieg gegen den Überfall seiner Nachbarn gewinnen konnte, so artikulierten sich auch Politiker in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Das Mitglied des KPD-Politbüros, Paul Merker, wurde nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Mexiko beauftragt, ein Gesetz zu formulieren, das die überlebenden Opfer und Gegner der Nazis entschädigen und ihre Nachkommen unterstützen sollte. Juden galten damals noch als eine gleichberechtigte Gruppe von Opfern des Faschismus.

In den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges, war noch nicht entschieden, dass die DDR keine parlamentarische Republik werden würde. Es war auch noch nicht entschieden, dass sie den Nationalsozialismus nicht bearbeiten, sondern von sich weisen würde. 

Paul Merker

Zum Ender der 40er Jahre wendete sich die SED. Merkers Gesetzentwurf wurde abgelehnt. Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) verwandelte sich in eine als „Volksdemokratie“ verkleidete Diktatur. Merker wurde aus der SED geworfen und im Dezember 1952 verhaftet.

Ihm wurde Folgendes vorgeworfen: „Es unterliegt“, so verkündete das Zentralkomitee im November 1952, „ keinem Zweifel mehr, dass Merker ein Subjekt der USA Finanzoligarchie ist, der die Entschädigung der jüdischen Vermögen nur forderte, um dem USA-Finanzkapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen. Das ist die wahre Ursache seines Zionismus.“[8]

Außerdem stand da: „Merker fälschte die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepressten Maximalprofite der Monopolkapitalisten in angebliches jüdisches Eigentum des jüdischen Volkes um.“ In demselben Dokument hieß es: „Die zionistische Bewegung hat nichts gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit, sie wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom USA-Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten.“

Diese Vorwürfe richtete die SED nicht nur gegen Paul Merker, sondern gegen alle in der DDR lebenden Juden. Aus Furcht vor den Dingen, die kommen könnten, flohen große Teile der DDR-Juden; besser gesagt, sie wurden vertrieben. Seit dieser Zeit wurde in der DDR zwischen „Opfern“ des Faschismus und „Kämpfern“ gegen den Faschismus unterschieden. Juden, auch solche die nachweislich mit der Waffe in der Hand gekämpft hatten, wurden zu „Opfern“ herabgestuft.

Manche von ihnen, die sich gegen die antisemitische Politik der SED zur Wehr setzten, wie zum Beispiel der langjährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Leipzig, Eugen Golomb – er war aus Auschwitz entkommen und hatte danach mit den Partisanen gegen die Deutschen gekämpft -, wurden, weil sie sich auch für Israel einsetzten, als „Zionisten“ und „Stützpunkte des Gegners“ beschimpft und verfolgt.[9]  

SED-Gegner und Antisemitismus

Antisemitismus und Judenfeindschaft gab es in der DDR, nicht nur in der SED. Sie existierte auch bei ihren Gegnern. Die wohl größte und einflussreichste Oppositionsgruppe der DDR in den beginnenden 50er Jahren, die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU), mobilisierte SED-Gegner unter Rückgriff auf nur allzu bekannte Parolen.

Ein gutes Buch darüber, von Enrico Heitzer, dokumentiert ein Flugblatt der Gruppe bereits auf dem Deckblatt. Es zeigt eine Hand, die eine Ratte im Nacken hält. Die Ratte ist mit Hammer und Sichel gekennzeichnet. Der Text dazu heißt: „Rattenbekämpfung ist nationale Pflicht!“[10]

Wie sehr Antisemitismus nicht nur in der SED, sondern auch in der Bevölkerung der DDR verbreitet war, erkennen sie an einer Chronik antisemitischer DDR-Straftaten, die die „Amadeu Antonio Stiftung“ 2010 veröffentlichte. Ich lese Ihnen nur einen Eintrag aus dem Jahr 1959 vor: „Karl-Marx-Stadt: An der Tschaikowski-Oberschule spielen Schüler im Dezember ein Spiel, dass sie „SS und Juden“ nennen. (…).“[11]

Antifaschismus und Antizionismus

Antifaschismus und radikaler Antizionismus waren für die damalige SED, wie bis heute für viele Linke, kein Widerspruch, weil sie die wesentlichen Ursachen des Nationalsozialismus im Kapitalismus verankert sahen. Rassismus und Antisemitismus galten nicht als Problem, lediglich der Kapitalismus. Aber der war ja in der DDR abgeschafft.  In den Augen der SED existierte „Faschismus“ nur noch in den USA, Israel und in der (alten) Bundesrepublik.

Die SED zensierte oder verhinderte deswegen auch Bücher jüdischer Autoren, die auf die Bedeutung des Antisemitismus in der Geschichte Deutschlands hinwiesen. So z. B. arbeitete 1960 bis 1962 der Philosoph Rudolf Schottlaender an einem „Gedenkbuch“, in dem Kurzbiografien aller Wissenschaftler enthalten waren, denen 1933 ihre Positionen an der Humboldt Universität in Berlin entzogen wurden. Das fertige Manuskript wurde in der DDR nie gedruckt. Gegenüber Schottlaender hieß es inoffiziell, im Buch kämen zu viele Juden vor.[12]

Erst als der Autor später den Historiker Götz Aly kennenlernte, konnte das Buch 1988, durch Vermittlung Alys, in der (alten) Bundesrepublik erscheinen.[13]

Blockierte Aufarbeitung

Die DDR war eine Diktatur. Öffentliche Kontroversen und Auseinandersetzungen über nationalsozialistischen Antisemitismus und Rassismus wurden unterdrückt, waren aber im familiären Gespräch natürlich präsent.[14]

Nicht wenige Kinder und Enkel der Nazis begannen daher in den 70er Jahren, ihren Eltern und Großeltern nachzueifern und griffen die jungen „Vertragsarbeiter“ aus Vietnam, Angola und anderen Ländern an. Es gab dabei auch Todesfälle.

Ich kann das hier nur kurz streifen. Interessant sind dazu vor allem Bücher und Aufsätze des Historikers Patrice G. Poutrus.[15] Sie zeigen, dass in der DDR die traditionelle deutsche Vorstellung von einer homogenen deutschen Gesellschaft, die Fremde ausschloss, trotz ganz neuer, nicht-kapitalistischer Strukturen fortexistierte.

Kriege gegen Israel

Die DDR hat nicht nur die Entschädigung der jüdischen Opfer und ihrer Nachkommen abgelehnt, sie hat eine öffentliche Auseinandersetzung über Antisemitismus und Rassismus unterdrückt, sie hat nie diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Sie hat seit den 60er Jahren auch begonnen, die arabischen Staaten militärisch auszurüsten, die Kriege gegen Israel führten.

Am 15. Juni 1967 hat Walter Ulbricht diese Politik in Leipzig politisch begründet. Israel bezeichnete er wahrheitswidrig als Aggressor im 6-Tage-Krieg, als Instrument des amerikanischen Imperialismus. Ulbricht setzte israelische Politik auch mit der der Nazis gleich. Er sprach in derselben Rede von den durch Israel besetzten Gebieten als einem „Generalgouvernement“.  Gerade ist ein Buch des Historikers Jeffrey Herf erschienen, das die militärische Unterstützung der DDR für die Feinde Israels in bahnbrechender Weise dokumentiert. [16]

Auch die palästinensischen Terroristen, die Israel mit Terror überzogen wurden von der DDR unterstützt. Bereits 1970 hatte die DDR Ulrike Meinhof und anderen die Durchreise zum Training in PLO-Lagern erlaubt. 1973 wurde das erste Büro der PLO in der DDR eröffnet, noch vor der Sowjetunion. Wie wir heute wissen, unterstützte die DDR auch Rechtsterroristen in der Bundesrepublik.[17]

Kritik des SED-Antizionismus

Es gab in der DDR aber auch Widerspruch gegen diese antisemitische Politik. Das können Sie zum Beispiel in der Biografie nachlesen, die Konrad Weiß über den Gründer der „Aktion Sühnezeichen“, Lothar Kreyssik, schrieb.[18]

Als die UNO Delegation der DDR 1975 wieder einmal einer Israel dämonisierenden Resolutionen zugestimmt hatte, in der Zionismus als „Rassismus“ bezeichnet wurde, erklärten evangelische Bischöfe aus der DDR: „Wir haben nicht zu vergessen: als Christen sind wir nach dem Zeugnis der Bibel in die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel gestellt; als Deutsche haben wir in der Vergangenheit das Existenzrecht des jüdischen Volkes in einem erschreckenden Maße verneint (…).“[19] Ihre Rufe verhallten in der DDR ungehört. Die DDR erarbeitete sich, wie Sie bei Jeffrey Herf nachlesen können,  ihre internationale Anerkennung damals durch einen Anschluss an die schlimmste antizionistische Propaganda.

Widerspruch formierte sich seit der Mitte der 80er Jahre nicht nur von Christen, die den Antisemitismus hinter sich gelassen hatten. Er artikulierte sich auch zunehmend in Jüdischen Gemeinden. Anetta Kahne und andere gründeten damals in Ost-Berlin die Gruppe „Wir für uns“ und begannen sich mit der Geschichten der Flucht ihrer Eltern und Großeltern aus Deutschland 1933 und ihrer Rückkehr 1945 zu beschäftigen. Sie lösten sich, wie Kahane schrieb, in diesen Jahren aus der durch Zwang und Verfolgung erpressten Loyalität zur DDR-Politik, lösten sich aus der „Antifaschismusfalle“.[20] Aus dieser Gruppe ging später der bereits genannte „Aufruf zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR“ hervor.

Widerspruch meldete auch der Dresdner Historiker Helmut Eschwege an.[21] Er war der bedeutendste Holocaustforscher der DDR.[22] Eschwege war in den 50er Jahren aus der SED ausgeschlossen worden, weil er Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Dresdens war, jiddische Zeitungen las, in den 50er Jahren jüdische Flüchtlinge in West-Berlin besuchte und weil er im britischen Mandatsgebiet Palästina in der Emigration war. Die Stasi verfolgte Eschwege im „Operativen Vorgang Zionist“.

Eschwege nutzte das Jahr 1988 Erich Honecker die Bitte vorzutragen, diejenigen Menschen zu rehabilitieren, die, wie er selbst, zu Beginn der 50er Jahre aus der SED geworfen worden waren. Eschwege bat, es sei an der Zeit diese Menschen, nicht nur Juden, zu rehabilitieren, „auch wenn sie sich gegen die oft veröffentlichte Verketzerung Israels durch die Medien der DDR zur Wehr gesetzt haben.“[23]

Helmut Eschweges Bitte wurde von Honecker brüsk zurückgewiesen. Honecker behauptete wahrheitswidrig, diese Rehabilitierung habe es längst gegeben.  Auch die Politik der SED gegenüber Israel änderte sich bis zum Untergang der DDR nicht.

Elftes Gebot deutscher Politik seit 1945

Das alles konnte ich Ihnen hier nur ganz im Überflug vortragen. Die DDR war ein ganz anderer Nachfolgestaat des Nationalsozialismus als die (alte) Bundesrepublik und Österreich. Nicht viele Historiker und Zeitzeugen haben bis heute dazu beigetragen, die Geschichte dieser ganz anderen deutschen Nachfolgegesellschaft des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Ich habe deshalb mit einigen Freunden ein Buch zusammengestellt, in dem wir viele der hier angeschnittenen Fragen ausführlich diskutieren.[24] 

Lassen Sie mich am Ende einmal kurz aus meiner Rolle als Historiker heraustreten. Der Untergang der DDR ist für Demokraten, auch für linke Demokraten, eine gute Nachricht. Der dritte Nachfolgestaat des Nationalsozialismus, eine deutsche Diktatur sowjetischen Typs, die Verantwortung und Haftung für die Vernichtung der europäischen Juden nicht übernehmen wollte, die Überlebende der Shoa 1953 als amerikanische Spione attackierte und außer Landes trieb, die eine antijüdische Politik nach innen und nach außen verfolgte, die sogar Terrorismus und Kriege gegen Israel militärisch unterstütze und ohne eine Gefängnismauer, die den ganzen Staat umschloss, niemals 40 Jahre lang hätte existieren können, ist untergegangen.  

Anetta Kahane und Konrad Weiß sind diejenigen beiden DDR-Dissidenten, die dies in der „nachholenden Revolution“ beherzt zur Sprache brachten und eine Änderung einleiteten. Sie haben damit die Neu-Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1989/90 entscheidend beeinflusst und geprägt.

Sie haben damit nicht nur im Rückblick auf die DDR revolutionäre Änderungen bewirkt, sie haben damit für die vereinigte Bundesrepublik eine wichtige Botschaft erneuert. Der schon erwähnte Historiker Jeffrey Herf hat diese Botschaft als das 11. Gebot deutscher Politik nach der Shoa bezeichnet: „Töte und verletze keine Juden und auch keine israelischen Juden; hilf niemandem sonst, Juden, einschließlich israelischer Juden, zu töten oder zu verletzen.“[25]

Die DDR verstieß seit 1953 immer wieder gegen dieses Gebot. Leider ist es auch heute immer noch sehr aktuell! Denken Sie nur an den Anschlag gegen die Synagoge in Halle vor einigen Tagen.

Wie bedroht die Botschaft der „nachholenden Revolution“ in unserer Gegenwart ist, erkennt man auch an den Versuchen, das Ansehen der DDR-Dissidentin Anetta Kahane und die Arbeit der von ihr geführten „Amadeu Antonio Stiftung“ mittels einer antisemitischen Kampagne zu zerstören.[26] Todesdrohungen erhält Frau Kahane seit vielen Jahren regelmäßig. Sie fehlt auf keiner der von Rechtsextremen im Internet öffentlich geführten Todeslisten.[27] Möglicherweise hat ein mutmaßlicher Rechtsterrorist, die Presse kennt ihn unter dem Namen Franco A., bereits einen Anschlag auf ihr Leben vorbereitet.[28]

Nicht nur das Leben von Anetta Kahane ist gefährdet. Auch die Erbschaft der von Konrad Weiß und Anetta Kahane wesentlich mitgestalteten „nachholenden Revolution“ ist in großer Gefahr.    

Dr. Martin Jander, geboren am 21. Januar 1955, ist Historiker. Seine Dissertation verfasste er 1995 zum Themenbereich DDR-Opposition. Er unterrichtet moderne deutsche Geschichte im europäischen Kontext an den Dependancen der Stanford University und der New York University in Berlin sowie im Programm von FU-BEST. Jander arbeitete bis 2017 mit W. Kraushaar und T. Skelton-Robinson an einer Chronik des linken deutschen Terrorismus und seiner internationalen Verbindungen. Einzelne Ergebnisse des Projekts wurden bereits  veröffentlicht. Jander schreibt für den „Tagesspiegel“, die „Jüdische Allgemeine“ sowie die Internet-Plattformen „haGalil“ und „starke meinungen“.

Die hier publizierte Rede wurde für die Veröffentlichung bei haGalil geringfügig überarbeitet und ergänzt.

Bild oben: Anetta Kahane, 2016, (c) Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

[1] Anetta Kahane wurde 1991 für Ihre Verdienste in der friedlichen Revolution die Theodor Heuss Medaille verliehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Anetta_Kahane). Konrad Weiß erhielt 1995 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad _Weiß_(Regisseur)).
[2] Siehe: Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt a. M. 1990.
[3] Siehe: Michael Brenner (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart, München 2012.
[4] Zitiert nach: Vorlage 12/33 am Zentralen Runden Tisch, 12. Februar 1990, in: Uwe Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch. Wortprotokoll und Dokumente, Band III, Wiesbaden 2000, S. 781.
[5] Siehe dazu: Anetta Kahane, Ich sehe was, was Du nicht siehst, Berlin 2004, S. 186.
[6] Zitat aus: Antrag aller Fraktionen der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik zu einer gemeinsamen Erklärung der Volkskammer, Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, Drucksache 4 vom 12. April 1990 (http://webarchiv.bundestag.de/ volkskammer/dokumente/drucksachen/100004.pdf)
[7] Siehe: Lepsius, M. Rainer, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Lepsius, M. Rainer, Demokratie in Deutschland. Göttingen 1993, S. 179ff.
[8] Zitiert nach: Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský, Beschluß des ZK der SED vom 20. Dezember 1952, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 4, Berlin (Ost) 1954, S. 199.
[9] Siehe zu Golomb: Katrin Löffler, Keine billige Gnade, Hildesheim 2011, S. 46f.
[10] Siehe: Enrico Heitzer, Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, Köln 2014.
[11] Zitat aus: Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg), „Das hat`s bei uns nicht gegeben!“, Berlin 2010, S. 82ff.
[12] Siehe dazu: Martin Jander, Rudolf Schottlaender – Zivilcourage in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Agenda DDR-Forschung. Ergebnisse, Probleme, Kontroversen, Münster 2005, S. 380ff.
[13] Siehe: Rudolf Schottlaender, Verfolgte Berliner Wissenschaft, Berlin 1988.
[14] Siehe: Sabine Moller, Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland, Tübingen 2003.
[15] Siehe z. B.: Jan C. Behrends, Patrice Poutrus, Thomas Lindenberger, Fremde und Fremd sein in der DDR, Berlin 2003.
[16] Siehe: Jeffrey Herf, Unerklärte Kriege gegen Israel, Göttingen 2019.
[17] Siehe: Samuel Salzborn, Die Stasi und der westdeutsche Rechtsterrorismus. Drei Fallstudien
in: Deutschland Archiv, 15.04. u. 19.04.2016, Online unter www.bpb.de/224836 (Teil 1) und www.bpb.de/224934 (Teil 2).
[18] Siehe: Konrad Weiß, Lothar Kreyssik, Berlin 1998.
[19] Zitiert nach: Karin Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Köln 2000, S. 544.
[20] Siehe dazu: Anetta Kahane, Ich sehe was, was Du nicht siehst, Berlin 2004, S. 131.
[21] Siehe: Helmut Eschwege, Fremd unter Meinesgleichen, Berlin 1991.
[22] Siehe: Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, Göttingen 2003, S. 442ff.
[23] Zitiert nach: Helmut Eschwege, Fremd unter meinesgleichen, Berlin 1991, S. 151. 
[24] Siehe: Enrico Heitzer, Martin Jander, Anetta Kahane, Patrice Poutrus (Hrsg.), Nach Auschwitz, Schwieriges Erbe DDR, Frankfurt 2018. Ausführliche Besprechung des Buches finden sich bei haGalil (https://www.hagalil.com/ 2019/06/schwieriges-erbe-ddr/ und https://www.hagalil.com/2018/12/schwieriges-erbe-der-ddr/) und bei socialnet (https://www.socialnet.de/rezensionen/25786.php).
[25] Zitiert nach: Jeffrey Herf, Kriege gegen Israel, in: Enrico Heitzer u. a. (Hrsg.), Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR, Frankfurt 2018, S. 125. 
[26] Siehe dazu: Götz Aly, Der antisemitische Hass gegen Anetta Kahane, in: Berliner Zeitung vom 2. Oktober 2018 (https://www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/kommentar-der-antisemitische-hass-gegen-anetta-kahane-31379026).
[27] Siehe: Konrad Litschko, Enorm hohe Gefahr, in: die tageszeitung vom 30. November 2018 (https://taz.de/Feindeslisten-von-rechtem-Netzwerk/!5554848/).
[28] Siehe dazu: Simone Rafael, Der mutmaßliche Rechtsterrorist taucht im Bundestag und im Gericht auf, in: „belltower news“ vom 18. September 2019 (https://www.belltower.news/franco-a-der-mutmassliche-rechtsterrorist-taucht-im-bundestag-und-im-gericht-auf-91267/).