Der Holocaust im Bewusstsein Israels und Deutschlands

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Ein Interview mit dem israelischen Historiker Gideon Greif…

Von Roland Kaufhold

Der israelische Historiker Dr. Gideon Greif hat zwischen 1983 und 2009 in Yad Vashem gearbeitet. Sein Buch über die jüdischen „Sonderkommandos“ von Auschwitz gilt als das bedeutendste Werk zu diesem bedrückenden Thema. 1988 erhielt er in Israel für seine Publikationen den Sokolow-Medienpreis. Seine Eltern stammen aus Deutschland und sind vor den deutschen Nazis in das damalige Palästina emigriert. 2000 publizierte er ein Buch über die Jeckes – die aus Deutschland stammenden Juden – in Israel.

2003 und 2005 hatte ich in Zusammenarbeit mit Hans-Jürgen Wirth zwei thematisch mit diesen Themen verbundene Studien Gideon Greifs (2003, 2005) in der Zeitschrift psychosozial veröffentlicht:

Gideon Greif (2003): Stufen der Auseinandersetzung im Verständnis und Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft, 1945-2002, psychosozial 93 (2003), S. 91-105

Gideon Greif: Jüdische Schicksale während der Shoah – basierend auf Tagebüchern. Der Fall von Hillesum und Perechodnik, psychosozial 100 (2005), S. 85-92)

Das nachfolgende Interview[1] wurde am 24. und 25. Januar 2005 in Köln geführt – zwei Tage vor den internationalen Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Am 27. Januar nahm Gideon Greif als offizieller Vertreter von Yad Vashem an diesen Gedenkfeiern in Auschwitz teil.

Teile des Interviews sind 2012 in einer gekürzten Version erschienen in:

Roland Kaufhold (2012): Der Holocaust im Bewusstsein Israels und Deutschlands. Interview mit Gideon Greif. In: R. Kaufhold & B. Nitzschke (Hg.): Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust, in: Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung 16. Jg., Nr.  28, 2012, S. 9–21. 

 

Roland Kaufhold (RK): Gideon, Du bist vor drei Tagen in Deutschland angekommen. In wenigen Tagen wird des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz gedacht. Du wirst ebenfalls nach Auschwitz fahren. Welche Empfindungen hast Du bei Deiner Ankunft?

Greif: Also, erstens möchte ich etwas Prinzipielles sagen: Es hat sich leider nicht viel geändert, seit 1945. In dem Sinne, dass die Juden nicht auf einmal beliebt geworden sind und wohl auch nie beliebt sein werden. Antisemitismus, oder besser gesagt Judenhass, existiert schon 3000 Jahren und wird meiner Meinung nach auch die nächsten 3000 Jahre existieren. Es wird sich nichts ändern, es ist ein Teil der Zivilisation, wie absurd sich das auch anhören mag. Es ist Teil der Welt. Und wir Juden müssen damit leben. Ich fürchte, dass die Juden weiter die am meisten Gehassten in der Welt sind, es ist traurig für mich das zu sagen. In dem Land, in dem die Shoah initiiert und geplant wurde, beschäftigt die Shoah ständig die öffentliche Meinung und die Leute als Individuen. Einige schämen sich für ihre Taten, ihre Verbrechen, einige überhaupt nicht. Aber es gibt auch Gegenkräfte, die es früher noch nicht gegeben hat.

Es macht mir Sorgen, was sich im Parlament von Sachsen und Brandenburg tut, wenn ich sehe, wie die Schranken, die es früher gegeben hat, nun schrittweise fallen. Aber das ist nicht unser Problem als Israelis, das ist hauptsächlich ein Problem Deutschlands. Ich hoffe, es wird nicht den Juden in Deutschland schaden, dass sie wieder Opfer werden. Eines muss klar sein: Wenn es mit Hass gegen den Juden beginnt, bleibt es nicht dabei, es ist immer ein Zeichen von bösartigen und destruktiven Tendenzen, die eine Bedrohung für jede Demokratie und jede Gesellschaft sind.

RK: Gideon, Du bist 1951 als Kind jüdischer Eltern in Israel geboren. Deine Eltern sind noch rechtzeitig aus Deutschland geflohen. Mich würden einführend deine prägenden Erinnerungen an deine Kindheit in diesem jungen, drei Jahre vor Deiner Geburt gegründeten Staat interessieren. In welcher Weise wurde deine kindliche Entwicklung, deine Weltwahrnehmung, durch den Holocaust geprägt?

Greif: Als Kind war ich viel bei meinen Großeltern. Weil meine Eltern immer sehr schwer gearbeitet haben und nie zu Hause waren musste ich bei meinen Großeltern übernachten. Und ich erinnere mich als wäre es  gestern gewesen: Ich wache auf in der Nacht, mein Großvater schreit – was heißt, schreit: die Wände zitterten, durch sein Brüllen, ich war damals sieben, acht Jahre alt. Ich verstand dies nicht, aber ich kann mich so gut daran erinnern: Jede Nacht, ohne Ausnahme! Dieses Schreien war seine unerzählte Geschichte in Buchenwald – das Lager, in das er gebracht wurde, nachdem er im November 1938, während der „Reichskristallnacht“, verhaftet worden war.

RK: Hat er später darüber gesprochen?

Greif: Nein. Erst später habe ich dann mitbekommen, das ist die Geschichte von Buchenwald, von der Zeit, als er dort ein Häftling war. Die Geschichte, die er nicht erzählen durfte. Er hatte sich doch verpflichtet, als Voraussetzung seiner Freilassung, im Mai, Juni 1939, Deutschland binnen einer Woche zu verlassen. Die zweite Bedingung für seine Freilassung, die er unterzeichnet hat, war: er wird nie über Buchenwald und das, was er dort erlebt hat erzählen. Nur so durfte er Deutschland verlassen.

Ich habe noch eine weitere, tiefe Erinnerung, es war einige Jahre später, der Eichmann-Prozess in Israel, 1961/62. Mein Großvater saß mit einem kleinen Radio da und hat zu sich selber immer wieder gesagt: „Ich kann das nicht verstehen, kann das nicht verstehen!“ Er war so deutsch, deutscher als deutsch, stolz, ein Deutscher zu sein. Wie können sich die Deutschen so benehmen? Er hat das nie verstanden! Er konnte das nicht verstehen, wie können sich die Deutschen gegenüber den Juden so benehmen? Er hatte zweimal das Eiserne Kreuz bekommen, war ein Offizier im ersten Weltkrieg…

RK: Wurde über die Shoah in Deiner Familie gesprochen?

Greif:…damals nicht. Ich war ein Kind, und er wollte nicht sprechen…

RK: Was glaubst Du, eher um dich zu schützen, oder weil er selbst nicht darüber sprechen konnte…

Greif: Das hat seine Gesundheit ruiniert. Ich weiß, er war sehr depressiv, und er wollte eigentlich nicht mehr leben. Auf der einen Seite war er sehr glücklich, er hat es überlebt, er hat eine Familie, Enkelkinder, aber er war ein unglücklicher Mensch… Er war zutiefst gekränkt, ja, dass Deutschland ihm so etwas angetan hat! Er war sehr gekränkt. Die Juden Deutschlands, die in Deutschland ihre Heimat gesehen haben, konnten einfach nicht verstehen, wie Deutschland sich so zum Unmenschlichen verändern konnte.

RK: Er hat das nie erzählt?

Greif: Er hat über Buchenwald nie erzählt, nein. Sogar meiner Mutter und ihrer Schwester, meiner Tante, hat er, nachdem er zurück gekommen ist, kein Wort gesagt, kein Wort. Er hat gesagt, das werdet ihr nie glauben – oder verstehen, dass so etwas… Das war 1938, 1939, das war noch gar nicht der Höhepunkt des Bösen. Das war ein Trauma, ein großes Trauma für ihn.

RK: In dem Buch „Die Jeckes[2] hast du zusammen mit zwei Kollegen in sehr persönlicher Weise den ca. 55.000 – 70.000 aus Deutschland nach Israel geflohenen Juden ein Denkmal gesetzt. Was scheint dir der bedeutsamste, überdauernde Beitrag der aus Deutschland vertriebenen Juden für die israelische Kultur zu sein?

Greif: Ja, zwischen 55.000 und 70.000 Jeckes sind nach Palästina geflohen. Das war die sogenannte 5. Aliyah, die im Jahre 1933 begonnen hat.

Ich habe versucht, ihnen ein Denkmal zu setzen, weil: langsam hört man kein Deutsch mehr auf den Straßen. Als Kind habe ich Deutsch auf der Straße gehört, in Tel Aviv – das war ganz normal. Die bekannte Ben Jehuda Straße war nur deutschsprachig! Es wurde nur Deutsch gesprochen, nur Deutsch… Das alles geht langsam vorbei.

RK: Einige der aus Deutschland vertriebenen Intellektuellen, Schriftsteller, haben Israel nach einigen Jahren wieder desillusioniert verlassen, sie waren in ihrem Wirken auf ihre Heimatsprache angewiesen, fanden keine Anerkennung in Israel – ich denke beispielsweise an Arnold Zweig (s. Kaufhold/Wirth 2006). Welche Bedeutung würdest du der Sprache für die eigene Identitätsbildung im „Exil“ geben?

Greif: Also, die Sprache ist ein wichtiges Element in der sogenannten 5. Aliyah. Sie war einerseits ein Anker und eine Verbindung zu der Vergangenheit, die nicht mehr existierte. Aber die Juden konnten die Kultur, in die sie tief verwurzelt waren, nicht verlieren. Andererseits war das auch ein Hindernis, volle Israelis zu werden; und viele dieser Israelis sprechen bis heute nicht Hebräisch, auch wenn sie schon 70 Jahre in Israel leben. Und sie werden wahrscheinlich auch nie Hebräisch sprechen. Meine Großeltern, obwohl sie Ärzte waren, haben kaum zehn Sätze Hebräisch gesprochen.

Die Tragödie war, dass die Leute, deren ganze Welt die Sprache war, Schriftsteller, Journalisten usw., keine öffentliche Anerkennung fanden. Wenn sie es nicht schafften die Sprache zu lernen mussten sie einfach wieder das Land verlassen. Ein Schriftsteller kann ohne die Sprache, ohne Worte und Sätze nicht leben.

RK: Was scheint Dir der größte, historisch überdauernde Beitrag der Jeckes für die israelische Kultur zu sein?

Greif: Die Jeckes haben viel erreicht. Erstens, dass Kultur ein Teil Israels wurde. Es ist hier auch ein ausgezeichnetes Rechtssystem entstanden, mit Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten usw. Alle unsere Juristen, unsere Richter – sie alle waren Deutschsprachige! Im Eichmann-Prozess waren alle Richter, ohne Ausnahme, deutsche Juden. Sie haben doch mit Eichmann direkt in Deutsch gesprochen, obwohl das nicht richtig war vom Protokoll her. Aber sie haben das ignoriert und haben direkt mit ihm ohne Übersetzer kontaktiert.

In den ersten Jahren Israels waren alle Staatskontrolleure Jeckes, wie Dr. Yitzhak Nebenzahl[3]. Genauso wie die ersten Beamten des Aussenministeriums, die Leiter des Rundfunks, die Hauptredakteure der wichtigsten Tageszeitungen und sogar bekannte Offiziere im Militär. Mindestens vier Generäle der israelischen Armee waren ehemalige deutsche Juden. Jetzt hat sich das natürlich geändert, es gibt schon so wenige Jeckes.

Die haben so viele gute Sachen ins Land gebracht, die überhaupt nicht existierten, Fabriken für bestimmte Produkte, Medikamente, Süßwaren… Und am wichtigsten: sie haben gutes Benehmen ins Land gebracht, Höflichkeit, gute Manieren, Kultur, Musik, Kaffeehäuser.

RK: In Deiner Studie über das Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft beschreibst du das problematische Verhältnis zwischen dem Selbstbehauptungswillen Israels in dessen ersten, schwierigen Jahren, der kollektiven Identitätsbildung als wehrhafter Nation, die sich endgültig jeglichem „Ghettodenken“, jeglicher Passivität verweigert, einerseits, sowie der anfänglichen kollektiven Uneinfühlbarkeit in das furchtbare Schicksal der Holocaustopfer andererseits. Du schreibst: „Die Begegnung zwischen den Überlebenden der Shoah und den Geschwistern in der Heimat war nicht so natürlich und unbeschwert, wie man sich das vielleicht denken würde. Noch viele Jahre nach dem Holocaust waren ihre Begegnungen durch Fremdheit geprägt und von Missverständnissen begleitet.“ Und: „Die verbreitete Tendenz der Menschen war es, sich von den Überlebenden und ihren tragischen Geschichten zu distanzieren, die als Last angesehen wurden.“ Ein Prozess der persönlichen Erinnerung war noch nicht in die kollektive Erinnerung eingedrungen. Welche Entwicklung hat das kollektive Gedächtnis in Israel seitdem gemacht? Siehst du mehr Fortschritte oder mehr Rückschritte?

Greif: Bestimmt mehr Fortschritte! Es gibt gewaltige Fortschritte! Etwas sehr Interessantes ist passiert: Vor 30 Jahren hatte man Angst, dass die Jugend das Thema vergessen wird, dass es für sie schon Geschichte sei, nicht mehr aktuell. Und das Gegenteil ist passiert. Das heißt die Shoah ist ein Thema geworden, das viele Israelis, inklusive der Jugend, sehr interessiert, auch solche, die keinen persönlichen Bezug zu dem Thema haben. Die Überlebenden wollen noch etwas hinterlassen und schreiben Bücher über ihre Erinnerungen, andere geben Aussagen ab, in Yad Vashem werden viele Gespräche mit Überlebenden auf Video aufgenommen. Von einer anderen Seite hat sich auch etwas Unerwartetes entwickelt: Das große Interesse der Jugend am Thema drückt sich durch die Reisen nach Polen aus. Fast jeder israelische Schüler fährt mit seiner Schulklasse nach Polen um dort die ehemaligen Ghettos und Lager zu besuchen. 99 Prozent fahren nach Polen, egal ob sie religiös sind oder nicht religiös. Keiner wird gezwungen das zu machen. Man will das wissen, man will es besser verstehen. Vor 30 Jahren hätte das niemand vermutet, wirklich niemand.

RK: 1953 wurde Yad Vashem gegründet, unter maßgeblichem Einfluss israelischer Shoah – Überlebender. Seit dem Eichmann-Prozess ist die israelische Öffentlichkeit erstmals bereit gewesen, sich mit dem Schicksal der Shoah-Opfer auseinander zu setzen. Welche Stufen der Verarbeitung der Shoah würdest du benennen?

Greif: Es waren mehrere Stufen: Erstens, der Eichmann-Prozess. Dann kam der Sechs-Tage-Krieg, der viele Israelis an die Zeiten der Shoah erinnert hat, im Sinne der Angst um die physische Existenz des jüdischen Staates. Aber diese Angst hat sich schnell in Freude über den großen israelischen Sieg verwandelt. Eine noch größere Angst herrschte im Yom Kippur Krieg, in dem in den ersten Tagen eine große Gefahr für die Standhaftigkeit Israels existierte. Man sprach damals über „die Liquidierung des dritten Tempels“. Diese Ereignisse und andere – wie auch die Perspektive der Zeit, die nötig war – , setzten einen Prozess in Gang, der bis heute noch nicht zu Ende ist. Die Einweihung des neuen Museums in Yad Vashem, in der Anwesenheit von mehreren wichtigen Führern dieser Welt zeigt, dass die Shoah weiterhin eine starke Komponente in der Zivilisation und der Weltgesellschaft ist.

Der Prozess wird leider in einigen Jahren zu einem Ende kommen, wenn die letzten Überlebenden uns verlassen werden. Das wird die Welt total verändern. Eine Welt, in der es keine Holocaust-Überlebenden mehr gibt ist wieder anfälliger für antijüdische Ressentiments. Auch auf dem Gebiet der Bildungsarbeit unserer Gedenkstätte bedeutet das Altern und Sterben der Zeugen einen kolossalen, nicht zu ersetzenden Verlust. Der Tag, an dem auf dieser Welt kein Mann oder keine Frau mehr eine tätowierte Nummer auf ihrem Arm tragen wird, wird eine extrem traurige Bedeutung haben.

BN: Eine schwierigere Frage: Könnte es sein, dass man sehr lange brauchte, um den Kontrast zwischen dem Phantasma des wehrlosen Opfers einerseits und dem des Kämpfers, des Arbeiters andererseits in Verbindung zu bringen?

Greif: Also, die Shoah war das schlimmste Ereignis des jüdischen Volkes, die schwärzeste Epoche unserer Geschichte. Die Juden, die außerhalb der Shoah lebten – und die nicht die Umstände der Katastrophe kannten – waren jahrelang sehr kritisch gegenüber den Ermordeten, wie auch gegenüber den Überlebenden. Die Kritik hat sich auf die Frage des Widerstands konzentriert: die Juden unter der Nazi-Herrschaft wurden als Feiglinge und passive Menschen dargestellt. Nur diejenigen Juden, die mit der Waffe in der Hand gegen die Deutschen gekämpft haben und Widerstand leisteten, wurden geehrt und respektiert. Diese Haltung ist bestimmt nicht richtig gegenüber den nicht kämpfenden Juden. Diese falsche Haltung, die den unbewaffneten Kampf  ums Überleben und um die Existenz nicht in Betracht zieht, hat sich seit mehr als 20 Jahren geändert. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung hat man den Kampf sehr betont. Und man hat die Hilflosigkeit nicht so wahrnehmen können, den systematischen Mord, die Erniedrigung und die Hilflosigkeit. Das allgemeine Bild heute ist viel ausgeglichener. Die Mehrheit der Juden konnte gar keine Waffe in die Hand nehmen, denn es standen ihnen keine Waffen zur Verfügung. Außerdem hatten die Juden auch großteils überhaupt keine militärischen Erfahrungen.

Diese Feststellung widerspricht aber keineswegs der Tatsache, dass es hunderte von Aufständen in mehreren Ghettos und Lagern und in vielen Gebieten, wo im Krieg Partisanen aktiv waren, gegeben hat. Tausende von jüdischen Partisanen haben mutig gegen die deutschen Truppen gekämpft, viele sind im Kampf mit der Waffe in der Hand gefallen. Das Bedeutendste im Rahmen des jüdischen Widerstands sind die Aufstände in den Vernichtungslagern. In drei von sechs Vernichtungslagern gab es jüdische Aufstände: in Treblinka (August 1943), in Sobibor (Oktober 1943) und in Auschwitz-Birkenau (Oktober 1944). Also, die Juden haben mit allen Mitteln gekämpft. Teilweise mit Waffen, meistens ohne, aber immer mit Mut und Lebenswillen.

RK: Anfang der 80er Jahre hast du bei Vorbereitungen zu einer Rundfunkdokumentation erstmals mit zwei Überlebenden der Sonderkommandos gesprochen. Insgesamt  sind zu dieser fürchterlichen Tätigkeit einige Tausend Juden gezwungen worden – in der „Todesfabrik Auschwitz“ zu arbeiten. Die Nazis hatten das Ziel, all diese Zeugen ihrer grausamen Verbrechen zu ermorden. Nur einige Wenige haben überlebt, scheinbar wie durch ein Wunder. Zwei einführende Fragen: Was waren die Sonderkommandos? Wie kam es, dass einige Wenige diese Hölle überlebt haben – und somit Jahrzehnte später historisches Zeugnis abzulegen vermochten?

Greif: Das Sonderkommando, das war eine Gruppe von hauptsächlich jüdischen Häftlingen, die Mitarbeiter einer Todesfabrik waren, mit einem Arbeitsauftrag, den sie zu erfüllen hatten. Der Begriff „Fabrik“ trifft gut die Realität in Auschwitz-Birkenau. Alle Funktionen und Mechanismen, die wir aus jeder „normalen“ Fabrik kennen befanden sich auch in der Fabrik Auschwitz-Birkenau, mit zwei Unterschieden: Erstens: Das „Rohmaterial“ waren Menschen, und das Endprodukt war Asche. Diese Fabrik konnte nur eine Sache produziere, und das war – Asche. Die Häftlinge des Sonderkommandos waren die Mitarbeiter dieses Unternehmens, genau wie es in jeder Fabrik Arbeiter gibt. Im Fall von Auschwitz muss aber sehr klar betont werden: Die Juden haben nicht ein einziges Opfer ermordet! Der Mord wurde immer direkt von den Deutschen durchgeführt. Ohne Ausnahme!

Die Fabrik brauchte Arbeitskräfte, und diese Arbeitskräfte waren die Juden. Sie wurden hierzu gezwungen, keiner hat sich freiwillig gemeldet. Die interessante Frage ist natürlich: Warum haben die Deutschen Juden als Arbeitskräfte benutzt, und nicht andere Häftlinge. Im Lager befanden sich Tausende Deutsche, Österreicher, Franzosen usw. Darum unterstütze ich Primo Levis Meinung, der den Standpunkt vertritt: Die Erfindung und Aufstellung des Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen. Hinter dem pragmatischen Gesichtspunkt (arbeitsfähige Männer einsparen; anderen die schauerlichsten Aufgaben aufzwingen) kommen noch weitere, subtilere Gründe zum Vorschein. Mit Hilfe dieser Einrichtung wurde der Versuch unternommen, das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst abzuwälzen, so dass diesen  nicht einmal mehr das Bewusstsein ihrer Unschuld bleiben würde.

Die Existenz der Sonderkommandos hatte eine Bedeutung, sie enthielt eine Botschaft: “Wir das Herrenvolk sind eure Vernichter, aber ihr seid nicht besser als wir. Wenn wir es wollen, und wir wollen es, sind wir nicht nur in der Lage eure Körper zu vernichten, sondern auch eure Seelen, sowie wir unsere eigenen Seelen vernichtet haben.“

BN: Was genau mussten die Häftlinge machen?

Greif: Die Sonderkommando-Häftlinge befanden sich in jedem Teil des „Fließbandes der Tötung“. Ihre erste Aufgabe war es die dem Tode geweihten Juden in der Entkleidungskammer zu empfangen und sie zu ermutigen alle Kleider auszuziehen und zu den, als „Duschen“ gekennzeichneten, Gaskammern zu gehen. Die Häftlinge haben Gespräche mit den Ankommenden vermieden und stellten sich taub als man ihnen Fragen stellte. Sie blieben in der Entkleidungskammer bis die Vergasung vorbei war, und so konnten sie das Geschrei der Getöteten hören. Nachdem alle Opfer tot in der Gaskammer lagen, haben die Sonderkommando-Häftlinge die Leichen aus der Kammer herausgezogen. Die Leichen wurden mit den Händen oder mit Gurten heraus gezogen. Danach haben die Häftlinge die Körper der Leichen durchsucht um Wertsachen wie Ringe, Ketten, Ohrringe usw. zu finden. Sie haben die Goldzähne der Ermordeten entfernt und den Frauen das Haar abgeschnitten. Diese Gruppe wurde „Die Dentisten“ genannt. Eine weitere Gruppe des Sonderkommandos hat sich mit der Verbrennung der Leichen beschäftigt. Sie hießen „Die Heizer“. 46 Verbrennungsöfen standen zur Verfügung. Die letzte Aktivität war es die Knochen und Körperteile, die nicht verbrannt wurden, zu zerstückeln. Am Ende wurde die Asche zum Fluss Weichsel gebracht und dort ins Wasser gestreut. Die Aktion der Tötung basierte auf zwei wichtigen Prinzipien: Betrug und Lüge. Und: Vertilgung aller Spuren des Verbrechens. Die Ermordung war so systematisch organisiert, dass später keine Spur von den Opfern auffindbar blieb.

RK: Wie war die Situation, kurz vor der Befreiung, die dazu geführt hat, dass mehr als 80 Juden der Sonderkommandos überlebt haben…

Greif: Die letzten 80 bis 100 Sonderkommando-Häftlinge befanden sich in einer Barracke und sollten bestimmt vor der Evakuierung des Lagers als „Geheimnisträger“ getötet werden. In den wenigen Tagen vor der Evakuierung herrschte im Lager ein extremes Chaos und die SS-Leute haben die letzten Sonderkommando-Häftlinge einfach vergessen. Das war ein Zufall, ein reiner Zufall. Die sollten alle sterben, die waren doch „Geheimnisträger“. Die durften nicht überleben, das war undenkbar!

RK: Die haben sich dann unter die übrigen Fliehenden gemischt?

Greif: Die Sonderkommando-Häftlinge mischten sich unter die Tausenden Häftlinge, die Auschwitz mit den sogenannten Todesmärschen verlassen haben. Sie verstanden gut, dass das ihre letzte Chance zu überleben sei.

RK: Einen weiterer Teilbereich Deiner Forschung bilden ja die Tagebücher, welche Häftlinge, die wussten, dass sie ermordet werden, geschrieben und dann in der Erde von Auschwitz vergraben haben.

Greif: Du meinst bestimmt die „Geheimen Schriften“ der Menschen vom Sonderkommando. Das waren dokumentarische Notizen, die einige der Leute vom Sonderkommando heimlich in ihren Blöcken geschrieben haben um den nächsten Generationen eine schriftliche und authentische Aussage zu hinterlassen. In der Gruppe, die sich mit dieser Dokumentation beschäftigte waren sehr gebildete Menschen, die teilweise sehr religiös waren, die es als ihre moralische Pflicht angesehen haben die Geschichte, so wie sie war, weiterzugeben. Die Schriften, die in verschiedenen Gefäßen versteckt wurden, wurden im Boden von Birkenau an mehreren Orten vergraben. Die erste Schrift wurde auf dem Terrain des Krematorium Nr. 3 schon im März 1945 gefunden, als die sowjetische Untersuchungskommission mit ihrer Arbeit begann. Danach wurden weitere Teile der Schriften gefunden, aber das sind bestimmt nicht alle. Diese Schriften gehören zu den wichtigsten Dokumenten aus der Zeit der Shoah. Sie wurden mit großem literarischen Talent, auf sehr hohem Niveau geschrieben und sind gleichzeitig sowohl historisch als auch literarisch anspruchsvolle Texte. Die Tragödie der Juden in Auschwitz und in der Shoah überhaupt kann anhand dieser Dokumente besser verstanden werden.

RK: Ich möchte noch einmal den Versuch machen, an deinen biographischen Motiven für deine Arbeit anzuknüpfen. Im Vorwort von „Wir weinten tränenlos…“ bemerkst Du: „Die erste Begegnung mit diesen Erinnerungen war überwältigend.“ Ich habe das Gefühl, dass diese Erfahrung zum treibendsten Motiv deines Forschens geworden ist.

Greif: Mein erstes persönliches Treffen mit einem Sonderkommando-Überlebenden war ein unvergessliches Erlebnis. Es war fast unglaublich, dass ich an einem Tisch, zusammen mit einem Menschen, der im Krematorium gewesen ist, sitze. Ich habe es kaum geglaubt. Was ich sofort begriffen habe war, dass diese wenigen Überlebenden nie systematisch befragt wurden, und schon damals habe ich mich spontan dafür entschieden, mein Leben der Dokumentation dieser Zeugen zu widmen – das sind doch die wichtigsten Zeugen für die „Endlösung der Judenfrage“. Bis dahin, das war 1986, ergriff niemand die Initiative diese Leute zu befragen und ihre Erfahrungen zu dokumentieren bevor sie sterben.

BN: Hieran eine Anschlussfrage: Überlebende dieses Infernos: Wie können die weiterleben? Müssen die nicht und haben die nicht versucht, vielleicht in völlig unterschiedlicher Weise, ihr Schicksal, das, was sie erlitten haben, in irgendeiner Weise für sich selbst in einen Sinn zu kleiden, in eine Sinn-Konstruktion einzufügen? Wie ist das möglich? Wie ordnet jemand solche traumatischen Erfahrungen in seine Lebensgeschichte ein?

Greif: Die Überlebenden des Sonderkommando hatten von allen Holocaust-Überlebenden die größten Schwierigkeiten, ein neues Leben nach der traumatischen Epoche der Shoah zu beginnen. Ich weiß wirklich nicht, wie man weiter leben kann, nachdem man Wochen oder Monate lang nur von Leichen und Asche umgeben war. Trotzdem haben diese Überlebenden alles getan um zu überleben und nach Auschwitz ein neues Leben zu beginnen. Sie haben studiert, Familien gegründet und Kinder bekommen. Jeder hat sich individuell seinen Weg zum Leben gesucht und danach gelebt.

Ich möchte hier ein Beispiele geben: Jehoshua Rosenblum war ein Überlebender; er ist  leider vor einigen Jahren verstorben. Rosenblum hat in Israel eigentlich seine Aufgabe im Krematorium in Auschwitz gemacht: Er hat als Totengräber in der „Chevra Kaddischa“ gearbeitet, in der staatlichen Firma, die Beerdigungen organisiert. Ich habe ihn einmal gefragt, ob das ein Zufall war und er antwortete:“In Auschwitz konnte ich die Leichen nicht respektvoll begleiten und deshalb mache ich das jetzt mit Respekt und Würde. Jetzt kann ich erreichen, was ich in Auschwitz nicht konnte: den Ermordeten eine letzte Ehre erweisen.“

RK: Du hast mit sieben Überlebenden des Sonderkommandos ausführliche Interviews geführt. Hierbei hast du diese schwer traumatisierten Menschen mit ihrem grausamen Schicksal konfrontieren müssen – um die historische Wahrheit dieser Verbrechen gegen die Menschheit für die Nachwelt zu rekonstruieren, aufzubewahren. Welche Erinnerungen hast du an den Verlauf dieser Gespräche? Wie vermochten deine Gesprächspartner – die z.T. erstmals in Anwesenheit ihrer Familie über diese ihnen aufgenötigte Teilnahme an den Verbrechen gesprochen haben – mit diesen emotionalen Schwierigkeiten umzugehen?

Greif: Die Gespräche mit den Überlebenden sind eine große Herausforderung für mich gewesen und benötigten, außer guten historischen Kenntnissen, auch Feinfühligkeit, „diplomatische“ und psychologische Talente und Verständnis für die Gefühle, die die Überlebenden zeigten. Die Narben sind noch nicht verheilt, die Wunden sind weiter offen. Ich musste vorsichtig sein, diese nicht zu vertiefen oder schlimmer zu machen. Ich wollte alles sofort wissen, aber um das Ziel zu verwirklichen musste ich Umwege nehmen. Ich habe mit allen Mitteln versucht eine erneute Traumatisierung zu verhindern. Deshalb bin ich in meinen Interviews immer sehr behutsam vorgegangen. Die direkten, schmerzhaften Themen habe ich erst später angesprochen, wenn ein wirkliches Vertrauensverhältnis entstanden ist.. Natürlich habe ich hierbei immer wieder die Erfahrung gemacht, dass einige Themen nicht wirklich zur Sprache gebracht wurden – zum Selbstschutz meiner Gesprächspartner. Mein Arbeitsgrundsatz war, dies zu respektieren. Dennoch denke ich, dass ich über 80 Prozent der historischen Wahrheit erfahren habe. Nur in einzelnen Situationen habe ich etwas Druck ausgeübt, jedoch nur behutsam. Gelegentlich habe ich Themen, die anfangs von den Shoahopfern ausgeblendet wurden, bei einem späteren Interview wieder aufgegriffen. Sie hatten diese Themen dann häufig schon wieder vergessen. 

RK: Wie, würdest du sagen, bist du selbst mit diesen inneren Schwierigkeiten, diesen moralischen Grenzfragen, umgegangen? Bei deinen im Buch dokumentierten Interviews bleibt deine Empathie stets erkennbar.? Wie bist du mit deinen eigenen Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühlen umgegangen?

Greif: Ich beschäftige mich seit 30 Jahren professionell mit diesen Themen. Natürlich habe ich, wohl auch unbewusst, Methoden entwickelt, um eine bestimmte Distanz zu bewahren. So eine Distanz ist essentiell um sich mit dem Thema der Shoah professionell und wissenschaftlich zu beschäftigen. Vermutlich kann man meine Grundhaltung mit der eines Arztes vergleichen, der Wunden operiert. Ich habe mich innerlich immunisiert, möchte wirklich alles hören, alle diese Geschichten interessieren mich sehr. Ich war bei meinen Gesprächen mit den Sonderkommando-Häftlingen innerlich wirklich auf das Schlimmste vorbereitet. Ich habe auch fürchterliche Dinge gehört. Aber ich habe meine Empfindlichkeit dennoch erhalten, wie auch die Empfindlichkeit meiner Gesprächspartner wahrgenommen. Wenn ich gemerkt habe, dass ich an einen Grenzpunkt komme, habe ich aufgehört.

Ich war moderat, mild zu den Leuten, meistens. Wenn sich ein Vertrauensverhältnis zwischen uns eingestellt hat habe ich eigentlich alles erfahren.

RK: Es ist von Überlebenden immer wieder davon berichtet worden – sofern sie überhaupt hierüber zu sprechen vermocht haben – dass sie in ihren Träumen an den Ort ihrer Entmenschlichung zurückgekehrt sind, so auch die Brüder Abraham und Shlomo Dragon, die es bis heute nicht fassen können, dass sie die Hölle überlebt haben. Doch die Tatsache, dass sie am Leben geblieben sind, das sei die beste Rache an den Mördern, sagen die Brüder. Dabei war doch ihr Überleben gar nicht vorgesehen. Sollte uns dieser Triumph des Überlebens vielleicht als eine besondere, Form einer existentiellen Gerechtigkeit erscheinen?

Greif: Ich denke, dass das den Überlebenden selbst nicht genug ist. Die Verbrecher müssen bestraft werden. Im Laufe der Shoah, als Juden die Barbarei der Deutschen gesehen und gefühlt haben, die grenzenlose Bösartigkeit und die extreme Aggressivität, haben sie spontan für Rache gebetet. Das Wort Rache („Nekamah“ in Hebräisch, „Nekumeh“ in Yiddish) wurde an den Tötungsorten auf Wände und auf Papier geschrieben. Gemeint war bestimmt etwas aktives, reales und nicht ein symbolischer Schritt. „Nikmat dam yeled katan od lo bara hasatan“ (die Rache eines kleinen Kindes hat der Satan noch nicht erschaffen), steht im alten Testament. Wenn sogar heute noch tausende von Mördern in Europa und Südamerika frei herumgehen, dann finde ich es sehr schlimm. Zur Zivilisation gehört die Strafe. Rachegefühle reflektieren ein legitimes Gefühl. Ein SS-Mann, der ein Baby gegen die Mauer geworfen hat darf nicht in Ruhe weiter leben. Leider sind mehrere NS-Verbrecher ohne Strafe gestorben, oder leben weiter. Die sehen, wie ein Baby gegen die Mauer geworfen wird, und sein Gehirn liegt auf dem Boden zerstreut… Diese Reaktion hierauf ist normal, das ist menschlich. Und mein Eindruck ist: Wir haben das, was uns die Toten aufgetragen haben, nicht (den Auftrag, den uns.. nicht erfüllt. Ein Verbrecher muss bezahlen. Die Verbrecher haben nicht bezahlt. Und wenn sie bezahlt haben war das minimal, zu wenig, viel zu wenig. Die Tatsache, dass heute noch in Deutschland Tausende von SS-Männern, Mördern, brutale, sadistische Männer auf der Straße sind, reich, glücklich, mit Familie, mit Villen, frei herumlaufen, sich nicht schämen, das ist eine Schande für die Welt, für die Moral der Welt. Rache ist eine menschliche, natürliche Sache, für die man sich nicht schämen muss.

Es ist wahr, dass viele Überlebende die Gründung von Familien, die Geburt ihrer Kinder als einen großen Triumph über Hitler empfinden. Ich denke jedoch, dass dies auch ein wenig eine Illusion ist. Dass das jüdische Volk überhaupt noch existiert ist, natürlich ist das auch unser Triumph. Entsprechend den deutschen Plänen, sollte kein einziger Jude mehr existieren – auch ich sollte nicht hier sitzen. Wenn ein Mann wie Josef Mengele in Überfluss stirbt, ohne Strafe, dann ist das ein Schandfleck auf unserer Humanitas, auf unserer menschlichen Moralität. Mengele hätte im Gefängnis sterben sollen. Es ist zu wenig geschehen. Strafe gehört zum Leben, Rache ist nichts Negatives.

RK: Es hat in der Bundesrepublik nur eine sehr verspätete juristische „Aufarbeitung“ der deutschen Verbrechen gegeben. Von Adenauer stammt der kennzeichnende Satz: „Schluss mit der „Nazi-Riecherei“ aus dem Jahr 1953. In Israels öffentlicher Verarbeitung des Holocaustprozesses bildete der Eichmann-Prozess eine scharfe Zäsur. In Deutschland löste erst der von Fritz Bauer vorangetriebene Frankfurter Auschwitz – Prozess eine wirkliche öffentliche Reaktion aus. Welche Bedeutung haben aus historischer Sicht diese Gerichtsprozesse seit den 60er Jahren für das öffentliche Bewusstsein in Israel und Deutschland?

Greif: Die Prozesse gegen Nazi-Verbrecher, die in Frankfurt (1963-1965) und Düsseldorf (1975-1977) stattfanden, hatten eine große Bedeutung für das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft bezüglich der Shoah. Diese Prozesse bekamen viel Aufmerksamkeit, waren in der Presse. Das Thema „Shoah“, das bis dahin unterdrückt wurde ist plötzlich laut auf die Bühne getreten und hat an Bedeutung gewonnen. Die Materialien, die für die Prozesse gesammelt wurden, haben die historischen Quellen bereichert. Außerdem – und das ist wahrscheinlich das Wichtigste: Es wurde Gerechtigkeit verübt. Die Verbrecher wurden verurteilt, wurden ins Gefängnis gebracht, und die Überlebenden hatten durch das Ausüben von Gerechtigkeit wenigstens ein wenig Satisfaktion.

RK: Primo Levi hat das tragische Dilemma der „Aufklärung“ über die Shoah in eindrücklicher Weise beschrieben: „… jenseits unserer individuellen Erfahrungen sind wir alle miteinander Zeuge eines grundlegenden und unerwarteten Geschehens gewesen, das ebendarum grundlegend war, weil es unerwartet war, von niemandem vorausgesehen. (…) Unfasslicherweise hat es sich ereignet, dass ein ganzes zivilisiertes Volk, das die schöpferische kulturelle Blüte der Weimarer Zeit gerade hinter sich gelassen hatte, einem Hanswurst folgte, der einen heute nur noch zum Lachen bringt. Und dennoch gehorchte man Adolf Hitler und bejubelte ihn bis zur Katastrophe. Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ Ist die Shoah Vergangenheit, oder kann sie sich wiederholen?

Greif: Erstens: Historische Prozesse können sich nicht genau identisch wiederholen. Zweitens: Die Shoah, als sie geschehen ist, hatte keinen historischen Vorläufer, überstieg das menschliche Vorstellungsvermögen. Es gab keine Shoah vor der Shoah, deshalb waren die Juden so schlecht darauf vorbereitet. Heute sind wir hierauf vielleicht besser vorbereitet.

Einige Bedingungen haben sich geändert seit dem Holocaust, andere nicht. Was sich nicht geändert hat seit dem Holocaust ist der Hass gegenüber den Juden. Man muss nur in den Elsass oder nach Paris gehen, wo heute die Grabsteine der Juden beschmiert werden. Grundsätzlich werden die Juden weiter gehasst, wie damals. Damit müssen wir leben. Natürlich gibt es auch heute noch Leute, die sich sehr freuen würden, Auschwitz noch einmal in Gang zu setzen. Aber die Gegenkräfte, die es damals nicht gegeben hat, die existieren heute. Die demokratischen, liberalen, humanistischen Kräfte sind bestimmt stärker geworden. Also, ich bin nicht pessimistisch, nein. Keinesfalls. Das kann sich bestimmt nicht so wiederholen.

RK: Gideon, ich, wir danken Dir für dieses lange Gespräch.

Bild oben: Yad vaShem Gedenkstätte, Jerusalem, (c) haGalil

Literatur

Greif, G. (1995): Wir weinten tränenlos – Augenzeugenberichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz. Frankfurt/M. (Fischer TB) 1999.
Greif, G./C. McPershin/L. Weinbaum (Hg.) (2000): Die Jeckes: Deutsche Juden aus Israel erzählen. Köln-Wien (Böhlau).
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Angaben zum Autor

Dr. Gideon Greif, geb. 1951, israelischer Historiker und Pädagoge, stammt aus einer deutschsprachigen, jüdischen Familie und arbeitet als Historiker und Pädagoge an der jüdischen Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Israel. Dr. Greif widmet sich seit über 25 Jahren der Erforschung der Shoah. Im Zentrum seiner Recherchen steht die Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Sein erstes, auf Deutsch veröffentlichtes Buch erschien 1995 im Böhlau-Verlag: “Wir weinten tränenlos – Augenzeugenberichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz“ (auch Fischer TB 1999). 2000 Promotion an der Universität Wien. Gastprofessur am ”Center for Contemporary Judaic Studies” an der Universität Miami, Florida. Dr. Gideon Greif hat eine Vielzahl von Dokumentationen über die Shoah für den israelischen Rundfunk und das israelische Fernsehen produziert. Weitere Publikationen von Gideon Greif auf deutsch: (Hg., 2000, zus. mit McPershin/Weinbaum): Die Jeckes: Deutsche Juden aus Israel erzählen (Böhlau) (s. hierzu dessen Rezension in psychosozial Nr. 94 (4/2003), S. 134-136); Stufen der Auseinandersetzung im Verständnis und Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft, 1945 – 2002, psychosozial, 26. Jg., Nr. 93, Heft III/2003, S. 91-105; Ein abgeschnittenes Leben. Das Tagebuch von Etty Hillesum 1941–1943: In: Walter Schmitz (Hrsg.): Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden. Dresden 2003; Anklageschrift: Deutsche, Polen, Juden. Die Versteckten Tagebücher von Calel Perechodnik: In: Walter Schmitz (Hrsg.): Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden. Dresden 2003; Aufstand in Auschwitz. Die Revolte des jüdischen „Sonderkommandos“ am 7. Oktober 1944 (unter Mitarbeit von Itamar Levin), Köln 2015.

[1] Danksagung: Dieses Interview wurde mit Hilfe von Herrn Nikolaus Wildner aus Wien bearbeitet. Roland Kaufhold und Gideon Greif sind Herrn Wildner für seine Arbeit sehr dankbar. Marga Ostrowski (Köln) war uns bei der Verschriftlichung dieses Interviews eine wertvolle Hilfe. Frau Dr. Cordula Lissner (Köln) danke ich für ihre Hilfe bei der Kürzung dieses Manuskriptes.
[2] Greif, G./C. McPershin/L. Weinbaum (Hg.) (2000): Die Jeckes: Deutsche Juden aus Israel erzählen, Köln (Böhlau); s. hierzu dessen Rezension in psychosozial Nr. 94 (4/2003), S. 134-136.
[3] Dr. Yithak Ernst Nebenzahl war Staatskontrolleur und Ombudsmann 1961-1981