Alija als pädagogisches Konzept – die Landkarte von Erez Israel als Lehrplan…
Von Jim G. Tobias
Schon kurz nachdem die nationalsozialistischen Lager befreit worden waren, organisierten sich jüdische Überlebende und stellten sich die Frage, was nun, wohin gehen? Denn die Welt zeigte kaum Interesse an dem Leid der ehemaligen Häftlinge; sie hieß die Menschen, die am schwersten unter dem NS-Regime gelittenen hatten, nicht mit offenen Armen willkommen. Doch statt in Verzweiflung zu verfallen, nahmen die Überlebenden ihre Geschicke in die eigene Hand: „Wir gründen einen Kibbuz, hier in Deutschland, wo junge und tatkräftige Juden sich auf Palästina vorbereiten können“, gab ein ehemaliger Häftling aus dem Konzentrationslager Buchenwald zu Protokoll. „Durch körperliche Arbeit im Kibbuz wollten wir zeigen, dass sie uns nicht vernichtet haben; dass wir nicht aufgeben, unser Leben neu aufzubauen. Wir wollten unsere Abneigung gegen ein Weiterleben in den Camps deutlich machen, auch als befreite Menschen, die nicht gewillt sind, von der Gnade anderer zu leben.“
Am 3. Juni 1945 entstand auf einem Landgut in der Nähe von Weimar der erste Kibbuz im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Die Gründer nannten ihr temporäres Zuhause „Kibbuz Buchenwald“, und erinnerten damit an ihr Verfolgungsschicksal, knüpften aber gleichzeitig an die zerschlagene Tradition der Hachschara-Bewegung der Vorkriegszeit an. Eine ganze Diaspora-Generation junger jüdischer Pioniere hatte sich bis in die NS-Zeit hinein auf ein Leben als genossenschaftlich organisierte Pioniere vorbereitet. Getreu der schon 1896 niedergeschriebenen Prophezeiung von Theodor Herzl: „Durch Druck und Verfolgung sind wir nicht zu vertilgen. Kein Volk der Geschichte hat solche Kämpfe und Leiden ausgehalten wie wir“. Dies hatte der Begründer des modernen Zionismus in seinem Essay „Der Judenstaat“ formuliert. Die Idee von einer eigenen „Heimstatt in Palästina“ begeisterte Juden in ganz Europa, die das Projekt „Assimilation“ als gescheitert betrachteten und eine wirkliche Emanzipation nur in einem souveränen jüdischen Staat verwirklicht sahen.
Im Sommer 1945 übersiedelten die Palästina-Pioniere des Kibbuz Buchenwald nach Hessen und richteten sich auf dem Geringshof bei Fulda ein. Dieses Gehöft hatte schon in der Weimarer Republik eine Hachschara beherbergt. Ob die neuen Bewohner zu dieser Zeit schon aktive Zionisten waren oder sogar eine Hachschara besucht hatte, ist fraglich, denn viele Shoa-Überlebenden standen vor dem Krieg der zionistischen Idee eher ablehnend gegenüber. Erst aufgrund der schrecklichen Erfahrungen im NS-Regime änderten sie ihre politische Ansicht grundlegend: In Europa war ein sicheres, freies und gleichberechtigtes jüdisches Leben nicht mehr garantiert. Der Zionismus hatte sich zur dominanten Lebensphilosophie entfaltet, die Zionisten boten ein Programm, welches Sinn ergab und zukunftsträchtig schien. Die Überlebenden sahen sich als Träger einer historischen Mission, die ihre Pflicht gegenüber den Toten erfüllten. Daher entwickelten nicht wenige junge Juden eine fast religiöse Palästina-Sehnsucht. Nur mit der Gründung eines eigenen Staates war nach ihrer Überzeugung eine erneute Katastrophe zu verhindern.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus war es in Deutschland für einige Jahre zu einer Wiedergeburt des fast vollständig vernichteten jüdischen Lebens in Europa gekommen. In den zahlreichen Displaced Persons (DP) Camps entstand temporär eine nahezu autonome Gesellschaft mit Selbstverwaltungskomitees, Synagogen, politischen Parteien, Sport- und Kulturvereinen, Bibliotheken, Theatern, Zeitungen sowie allgemeinbildenden und berufskundlichen Schulen.
Oberstes Ziel war es, die gesamte Jugend im Sinne des jüdisch-nationalen Projektes zu erziehen und nach Erez Israel zu bringen. Insbesondere in den zahlreichen Hachscharot und Kinderlagern rangen die Jugendbewegungen um Einfluss und Mitglieder. Diese Organisationen, die bereits vor der Shoa in Osteuropa enormen politischen Einfluss hatten, vertraten drei große ideologische Strömungen: Auf der linken Seite des Spektrums standen zum Beispiel der Haschomer Hazair, der die zionistische Idee mit einem orthodoxen Sozialismus verband, die eher sozialdemokratisch orientierten Gruppierungen Hanoar Zioni oder Dror, während der Brit Trumpeldor (Betar) das politische rechte Lager innerhalb des Zionismus vertrat. Hinzu kamen die im Merkas Ruchani (Misrachi) vereinten religiösen Zionisten. Trotz aller weltanschaulichen Unterschiede gab es einen gemeinsamen Ansatz: der Zionismus als pädagogisches Konzept – die Landkarte und Geschichte von Erez Israel als Curriculum.
Schon im Jahr 1946 hatten sich Tausende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Kibbuzim zusammengeschlossen. Mit dem Begriff Kibbuz kann sowohl eine Hachschara wie auch eine Gruppe innerhalb einer zionistischen Organisation bezeichnet werden. Beide Zusammenschlüsse zielten darauf ab, als Kollektiv gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Für das Jahr 1946 lassen sich 40 als Hachscharot bezeichnete Trainingsfarmen in der US-Besatzungszone Deutschlands nachweisen sowie eine Vielzahl von Kinderzentren, die zumeist von einer zionistischen Jugendorganisation dominiert wurden. Als Beispiel hierfür steht etwa das Kinderlager im Kloster Indersdorf (Oberbayern), das ab Mitte 1946 Mädchen und Jungen der Bewegung Dror-Habonim beherbergte oder die Ortschaft Lindenfels (Hessen), in der in mehreren Hotels ein Camp für Mitglieder des Haschomer Hazair errichtet wurde. Im zentralen Auffanglager für unbegleitete Kinder, in der ehemaligen Pionierkaserne in Rosenheim, waren jedoch alle politischen und religiösen Gruppierungen vertreten, die von einer Zukunft in Erez Israel träumten. Die Wände ihrer Unterkünfte waren mit Bildern aus Palästina, Fotos von sowohl historischen wie auch zeitgenössischen zionistischen Persönlichkeiten, als auch mit Parolen in hebräischer Sprache sowie Landkarten von Erez Israel dekoriert. „Oft waren auch die Fenster und Decken mit Girlanden aus Papier in den Farben von Palästina, blau und weiß, sowie dem Davidstern verziert.“
Zum ersten Mal in der Geschichte war die zionistische Idee nicht nur eine Theorie, sondern verkörperte eine Handlungsoption, die eine greifbare Möglichkeit eröffnete, die Zukunft konkret zu gestalten. Sie wurde in den Camps zu einem gelebten kulturellen Konzept, bei dem man insbesondere die jüdischen Feiertage als nationale, zionistische Festtage interpretierte: „Der jüdische Kalender bestimmte den Lebensrhythmus in den Camps und förderte sowohl die ethnische als auch spirituelle Identität“. Festtage wie Pessach, Chanukka oder Purim erhielten damit neben ihrer religiösen Bedeutung bewusst eine politische Aussage, die auf der Befreiung aus der Galut, der Diaspora, und der damit verbundenen Gründung eines jüdischen Nationalstaates basierte. Der traditionelle Pessach Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“, war plötzlich nicht mehr nur ein Wunsch, sondern eine konkrete, reale Möglichkeit. Auch Gedenktage hatten einen besonderen Stellenwert und wurden zur Formung eines nationalen Identitätsgefühls benutzt. Zum Lag BaOmer-Fest 1946 trafen sich in Lindenfels rund 1.300 Haschomer Hazair-Mitglieder und feierten das religiöse Fest als den Tag ihrer Bewegung; das Lag BaOmer Fest hat seinen Ursprung im heldenhaften Bar Kochba-Aufstand gegen die Römer im 2. Jahrhundert nach der Zeitrechnung. Ebenso wurden Todes- oder Geburtstage von zionistischen Führern oder Kulturträgern, wie beispielsweise Theodor Herzl oder Chaim N. Bialik, sowie wichtige geschichtliche Ereignisse, etwa der Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes oder der Kampf um Tel Chaj, als zionistische Hochämter zelebriert.
Um der Zersplitterung des zionistischen Spektrums innerhalb der Jugend Einhalt zu gebieten, initiierte das Zentralkomitee der befreiten Juden bereits 1945 einen neuen zionistischen Verband, die Noar Chaluzi Meuchad, kurz Nocham genannt. Die Vereinigten Jugendpioniere, so die deutsche Übersetzung, sollten die verschiedenen zionistischen Gruppierungen zur Zusammenarbeit bewegen, und insbesondere die Jugend in den Hachscharot ideologisch und praktisch auf ihre Zukunft als Einwanderer und Pioniere vorbereiten, die als Siedler mit geschultertem Gewehr das Land bestellen und verteidigen.
Im Herbst 1945 verfasste Nocham in der Landsberger Lager Cajtung einen Aufruf an die Jugend: „Die Idee einer nationalen Wiedergeburt war trotz des schweren Krieges und der Jahre im Konzentrationslager immer in den Köpfen der Jugend tief eingebrannt. Es ist dem Feind nicht gelungen, die Kraft der Hoffnung zu zerstören, die uns während des gesamten Martyriums begleitet hat“, stellte der Journalist mit Zufriedenheit fest. „Und die Jugend hat uns verstanden, unseren Ruf erhört, und sich uns angeschlossen. Heute ist die Jugend sowohl kulturell als auch im produktiven Bereich tonangebend, sie hat als erster das alte, deformierte Leben und Denken hinter sich gelassen.“ Damit spielte der Autor auf die von den Zionisten so empfundene apathische Ghettomentalität der osteuropäischen Juden an. „Schließt euch uns an – sichert eure Zukunft. Lasst uns die Idee von einem freien jüdischen Leben in einem eigenen Staat verwirklichen – für euch und zukünftige Generationen, für das gesamte jüdische Volk!“
Ein neuer demokratischer jüdischer Patriotismus, der sich aus Elementen des Nationalismus, Sozialismus und Humanismus speiste und alle parteipolitischen Gräben überwindet, sollte schon in den DP-Camps verwirklich werden. „Diese neue geistige Strömung kann nur eine einheitliche sein, die auf Disziplin und Autorität basiert“, betonte Samuel Gringauz, Mitglied des Zentralkomitees der befreiten Juden. Die Organisation Nocham als Sammelbecken aller Chaluzim war dafür hervorragend geeignet. Eine der ersten Nocham-Kibbuzim war die Hachschara auf dem Hof von Julius Streicher. Im November 1945 übernahmen junge jüdische Männer und Frauen den im Landkreis Fürth gelegenen Bauernhof von NSDAP-Gauleiter und Herausgeber des Stürmer, Julius Streicher. Ein halbes Jahr nach Kriegsende entstand somit auf dem ehemaligen Nazibesitz eine jüdische Bauernschule. Die Bewohner nannten ihr vorübergehendes Zuhause Kibbuz Nili, eine Abkürzung des Bibelzitats „Nezach Israel lo Jeschaker – das Volk Israel wird nie untergehen“. Ein noch von Streicher angebrachtes Schild mit der Aufschrift, „Ohne Lösung der Judenfrage gibt es keine Lösung der Weltfrage“, ließen die jungen Zionisten stehen. Für sie war diese Aussage mit der Errichtung eines eigenen jüdischen Gemeinwesens verbunden. „Jungen und Mädchen aus allen Ecken Europas sind gekommen, um Ackerbau und Viehzucht zu erlernen, Kenntnisse, die unbedingt erforderlich sind für den Aufbau von Erez Israel“, war in der Landsberger Lager Cajtung zu lesen. Nicht nur in Streichers Arbeitszimmer, in nahezu allen Räumen wurden hebräische Aufschriften und Parolen, wie etwa Am Israel Chaj (das Volk Israel lebt), angebracht. Über dem Hof wehte die weiß-blaue Fahne mit dem Davidstern.
Auch die erste Konferenz aller Nocham-Kibbuzim fand auf der ehemaligen Streicher-Farm statt, unter Beteiligung von Vertretern des Zentralkomitees, der Jewish Agency und mit Leo Schwarz, einem Mitarbeiter der jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation Joint. In seinen Erinnerungen beschreibt er das Treffen von über hundert jungen Männern und Frauen poetisch: „Diese Jugendlichen, wie sie herbeieilen, in ihren Stiefeln, Reithosen und offenen Hemden sind weder Tagträumer noch Gezeichnete der Nazibarbarei, sondern junge Veteranen aus den Wäldern Polens und des Baltikums, Partisanen und Ghettokämpfer, Wegbereiter des Staates, die den Boden Palästinas bestellen wollen.“ Das Ringen um Überleben und Menschlichkeit, seine spirituelle Kraft und die konkreten Erfahrungen, waren auch nach der Befreiung für viele Zionisten prägend. Sie sahen sich keineswegs nur als Opfer, sondern verstanden sich als Träger eines politischen Willens, die den Aufenthalt in den Kibbuzim als Fortsetzung ihres Kampfes in den Lagern und Ghettos während des Krieges begriffen.
Die zionistische Zusammenkunft löste bei allen Beteiligten Zufriedenheit und Genugtuung aus, nicht zuletzt deswegen, weil man sich ausgerechnet auf dem Hof des größten Judenhassers Julius Streicher getroffen hatte. Das Treffen endete mit einer Feierstunde zum 50. Jahrestag der Veröffentlichung von Theodor Herzls Buch Der Judenstaat und dem Absingen der Hatikwa. In einer Reportage der jiddischen Zeitung Undzer Wort wird der unbändige Lebenswillen und das starke Selbstwertgefühl der jungen Kibbzuniks in den Vordergrund gestellt, „die einen neuen jüdischen Menschen repräsentieren und der Welt das Gegenteil von dem beweisen, das der frühere Besitzer des Hofes in seiner lügnerischen und hetzerischen Zeitung Der Stürmer verbreitet hatte. „Die Chawerim werden systematisch zum erez-israelischen Leben erzogen, eine Wandzeitung, die alle zwei Wochen aktualisiert wird, legt darüber Zeugnis ab. Zudem ist schon beschlossen worden, dass die Mitglieder in Erez Israel einen neuen Kibbuz gründen werden, die Vorbereitungen dafür laufen bereits.“ Jeder Kibbuznik absolvierte die verschiedenen landwirtschaftlichen Abteilungen: Arbeit auf dem Feld, in der Milchwirtschaft, im Obstgarten und in der Geflügelzucht. Zudem lernten die Männer und Frauen täglich mehrere Stunden Hebräisch und erhielten ergänzenden theoretischen Unterricht in Ackerbau und Viehzucht – wichtige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Neubeginn in Israel. „Um dieses heilige Ziel zu erreichen, müsst ihr die Zeit, in der ihr auf Alija wartet, nutzen und die wichtige Ausbildung in den Hachscharot durchlaufen“, forderten die Zionisten immer wieder in eindringlichen Aufrufen an die Jugend in allen DP-Zeitungen. Von den im Dezember 1946 nachweisbaren 40 Hachscharot in der US-Zone wurden 17 von Nocham betrieben, drei von religiösen, zwei von rechten Zionisten (Betar); die restlichen Kibbuzim gehörten den Organisationen Haschomer Hazair, Dror oder Hanoar Zioni an.
Während in den Hachscharot Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen der verschiedenen Jugendbewegungen im Sinne des Zionismus herangezogen wurden, kümmerte sich eine eigene Abteilung innerhalb des Zentralkomitees der befreiten Juden um die Erziehung der Kinder im jüdisch-nationalen Sinn: das Board for Education and Culture. „Die heimatlosen DP-Kinder können erst dann aus ihrem Elend und ihrer Niedergeschlagenheit befreit werden, wenn wir ihnen beibringen, dass sie auch ein Land und eine eigene Heimat haben. Wenn das Kind sich als Bürger seines eigenen Landes begreift, wird sich das Gefühl einstellen, sich der gesamten Menschheit zugehörig zu fühlen. Nur so können wir ihm Selbstbewusstsein, Achtung vor sich selbst sowie Glauben und Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten verleihen“, heißt es im Gründungsdokument des Kulturreferats.
Zu den vordringlichsten Aufgaben nach der Befreiung zählte der Aufbau von eigenen Schulen. Schon Anfang Juni 1945 nahmen die erste jüdischen Bildungseinrichtungen ihre Tätigkeit auf. Spielte in den ersten Nachkriegsjahren der hebräische Sprachunterricht noch eine gleichberechtigte Rolle innerhalb des breiten Angebots in den Schulen, wurde ab 1947 der Lehrplan modifiziert und auf „ein allgemeines jüdisch-nationales Programm“ umgestellt, das ein „besonderes Gewicht auf den Hebräischunterricht“ legte. Neben weiteren allgemeinen Fächern wie Rechnen, Lesen, Schreiben, Musik und Sport standen zudem Jüdische Geschichte, Palästinografie und Bibelkunde auf dem Stundenplan. Den Unterricht übernahmen vielfach Lehrer aus Palästina oder Jugendbetreuer der verschiedenen zionistischen Organisationen. Den zumeist selbst noch jugendlichen Madrichim gelang es, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, ihren Zöglingen auch das zerstörte Elternhaus zu ersetzen. „Wir werden sie vor allem Bösen beschützen und ihnen alles geben, bis zu dem Tag, da ihre Alija bevorsteht“, erklärten sie gegenüber einem Journalisten der Zeitung Nizoz (Funke).
Die Grundstimmung in den Schulen war deutlich zionistisch; praktisch ohne Ausnahme träumten die Kinder von Erez Israel. Ihre Parole war „BaDerech“, „Auf dem Weg“. Diesem Ziel wurde alles untergeordnet. Das Klassenzimmer war bereits ein Teil des noch nicht existenten jüdischen Staates, der ein Schiff zur Rettung geschickt hat, auf dem die Kinder ihre Überfahrt ersehnten und dabei die Lieder der neuen Heimat sangen. „In allen Räumen befanden sich Dekorationen, die das Leitmotiv Rückkehr thematisierten, Plakate mit hebräischen Slogans und dem Davidstern, die den heimatlosen Kindern den Weg wiesen, in ihr eigenes Land, das sie erwartete“, notierte Marie Syrkin, eine US-amerikanische Zionistin nach dem Besuch einiger Schulen. In ihrer Studie über die jüdischen DP-Schulen zitiert Syrkin auch eine US-Pädagogin, die die einseitige Ausrichtung der Jungen und Mädchen auf Erez Israel als „Indoktrinierung“ rügt. Die jüdischen Lehrkräfte wiesen diesen Vorwurf zurück: „Möglicherweise entspricht es nicht einer guten Erziehungskunst, nur eine Seite darzustellen“, sagte eine Betreuerin, „aber wir können uns solchen Luxus nicht leisten: Die Kinder haben nichts, gar nichts. Über was sollen wir mit ihnen reden? Über die Segnungen Polens? Die kennen sie. Über die Visa nach Amerika? Die bekommen sie nicht. Die Landkarte von Israel ist ihre einzige Rettung. […] Indoktrinierung mag für normale Kinder in einer normalen Umgebung schlecht sein. Aber was ist an unserer Lage normal?“
Shlomo Arad, der im Untergrund überlebte und als Zehnjähriger von einer Haschomer Hazair-Gruppe ins erste jüdische Kinderlager in Ansbach-Strüth gebracht wurde, erinnert sich an die klare zionistische Ausrichtung, die den Alltag beherrschte. „Das Heim in Strüth war der Weg nach Erez Israel, die beste Vorbereitung für Israel, weil wir schon dort die Sprache und die Geschichte des Landes lernten. Wir haben hebräische Lieder gesungen, ich verstand nicht ein Wort, erst Jahre später habe ich den Inhalt verstanden. Die Erziehung war schon so, dass du stolz auf deine zionistische Jugendgruppe bist, vielleicht war das eine Art Gehirnwäsche.“
Wie die Führungspositionen in den Schulen, den Camps und Zeitungsredaktionen wurden auch die Sportvereine von den Zionisten beherrscht. Das drückte sich in deutlich den Namen der einzelnen Klubs aus: wie etwa Hatikwa (die Hoffnung), Hagibor (der Held), Kadima (Vorwärts), Hapoel (der Arbeiter) oder sie nannten sich einfach nach dem jüdischen Freiheitskämpfer Jehuda Makkabi.
Ab 1946 führte die jüdische Untergrundarmee Hagana erste, als sportliche Betätigung getarnte, militärische Übungen für den sich abzeichnenden israelischen Unabhängigkeitskrieg durch. „Wir stehen im Brennpunkt der Mobilisation der Jugend der Scheerit Hapejta und müssen die Reihen des kämpfenden Jischuw verbreitern“, hieß es in einem Aufruf der jüdischen Turn- und Sportvereine. Dieser Appell blieb nicht ungehört, teilweise folgten ihm komplette Mannschaften. „Wir Sportler müssen beweisen, dass wir die Avantgarde unseres Volkes sind“, bekräftigte die Jidisze Sport Cajtung, „aus unseren Reihen werden die Helden kommen, die die Fahne der Befreiung und Unabhängigkeit von Erez Israel tragen.“
Überall in Deutschland entstanden zu dieser Zeit Anwerbungszentren für jüdische Soldaten, da die politische Situation in Palästina sich zwischenzeitlich verschärft hatte; die Angriffe arabischer Milizen auf jüdische Städte und Ansiedlungen nahmen stetig zu. Der Wehrdienst für einen noch nicht existierenden Staat galt als nationale Pflicht, die insbesondere von den Kibbuzniks und den Bewohnern der Kinder- und Jugendlager mit Freude erfüllt wurde. Für sie war die Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen gleichbedeutend mit dem Erhalt einer Fahrkarte nach Erez Israel. Über 70 Prozent der an den Kämpfen Beteiligten waren im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Insgesamt beteiligten sich etwa 22.000 Überlebende der Shoa aus den Displaced Persons-Camps am israelischen Unabhängigkeitskrieg.
Die Dominanz des Zionismus unter der jüdischen Jugend war unübersehbar und erfolgreich. Es war eine Zeit für junge Helden, die ihren Traum vom selbstbestimmten und freien Leben erfüllen wollten und in der Lage waren, den Pflug zu führen und eine Waffe zu tragen. „Die Errichtung des jüdischen Staates war der größte Wendepunkt in zweitausend Jahren jüdischer Geschichte“, schreibt der deutsch-amerikanische Historiker Walter Laqueur. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatten die zionistischen Jugendbewegungen, die sich in Deutschland wieder formieren konnten, inmitten der Trümmerlandschaft des besiegten Feindes, der die endgültige Vernichtung der Juden zu seinem Ziel erklärt hatte – und damit gescheitert war.
Eine längere Version mit Anmerkungen erschien unter dem Titel: Hoffnungsträger für Erez Israel – Die Jugend und der Zionismus in den Displaced Persons Camps 1945–1948, in: Sabine Hering u. a. (Hg.), Jüdische Jugendbewegung und soziale Praxis, Frankfurt/Main 2017.
Bild oben: Die Vereinigten Jugendpioniere des Kibbuz Nili auf dem Streicher-Hof (Noar Chaluzi Mechuad Kwuza Nili), Repro: nurinst-archiv
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