Georges Perec war Mitbegründer der Gruppe Oulipo, der »Werkstatt für potentielle Literatur«, und gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur. Gerade sind zwei seiner bedeutendsten Werke auf Deutsch erschienen…
Von Judith Heckel und Olaf Kistenmacher
Jungle World v. 13.09.2012
»Zu Anfang kann man nur versuchen, die Dinge zu benennen, eines nach dem anderen, oberflächlich, sie aufzuzählen, sie anzuführen, und das so banal wie möglich und gleichzeitig so genau wie möglich, und dabei versuchen, nichts zu vergessen«, schreibt der französische Autor Georges Perec im Begleitband zu seinem und Robert Bobers Filmprojekt über Ellis Island. Tatsächlich kommt den Gegenständen, die man im Alltag kaum bemerkt, in seinem literarischen Werk eine zentrale Bedeutung zu: als Konsumgüter, als Relikte der Vergangenheit oder auch als stille Helden einer neuen Form der Literatur. Anfang der siebziger Jahre protokollierte Perec über mehrere Tage von einem Café aus, was er sah: die vorbeifahrenden Linienbusse, die Farben in seinem Gesichtsfeld, die Tauben auf der Straße. Er ignorierte bewusst die markanten Gebäude und notierte nur, »was passiert, wenn nichts passiert außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken«. Sein Text »Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen« war damit zugleich der absurd-komische Versuch darüber, welche Form von Literatur entsteht, wenn man auf ihre wesentlichen Merkmale – Personen, Handlung, Leitthema – verzichtet.
1965 veröffentlichte der 29jährige Georges Perec, der als Dokumentar im Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung arbeitete, sein Romandebüt »Die Dinge«. Den Hauptfiguren nähert er sich über die seitenlange Beschreibung einer erträumten Wohnungseinrichtung: »Zuerst würde der Blick über den grauen Teppichboden eines langen, hohen und schmalen Korridors streifen. Die Wände wären Einbauschränke aus hellem Holz, deren Messingbeschläge glänzten.« Das Leben kann hier nur gelingen, wenn das perfekte Arrangement der perfekten Dinge erreicht ist. Der Roman beschreibt, als kühle Bestandsaufnahme, das Scheitern dieses Lebens, dessen Lauf von der ungeheuren Warensammlung bestimmt wird. Denn das junge Pariser Paar Sylvie und Jérôme, beide in der Marktforschung tätig, kann die Entfremdung in der modernen Welt nicht überwinden. Auch wenn sie die ersehnte Chesterfield-Couch besitzen werden, werden ihre Mahlzeiten »ganz einfach geschmacklos sein«. Während in seinem ersten Roman die Verzweiflung äußerlich bleibt und sich nur in der Jagd nach den sinnstiftenden Waren andeutet, erschließt Perec in seinem zweiten Roman, »Ein Mann der schläft« (1967), eine Innenansicht der Depression, die zugleich durch die verstörende Du-Form der Erzählung wie ein Selbstgespräch und eine Anweisung zur Identifizierung wirkt. Jemand hört plötzlich auf zu studieren, bleibt zu Hause, pflegt keine Kontakte mehr. »Du bleibst in deinem Zimmer, ohne zu essen, ohne zu lesen, fast ohne dich zu rühren. (…) Du hörst auf die Geräusche der Straße, auf den Wassertropfen am Hahn im Treppenvorraum, auf die Geräusche deines Nachbarn, sein Räuspern, die Schubladen, die er aufzieht und zuschiebt, seine Hustenanfälle, das Pfeifen seines Wasserkessels.« Der namenlose Protagonist versucht, nichts mehr zu fühlen, keine Unterschiede mehr zu machen, nichts mehr zu schmecken. Er versucht, sich anzueignen, »was man nicht lernen kann: die Einsamkeit, die Gleichgültigkeit, die Geduld, das Schweigen«. Essen wird zur bloßen Nahrungsaufnahme. Der Magen »macht keinen Unterschied mehr, wenn er je einen gemacht hat, und dein Gaumen ebenso wenig. Die Sprache ist widerstandsfähiger; du hast einige Zeit gebraucht, bis das Fleisch aufhörte, dünn, zart, faserig zu sein, die Fritten ölig und weich, der Wein trüb und sauer«.
Beide Romane handeln von der Überforderung des Individuums durch die moderne Warengesellschaft, in der Leben und Wünsche vorherbestimmt sind: »Auf einer breiten, vielseitigen Palette kannst du dir die Persönlichkeit aussuchen, die deinen Wünschen am meisten entspricht, sie wird nach deinen Maßen sorgfältig neu geschaffen«. Diesem Ziel kann man wie Jérôme und Sylvie hinterherjagen oder wie in »Ein Mann der schläft« versuchen, sich ihm zu verweigern. Es bleibt vergeblich. Die Welt ist den Individuen gegenüber gleichgültiger, als der Mensch ihr gegenüber je sein könnte: »Aber du bist so wenig und die Welt ist so ein großes Wort: (…) Die Gleichgültigkeit ist sinnlos.« Die narzisstische Phantasie, die Welt, die Geschichte, durch Nichtachtung beherrschen zu können, ist gescheitert. »Nein. Du bist nicht mehr der anonyme Herr der Welt, der, über den die Geschichte keine Macht hatte, der, der den Regen nicht fallen spürte, der die Nacht nicht kommen sah. (…) Du hast Angst, du wartest (…), dass der Regen aufhört zu fallen.« Die Angst kehrt zurück, die Einsamkeit, die Erinnerung und die Wünsche kehren wieder. »Du bist nicht tot. Du bist nicht verrückt geworden.« Sich von den Dingen zu befreien, die Welt zu beherrschen, ist unmöglich, und doch liegt Hoffnung auf Veränderbarkeit darin, dass Perecs Protagonist das Leiden daran und den Wunsch, es möge aufhören, wieder spüren kann. Zusammen mit dem Regisseur Bernard Queysanne verfilmte Perec 1973 den Roman. Anders als der keiner strengen Struktur unterworfene Roman baut der Film auf einer sechsteiligen Variation der Bilder und Töne – sowohl des ausschließlich im Off gesprochenen Textes als auch der Musik – auf.
1967, als der Roman erschien, wurde Georges Perec in die 1960 von Raymond Queneau und François Le Lionnais gegründete »Werkstatt für potentielle Literatur« aufgenommen. Die Mitglieder von Oulipo erlegen sich selbst willkürliche Regeln für ihre Gedichte, Erzählungen, Romane auf. So verzichtete Perec in seinem Roman »Anton Voyls Fortgang« (1969) auf Worte mit dem Vokal E, während er in »Dee Weedergenger« 1972 ausschließlich Worte mit dem Vokal E verwendete, alle anderen Vokale sind verbannt. Was zunächst nach sinnloser Einschränkung klingt, diente den Oulipoten als Inspiration, neue Wege des Erzählens zu finden. Raymond Queneau beschrieb die Oulipoten als »Ratten, die selbst das Labyrinth konstruieren, aus dem sie zu entkommen beabsichtigen«. In der formalen Beschränkung entstand für Perec die Möglichkeit, das »Gewöhnliche und Infra-Gewöhnliche« zu befragen, aber auch das Leiden der Menschen an dem, »was jeden Tag geschieht und jeden Tag wiederkehrt«, zu erfassen.
»Ein Mann der schläft« trägt autobiographische Züge. Georges Perec begab sich seit seinem 13. Lebensjahr wiederholt in psychoanalytische Behandlung. In der Beschreibung der Melancholie, aber vor allem der Panikzustände des Protagonisten scheint er das Leiden an der Gesellschaft mit der Erfahrung eines individuellen Traumas zu verbinden. »Die Ungeheuer mit ihren kinderreichen Familien, mit ihren Ungeheuerkindern, ihren Ungeheuerhunden«. Als Kind polnischer Juden 1936 in Paris geboren, entkam Perec der Verfolgung durch die deutschen Nationalsozialisten nur, weil seine Eltern ihn auf einem Bauernhof verstecken ließen. Sein Vater fiel 1940 im Krieg gegen Nazi-Deutschland, seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Später schreibt er, seine jüdische Identität bestehe weder in einem religiösen Bekenntnis noch in der Zugehörigkeit zu einer kollektiven Kultur. Bei dem Filmprojekt zu Ellis Island, der Insel vor Manhattan, auf der Millionen Menschen vor ihrer Einwanderung in die USA überprüft wurden, suchte er, anders als Robert Bober, mit dem er den Film machte, »keineswegs Anhaltspunkte, Wurzeln oder Spuren«, sondern »etwas Ungestaltes, an der Grenze des Sagbaren«, das »für mich sehr eng und sehr vage mit der Tatsache verbunden ist, Jude zu sein«.
Seine 1975 erschienene Autobiographie »W oder die Kindheitserinnerung« besteht aus zwei parallelen Erzählsträngen: In einem rekonstruiert Perec die Erinnerungen an seine Kindheit, in einem zweiten erzählt er einen selbsterfundenen Mythos über eine spartakistische Gesellschaft, in der sich die männlichen Mitglieder in einem selbstmörderischen Training auf gladiatorenhafte Olympische Spiele vorbereiten. Die Kindheitserinnerungen müssen dazu, wie die Dinge des Alltags, erst einmal ins Bewusstsein geholt und dabei ge- und erfunden werden. Der Mythos der Gesellschaft W geht zurück auf eine albtraumartige Kindheitsphantasie, die Perec als 13jähriger »erfand«. »Später vergaß ich sie. Vor sieben Jahren erinnerte ich mich eines Abends in Venedig ganz plötzlich, dass diese Geschichte ›W‹ hieß und dass sie in gewisser Hinsicht wenn nicht die, so doch wenigstens eine Geschichte meiner Kindheit war.« Es ist schwer zu glauben, dass ein 13jähriger eine solche Welt ohne äußeren Anlass erfindet. »So gesehen kann man sagen, dass es keine menschliche Gesellschaft gibt, die es mit W aufnehmen kann. Der struggle for life ist hier Gesetz; dabei gilt der Kampf für sich nichts; was die Männer von W beflügelt, ist nicht die Liebe zum Sport um des Sports willen, die Leistung um der Leistung willen, sondern die Gier nach dem Sieg, nach dem Sieg um jeden Preis.« Durch eine »systematische Ungerechtigkeit«, die in W herrscht, kann sich kein »Sportler« darauf verlassen, aufgrund seiner Fähigkeiten zu gewinnen. Dass die Darstellung Erinnerungen an die Situation in deutschen Konzentrationslagern weckt, an den »Sport«, den die Häftlinge dort treiben mussten, darauf weist »W oder die Kindheitserinnerung« selbst hin. Die Infragestellung der literarischen Gattung der Autobiographie bleibt aber bestehen: Was leistet Erinnerung? Ist die bewusste Erinnerung an überprüfbare Fakten realer als die Phantasie? Einerseits korrigiert Perec seine Erinnerungen durch nachträgliche Recherchen, andererseits entwickelt sich die albtraumhafte Kinderphantasie zu einer »Erinnerung« an reale Begebenheiten.
Perecs großes Werk »Das Leben. Gebrauchsanweisung« (1978) bleibt noch stärker in der Schwebe zwischen Fiktion und Nicht-Fiktionalem. Zwischen den absurden, komischen, aber auch grausamen Geschichten aus 99 Zimmern eines Hauses finden sich Schilderungen realer Begebenheiten des 20. Jahrhunderts. In einem Interview erklärte Perec, es handle sich um »die verschlüsselte Aufzeichnung von Erinnerungselementen«. »Es ist eine Art Widerhall, ein Thema, das unter der Fiktion, unter der Romanhandlung hindurchläuft, sie nährt, aber nicht als Erinnerung in Erscheinung tritt.« Den Roman durchzieht eine Trauer, als ginge es darum, das Andenken an die Figuren zu bewahren. Auf fast 900 Seiten fügt Perec, der für die Zeitschrift Le Point Kreuzworträtsel erstellte, die Lebensgeschichten mehrerer Generationen wie ein Puzzle zusammen. Die Zusammensetzung und Auslöschung von Erinnerung als Puzzle ist für den Roman das Leitmotiv und ein wiederkehrendes Thema: Einer der Romanhelden, Bartlebooth, malt in 500 Häfen 500 Seestücke, schickt sie mit der Post an einen Puzzle-Macher und setzt 20 Jahre später, nach seiner Rückkehr, die Puzzle wieder zusammen. Anschließend will er die Motive wieder »von ihrer Unterlage ablösen und an den Ort zurückbringen«, an dem die Aquarelle gemalt worden waren. Dort würden sie in eine Reinigungslösung gelegt, bis nur noch das weiße Papier übrig bliebe. Bartlebooth kommt nicht zum Schluss. Er stirbt, bei dem 439. Puzzle. Das Puzzlestück, das er in den Händen hält, hat die Form eines W.
Ursprünglich waren »W oder die Kindheitserinnerung« und »Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen« als Teile eines großen Memoirenprojekts angelegt, das den Arbeitstitel »Orte« trug: Neben die Beschreibung bestimmter Pariser Plätze sollte die historische Erinnerung an diese Orte treten. Das Projekt »Orte« konnte Perec, der 1982 mit nicht einmal 46 Jahren starb, nicht mehr vollenden; was bleibt, sind Einzelteile. Auf Deutsch liegt sein Gesamtwerk bislang nur ausschnittsweise und auf verschiedene Verlage verstreut vor. Dabei gäbe es viel zu entdecken. Denn seine Erzählungen und Romane sind nicht nur witzige, berührende und originelle Experimente mit Erzählformen. Seine autobiographischen Texte reflektieren immer auch den Verlust und die Rekonstruktion einer eigenen Geschichte.
Georges Perec: Ein Mann der schläft. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Diaphanes-Verlag, Zürich 2012, 112 Seiten, 10 Euro
Georges Perec: W oder die Kindheitserinnerung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Diaphanes-Verlag, Zürich 2012, 176 Seiten, 12 Euro
Georges Perec: Das Leben. Gebrauchsanweisung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé, Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt am Main 2012, 894 Seiten, 10,90 Euro
Georges Perec: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Libelle-Verlag, Konstanz 2010, 60 Seiten, 12,80 Euro
DIE MEHRHEIT FORDERT Redefreiheit für die Feinde des Volkes Israel abschaffen!
Keine Plattform für Göbels und Komplizen.
RAUS MIT DER JUDENHASSERIN!
SPERREN!
SPERREN!
SPERREN!
SPERREN!
Mehr fällt ihnen wohl nicht ein…
Argumente, Fakten, damit wären Sie wohl überfordert. Sie sind wohl gerne Teil des „entfesselten Mobs“.
Das Herr Pfeifer Jane argumentativ versucht zu korrigieren oder zu widersprechen ist überzeugender als ihr Boykott Aufruf!
Aber es ist wohl menschlich, – wenn man nicht mehr weiterweiß -, dann flippt man eben schon mal aus…
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