Vor 70 Jahren wurden acht jüdische Bürger aus der Stadt Deggendorf an der Donau verschleppt. Jetzt wollen die Räte der niederbayerischen Stadt die Mitglieder aus drei Familien ehren: Sie planen, „Stolpersteine“ an den einstigen Wohnhäusern der vermutlich in Piaski, Theresienstadt und Auschwitz Ermordeten zu setzen.1 Damit fährt die Stadt jenen Zickzack-Kurs weiter, den sie schon 1962/63 bei Straßenwidmungen zu Ehren der drei Familien eingeschlagen hatte: Denn noch vor kurzem hatte sie die „Stolpersteine“ abgelehnt und eine eigene Art unübersehbaren Gedenkens auf Wandtafeln angestrebt…
Von S. Michael Westerholz
Wie in vielen der sehr alten Städte Bayerns ist auch im 1002 erstmals urkundlich genannten, aber vermutlich über 200 Jahre früher besiedelten Deggendorf nicht sicher geklärt, seit wann Juden in der Stadt lebten. Weil die Ansiedlung unweit der Isarmündung in die seit Urzeiten von Kriegern und Händlern mit Schiffen und Flößen befahrene Donau ein Umschlagplatz für den Handel zwischen Bayern und Böhmen auf der schon 1029 beurkundeten Altstraße Deggendorf-Susice (ehemals Schüttenhofen)2 war, dürften aber zeitig jüdische Kaufleute und Geldverleiher zugezogen sein. Im Jahre 1242 sollen Juden hier gewohnt haben.3 1337/38 war ihre Zahl möglicherweise so groß, dass stetig ein Minjan der mindestens zehn erwachsenen Männer für den G´ttesdienst gesichert war. Nach wie vor strittig ist unter Historikern und Heimatforschern, ob es eine Synagoge in der Stadt gegeben hat.4
Wenn ja, dann wurde sie am 30. September 1338 zerstört, als die Deggendorfer unter Führung ihres Stadtrichters Conrad von Freyberg über „400 jüdische Männer, Frauen und Kinder“ verbrannten oder erschlugen.5 Nicht einer entkam den Mördern, die sich ihrer Schulden bei den Juden entledigen wollten – erfolgreich: Denn bald danach verziehen der bayerische Herrscher und der Regensburger Bischof den Verbrechern. Der Herzog ließ ihnen ihre Beute. Dies, obwohl auch dieser Bayernherzog seinen jüdischen Untertanen gegen sehr viel Geld seinen Schutz zugesichert hatte. Wie hieß es doch schon bald darauf:
„Wenn der Fürst und seine Beamten geizig,
die Geistlichen scheinheilig,
und die Unterthanen bei den Juden verschuldet sind,
dann werden die Juden wegen der
Ermordung von Christenkindern
(oder Hostienschändungen und/oder
Brunnenvergiftungen) angeklagt.“6
In den meisten Fällen kam es erst gar nicht zu richterlichen Untersuchungen, weil Lynchmorde wie jener in Deggendorf Realitäten geschaffen hatten.
Das Verbrechen in Deggendorf war der Auftakt zu einer Serie von 20 oder mehr Pogromen über Altbayerns Grenzen hinaus. Sie kostete zahlreiche Menschen das Leben und zerstörte eine alte Bildungskultur. In Deggendorf machte man sich anfangs nicht einmal die Mühe, den getöteten Juden irgendwelche Missetaten nachzureden. Das geschah mündlich erst 1361, schriftlich im Jahre 1388, als ein Steinmetz eine Nachricht in eine Säule jener Kirche schlug, die bald nach dem Mord errichtet worden war: In dieser „steinernen Urkunde“ beschuldigten die frommen Christen ihre ermordeten Mitbürger, das Heiligste des katholischen Glaubens, nämlich Hostien, gestohlen oder gekauft und dann mit Hämmern „misshandelt“ zu haben. „Göttliches Wehklagen“, auffällig „himmliches Licht“ aus den Judenhäusern oder aus einem nahen Brunnen, in den die geschändeten Hostien geworfen worden seien, habe „die jüdische Untat“ verraten.
Auf ihrer falschen Anschuldigung gründeten die Deggendorfer eine Wallfahrt, die in manchen Jahren bis zu 100.000 Menschen in die Stadt führte, die bei strikter Beachtung aller Wallfahrts-Bestimmungen mindestens zwei Tage in der Sadt bleiben mussten. Höhepunkt der jeweils sieben Wallfahrtstage war ein festlicher G´ttesdienst, in dessen Verlauf die angeblich geschändeten Hostien gezeigt wurden, zuletzt zehn, während die Ursprungslegende von einer Hostie gesprochen hatte! Die antisemitische Wallfahrt wurde erst 1992 vom Regensburger Bischof Manfreds Müller verboten. Dabei wussten die mörderischen Bürger, ihre Priester, der Stadtrichter, der bayerische Herzog und ihre Nachfahren in den 550 Wallfahrtsjahren, dass es in ihrem mörderischen Ursprung nur darum gegangen war, die jüdische Handels- und Banker-Konkurrenz aus dem Weg zu schaffen.
Nach Jahrhunderten, in denen sich kein Jude in Bayern niederlassen durfte, lebten erst 1871 wieder zwei Juden in der Stadt, in der der übelste aller Judenverfolger, der primitiv-fanatische, 1945 in Nürnberg gehängte Julius Streicher, die Schule besuchte. 1880 sind es acht unter 6.226 Einwohnern, 1910 lebt mit 17 Personen die größte jüdische Gemeinschaft in Deggendorf, angeschlossen an die Gemeinde (mit Synagoge) in Straubing. So groß ist ihre Zahl nur noch einmal: Im Jahre 1933! Am 3. April 1942 sind noch zwei jüdische Mitbürger in der Stadt, nachdem am Vormittag die übrigen sechs abgeholt worden waren. Nur Tage später triumphieren die Nazis unter NS-Ortsgruppenleiter Sebastian Weiß und NS-Bürgermeister Hans Graf: „Deggendorf ist judenrein!“
Drei Familien, acht Personen und keine Wiederkehr
Der „Karfreitag“ gehört zu den wichtigsten religiösen Feiertagen der Christen. Es ist nach ihrer Überlieferung jener Tag, an dem ihr Religionsgründer Jesus, ein Zimmermannssohn aus Nazareth, von römischen Soldaten ans Kreuz genagelt wurde und starb. Er wurde auf dem Ölberg in Jerusalem in ein Höhlengrab gelegt, das von römischen Soldaten bewacht wurde. Aus diesem Grab soll Jesus am darauf folgenden Ostersonntag leiblich auferstanden und kurze Zeit später in den Himmel aufgefahren sein.
Der Karfreitag ist ein stiller Tag. Weder Festlichkeiten noch gar Tanz in öffentlichen Einrichtungen oder Gasthäusern sind erlaubt. Aber es finden G´ttesdienste im Gedenken an den Tod Jesu statt. Und an einem solchen Karfreitag gegen 10 Uhr, als zahlreiche Gläubige den Platz auf dem Weg zur Kirche passierten, fuhr vor der Polizeiwache im Deggendorfer Rathaus ein offener Lkw auf. Auf dessen hohe Ladefläche wurden acht Personen aus drei jüdischen Familien teils gestoßen, teils gezerrt:
1. Heinrich Scharf,*1880, ein im Ersten Weltkrieg schwerbeschädigter Hausierer,
2. seine zweite Frau Paula Scharf, geborene Schloss, *1896,
3. und die gemeinsame Tochter Regina, * 1931, die in der Aufregung der durchwachten Nacht ihre Puppe vergessen hatte. Scharf-Sohn Felix Ephraim aus der ersten Ehe , *1918, war 1939 nach der an der Fürther Realschule (des Direktors Kissinger!) erreichten Mittleren Reife nach Palästina ausgewandert, während sein Vater und die Stiefmutter zu Beginn der Naziherrschaft und ersten Übergriffen glaubten, die Bedrängnisse durch fanatische Nazis seien eine vorübergehende Ausnahmeerscheinung. Doch als sie Fremdenpässe beantragten, um dem Sohn nach Palästina folgen zu können, wurde ihnen die Ausreise verwehrt. Ihre Lage wurde verzweifelt. So wurden Paula Scharf Anfang Dezember 1941 eine Krawatte, ein Paar Herrensocken und neun Wollestränge abgenommen, weil sie damit „Schleichhandel mit Waren betrieben“ habe, „die der staatlichen Bewirtschaftung unterliegen.“ Offensichtlich hatte sie um den Familienunterhalt gehandelt. Felix Ephraim Scharf lebt in Jerusalem.
4. Auch Julius Isidor Lauchheimer, *1887, hoch dekorierter Soldat des Ersten Weltkrieges, bestieg das Fahrzeug. Der Kaufmann hatte in Deggendorf als Reisender und später als selbstständiger Tuchhändler gearbeitet. 1919 eröffnete er gemeinsam mit seinem Verwandten Röderer ein Bekleidungs- und Textilgeschäft am Oberen Stadtplatz unweit des Rathauses. Die Partner erwarben später das Geschäftshaus.
5. Ebenfalls abtransportiert wurde Lauchheimers zweite Frau Klementine , geborene Haas, *1896,
6. und die Tochter Ilse, *1921, aus der ersten Ehe Lauchheimers mit seiner 1934 gestorbenen Frau. Auch ein Versuch der Lauchheimer, das Land zu verlassen, misslang. Krankenhaus-Chefarzt Dr. Wilhelm Holz hatte ihnen eine Herzkur im Ausland verschrieben. Doch die Behörden verweigerten ihre Zustimmung.
Ferner wurden am 3. April 1942 in Deggendorf die Eheleute
7. Leopold Lederer und seine Frau
8. Malwine geb. Schwarz aus dem benachbarte Marktort Hengersberg abgeholt. Lederer hatte Hengersberg als Gemeinderat gedient. Sein dort 1909 geborener Sohn Hans war um 1937/38 zu böhmischen Verwandten geflohen. Als die Deutschen bald darauf das Sudetengebiet und schließlich wider alle kurz zuvor geschlossenen Verträge die gesamte Tschechoslowakei besetzten, hatten ihm böhmische Verwandte zur Flucht über Frankreich in die USA verholfen. Hans Lederer ließ sich in New York als Kaufmann nieder. Der in der Region um Hengersberg gesellschaftlich geschätzte, plötzlich aber verfemte Kaufmann, Sportler, Klavierspieler und Tänzer kehrte nach dem Krieg nur noch einmal nach Hengersberg zurück. Er ordnete dort die Hinterlassenschaft seiner spurlos verschwundenen, vermutlich in Piaski ermordeten Eltern und verkaufte deren Haus.
Zwei Wochen vor dem Abtransport hatten die Familien ein MERKBLATT der Geheimen Staatspolizei (GESTAPO) erhalten. Demnach durfte jede Person einen Koffer, eine Bettrolle und einen Rucksack mitnehmen. Möbel und Wohnungen mussten gereinigt, Schlüssel und Lebensmittelkarten abgegeben, an allen mitgenommenen Gepäckstücken Namensschilder angebracht und Bargeld deponiert werden. „Sie werden eine neue Heimat im Osten finden und dort künftig unbehelligt leben und arbeiten!“ , hatten Zyniker in das MERKBLATT geschrieben. Ferner wurden sie aufgefordert, schon am Donnerstag ihr Gepäck zur Polizeiwache zu bringen und am Freitagmorgen vor dem Rathaus zu stehen.
Klementine Lauchheimer hatte Lebensmittel in die Rucksäcke, Schreibzeug in die Kleidertaschen, Bettzeug, den in Deutschland üblichen „Kulturbeutel“ mit Waschzeug und Handtüchern, sowie robuste Bekleidung in die Koffer und eine Schlafrolle gepackt, ferner einen Putzlumpen: Die Frau sorgte sich um die Sauberkeit der künftigen Unterkünfte! Denn als ihr Mann und ein Verwandter im November 1938 in der „Reichspogromnacht“ für kurze Zeit in das Stadtgefängnis Deggendorfs bzw. in das KZ Dachau eingesperrt worden waren, hatten sie dort unhygienische Zustände vorgefunden.
Am Vorabend des Transports hatten sich die verängstigten Scharf, Lauchheimer und deren Haus-Miteigentümer und Verwandte Röderer zunächst bei der befreundeten Familie des Möbelhändlers Dörfler versammelt. Dann wechselten sie in die Wohnung Lauchheimer-Röderer. Es freute sie, dass die einstigen Lauchheimer-Angestellten Anna Kaiser und Clara Neustifter sich einfanden.
Diese Treue rührte die Familien, denn seit schon im April 1933 die Boykotthetze gegen jüdische Händler und deren Geschäfte begonnen hatte, war Heinrich Scharf bei seinen Hausierfahrten in die Umgebung in Zügen von SA-Leuten heftig bedrängt worden. Und auch Lauchheimer und Röderer, die mit Kleinraten ihre ärmere Kundschaft unterstützt hatten, waren attackiert worden.1937 hatten sie ihr Geschäft aufgeben müssen. Das Mobiliar war versteigert worden. Die Ex-Eigentümer hatten gemeinsam in das enge Obergeschoss ziehen müssen. Sogar dort war ihnen ein Fenster eingeworfen worden. Ihr Haus wurde „arisiert“.7
Ein Deggendorfer Malermeister war im Frühjahr 1933 bei Bürgermeister Dr. Anton Reus im Rathaus erschienen und hatte verlangt, „unverzüglich alle Juden aus der Stadt zu schaffen.“ Widrigenfalls werde er – der Malermeister – Dr. Reus „aus dem Rathausfenster stoßen.“ Dr. Reus weigerte sich jedoch kategorisch, die seit Jahren zu den Maimärkten in der Stadt zugelassenen jüdischen Händler zu vertreiben.8 Obwohl noch rasch der NSDAP beigetreten, wurde Dr. Reus bald danach aus dem Amt entfernt.
Spurlos verschwunden
Ungeniert fälschten Stadtbeamte Veränderungsdaten in den Personenbögen der jüdischen Deggendorfer. Und sie logen, als die eintrugen: „Unbekannt verzogen!“ Denn zunächst sollten die drei Familien nach Regensburg gefahren werden. Aber unmittelbar nach der Abfahrt in Deggendorf verliert sich ihre Spur: Möglicherweise wurden sie tatsächlich nach Regensburg gebracht und von dort zusammen mit 109 jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Regensburg und der Oberpfalz spätestens am 4. April 1942 nach München geschafft. Oder sie wurden aus Deggendorf unverzüglich nach München gefahren, wobei unterwegs weitere jüdische Niederbayern eingesammelt worden sein dürften. Jedenfalls wurde um den 4. April 1942 in München ein Eisenbahnzug nach Piaski, 20 Kilometer südostwärts von Lublin, abgefertigt. Pro Person wurden 50 Reichsmark (RM) als Fahrtkosten kassiert. Dafür gab es nur Hinfahrkarten – es ging um eine staatlich angeordnete Reise ohne Wiederkehr! Für diesen Transport wurden weder Namenslisten erstellt, noch durften Zeitungen darüber schreiben. Bahnbedienstete und Zufallszeugen mussten schweigen.9
Eine Deggendorfer Familie war im letzten Augenblick zurückgelassen worden: Leopold („Leo“), *1876, und Emma Röderer geborene Neuburger, *1885. Die ältere Tochter aus der ersten Ehe Lauchheimers, Amalie, *1911, war 1934 nach München umgezogen und von dort aus in die USA ausgewandert. Nach ihrer Verehelichung hatten sich die nunmehrige Mrs. Rothschild und ihr Mann in Los Angeles niedergelassen. Röderers Tochter Lotte Sophie (*1914) aus seiner ersten Ehe, war bald nach ihrer Volljährigkeit aus Deggendorf weggegangen und 1939 nach England entkommen. Sie lebte später als Mrs. Lotte S. Frost in New York. Ein Münchner Anwalt regelte für sie und ihre Cousine Rothschild nach dem Krieg Erbforderungen hinsichtlich des Hauses, das ihren Eltern unter Zwang entzogen und dann „arisiert“ worden war.
Ein Arzt am Deggendorfer Gesundheitsamt hatte Emma Röderer bescheinigt, nicht transportfähig zu sein. Bald nach der Abreise ihrer Verwandten erhielten sie eine Karte ihrer Nichte Ilse Lauchheimer: „Liebe Tante, schicke uns Brot – wir haben so viel Hunger.“ Woher die Karte kam, ist unbekannt, desgleichen, wohin die Röderer unverzüglich ein Paket schickten: Es kam mit dem Stempel: „UNZUSTELLBAR“ zurück. Obwohl die schon genannten Deggendorfer Mitbürger sich um die Eheleute Röderer kümmerten , lebten diese doch in ständiger Angst und Bedrängnis. Zwei Wochen nach der Abreise der drei Familien erschienen Stadtarbeiter in den Wohnungen Scharf und Lauchheimer/Röderer. Unter Aufsicht einer Frau aus der NS-Frauenschaft holten sie den mobilen Besitz der Familien ab, ausgenommen das Röderer-Schlafzimmer. Vermutlich wurde auch diese Beute durch das Gericht oder Finanzbeamte öffentlich versteigert oder unter der Hand unter Parteigängern verscherbelt.
Am 29. Mai 1942 mussten die Eheleute Röderer nach Regensburg abreisen. Sie wurden dort in die überfüllte Gemeinschaftsunterkunft an der Schäffner-Straße 2 einquartiert, in teilweise ruinierte Räume der 1938 niedergebrannten Synagoge, des Gemeindehauses und des jüdischen Altenheims. Von dort aus verkauften sie am 24. August ihre letzten Wertpapiere. Am 8. September überwiesen sie dem Reichsverband der deutschen Juden 22.000 RM. Für diesen Betrag war ihnen die Unterbringung in ein Altenheim in Theresienstadt zugesagt worden – ein gigantischer, besonders gemeiner Schwindel der Nazis. Die immer noch gutgläubigen Röderers hatten deshalb ihre Schlafzimmereinrichtung mitgenommen. Doch wenige Tage nach der Abreise erreichte Deggendorfer Freunde ihre Mitteilung aus Regensburg: „Zur Weiterreise dürfen wir nur eine Handtasche mitnehmen!“ Die unglücklichen Eheleute reisten am 23. September 1942 nach Theresienstadt ab. Emma Röderer ist 1944 in Auschwitz gestorben. Sie war dort mit dem Transport Ost V/44 angekommen. Ihr Mann starb am 26. Januar 1944 vermutlich schon in Theresienstadt vor der Weiterreise nach Auschwitz.10
Das Auf und Ab der Straßenwidmungen und die vergessenen Helden der Stadt
Dass die Deggendorfer Stadträte ein gutes Händchen bei Straßenwidmungen und Ehrungen haben, lässt sich anzweifeln. Es gibt zum Beispiel
- die Theodor-Eckert-Straße eines Entwicklers radiotechnischer Grundlagen, der in Deggendorf als Lehrer tätig war. Seine frühe NSDAP-Mitgliedschaft und Parteiaktivitäten wurden ausgeblendet. Eckert ist überdies Namensgeber einer Grundschule in Deggendorf;
- die Hindenburg-Straße des Reichspräsidenten, der Adolf Hitler zum Reichskanzler berief und unter Historikern wegen seiner Amtsführung umstritten ist, die letztlich die erste deutsche Demokratie der sogenannten „Weimarer Republik“ vernichtete.
Auch Ehrenbürger der Stadt gehören zu den eher zweifelhaften Persönlichkeiten:
- Paul von Hindenburg wurde 1933 zugleich mit Adolf Hitler geehrt und nie aus der Liste gestrichen,
- Stadtpfarrer Dr. Wilhelm Stich, der bereits am 29. November 1945 seinem Regensburger Bischof schrieb, dass sich die Juden in Deggendorf „ – 1200 an der Zahl – ohnehin etwas unangenehm bemerkbar machen“. Gemeint waren die traumatisierten Juden im DP-Camp 7 Deggendorf, die Auschwitz, Mauthausen, Flossenbürg oder Theresienstadt und die schrecklichen Nachkriegspogrome in Polen überlebt hatten. Der Priester log: „Während der Nazizeit wurden die Juden in keiner Stadt so human behandelt als in Deggendorf.“11)
- Franz Kuchler, der ab 1933 üble Hasstiraden gegen Juden für die regelmäßigen Neuauflagen des Deggendorfer Adressbuches verfasste, der NSDAP nicht nur als Erzieher und Autor, sondern sogar als NS-Wehrmachts-Führungsoffizier diente und all dies bis zu seinem Tode leugnete.
Nicht geehrt wurden aber hochachtbare Persönlichkeiten:
- Schiffer August Heckscher, 1919 als Sozialdemokrat der erste bürgerliche Bürgermeister Deggendorfs. Der Mann, der trotz schwerer Gesundheitsschäden als Folge seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg unter anderem im KZ Dachau geschunden wurde, war der Sohn eines jüdischen Vaters. Dessen Familie hatte in der Nationalversammlung von 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche, bei der Gründung und wiederholten Finanzierung der Heckscherklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München und als Unternehmer und Sozialmäzene in den USA eine wichtige Rolle gespielt.
- Sein Bruder, Gastwirt Berthold Heckscher sen., der als Kriegsdienstverweigerer im Ersten Weltkrieg und „wegen Rundfunkverbrechen und Wehrkraftzersetzung“ 1944 erneut zum Tode verurteilt wurde, seinen Henkern aber immer entkam.
- Ihr gemeinsamer Parteifreund, Mechaniker und Fahrradhändler Karl Rößler, Ex-Stadtrat, der sich seine Freundschaft zu den jüdischen Mitbürgern nicht verbieten ließ, NS-Parteigenossen während des Krieges den „baldigen Untergang“ prophezeite und nach einer Denunziation zusammen mit seinem Freund Berthold Heckscher sen. vom „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt wurde. Auch er überlebte mit viel Glück und dank mutiger Gerichts- und Zuchthaus beamter.
- Fliegeroffizier Peter Kellnberger, der als einer von 400.000 deutschen Deserteuren 1944 bei der ersten passenden Gelegenheit mit seiner „Arado“ nach Schweden flog, wo er als Schriftsteller und Lehrer ein angesehener Mitbürger wurde: Erst 1948 kehrte er erstmals nach Deggendorf zurück.
- Elektromeister Josef („Sepp“) Nirschl, der 1944 ebenfalls „wegen Rundfunkverbrechen und Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt wurde, überlebte, in der CSU aktiv wurde, in den bayerischen Landtag einzog, dann allerdings als Brandstifter in seiner eigenen, konkursreifen Firma überführt und verurteilt wurde.
Unbefriedigend ist auch, was der in der jüdischen Gemeinde der Niederlande aktive Dr. Robbert Baruch aus Den Haag, ferner die österreichische Historikerin Elisabeth Fraller und ihr Partner beim Verfassen des großartigen, bewegenden Buches „MIGNON Tagebücher und Briefe einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938 – 1949“ (StudienVerlag Innsbruck Wien Bozen 2010), George Langnas aus New York, bei Besuchen in Deggendorf sahen: Dass an der ALTEN KASERNE, der einstigen Kreisirrenanstalt, dann illegalen Kaserne der Wehrmacht und schließlich DP-Camp 7 Deggendorf zwar ein Denkmal für den dort geborenen bedeutenden Röntgenologen Dr. Rudolf Grashey, ferner eines zur Erinnerung an die einstige Unteroffiziersschule in den Gebäuden vorhanden ist. An das DP-Camp der einst 1965 Überlebenden der KZ Theresienstadt, Auschwitz und anderer Tötungsanstelten der Deutschen erinnert jedoch nichts. Grashey war übrigens Nazi gewesen, obwohl einer seiner Söhne im KZ ermordet worden war. Der Röntgenologe hatte sich allerdings für seine jüdischen Assistenzärzte und deren Verbleib in Grasheys Klinik in Köln eingesetzt
Auch in Deggendorf wurde verdrängt, was den jüdischen Mitbürgern angetan worden war. Erst Ex-Stadtrat Xaver Winter beantragte in der Bürgerversammlung am 28. Februar 1962 Straßenwidmungen für die Familien Lauchheimer, Röderer und Scharf. Der in der Stadt angesehene Winter war KZ-Häftling in Dachau gewesen. Nach dem Krieg war er Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Region Niederbayern. Seit diese Partei 1952 verboten war, konnte er politisch nicht mehr mitwirken. Aber der Stadtrat folgte Winters Antrag und beschloss die Ehrungen.
1978 besuchte Felix Ephraim Scharf nach vier Jahrzehnten erstmals wieder seine Heimatstadt Deggendorf. Er hatte Kontakte mit Berthold Heckscher gepflegt, einem Sozialdemokraten aus einer ursprünglich jüdischen Familie, der von 1962 bis 1983 als Oberbürgermeister in Deggendorf wirkte. Heckschers Vater hatte der Stadt gleich nach dem Ersten Weltkrieg als Bürgermeister gedient. Dessen Bruder war im Ersten und im Zweiten Weltkrieg zum Tode verurteilt worden, hatte beide Male überlebt und stellte sich gleich nach der Kapitulation Deutschlands 1945 ebenfalls als Bürgermeister zur Verfügung. Scharf, Abteilungsleiter im jüdischen Nationalfonds (JNF), erfuhr, dass seiner Familie und den beiden weiteren je eine Straße gewidmet war. Er bedankte sich, indem er am Stadtrand von Nazareth 50 Bäume pflanzte und den Waldfleck der Stadt Deggendorf widmete. Eine Bestätigungsurkunde, die Scharf ausstellen ließ, wurde im Rathaus Deggendorf angebracht.
Heckschers Nachfolger, Oberbürgermeister Dieter Görlitz (CSU), entdeckte die Ehrenurkunde bald nach seinem Dienstantritt. Da hatte er schon einen bitteren Konflikt um den jüdischen Friedhof in der Stadt gelöst: Die Gräber jener jüdischen Mitbürger, die als Holocaust-Überlebende im DP-Camp 7 Deggendorf zwischen 1945 und 1949 gestorben waren, wollte der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern nach Cham verlegen, um die Unterhaltskosten zu minimieren: Die belasteten den damals durch Überalterung und Abwanderung sehr kleinen und armen Landesverband. Görlitz hatte im Stadtrat durchgesetzt, dass die Unterhaltskosten auf die Stadt überbürdet wurden. Und so blieb der Gute Ort der Stadt als ewiges Mahnmal erhalten.
1985 nahm er an einer internationalen Bürgermeistertagung in Jerusalem teil. Er traf sich mit Felix Ephraim Scharf, gemeinsam reisten sie nach Nazareth, wo Görlitz und seine Frau weitere 27 Bäume pflanzten. Der Deggendorfer wurde Ehrenbürgermeister von Jerusalem. 1996 bat die nun in New York und Jerusalem beheimatete Amalie Rothschild geborene Lauchheimer den Schreiber dieser Zeilen, ihr einen Deggendorfer Stadtplan mit dem Nachweis der Lauchheimer-Straße zu schicken. Und da flog auf: Entgegen dem Stadtratsbeschluss von 1962 waren lediglich Schilder für die Röderer- und die Scharf-Straße aufgestellt worden! Oberbürgermeister Görlitz ließ unverzüglich auch eine Lauchheimer-Straße widmen, doch die Tochter brach jetzt endgültig jeglichen Kontakt ab.
Endlich – nun werden „Stolpersteine“ gesetzt!
Vor einem Jahr schlug die GRÜNE-Stadträtin Renate Franzel vor, sich an der „Stolperstein“-Aktion des Künstlers Günter Demnig (Berlin/Köln) zu beteiligen. Demnig verlegte seit dem Jahre 2000 in über 700 deutschen und europäischen Orten rund 25.000 „Stolpersteine“ vor Häusern und Wohnungen einstiger jüdischer Bewohner. Das sind unübersehbare Granitsteine mit etwa zehn Zentimetern Seitenlänge, auf denen Messingplatten angebracht werden. Darin sind Namen und Lebensdaten der einst hier beheimateten jüdischen Mitbürger eingraviert. Sie verursachen ein symbolisches Stolpern und sollen in der schieren Masse verdeutlichen, wie viele Menschen allein darum ermordet wurden, weil sie Juden waren, und wie groß der menschliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aderlass war, den die Deutschen grundlos verschuldet hatten.
Während Regensburg schon 2007 und Vilshofen als erste niederbayerische Stadt 2008 „Stolpersteine“ setzen ließen, entschieden die Deggendorfer: „Wir machen etwas Eigenes!“ Gedenktafeln sollten an den einstigen Wohnhäusern der drei Deggendorfer Familien angebracht werden. Hermann Hackl von der Stadtverwaltung: „Aber das erwies sich als bedenklich. Wir wollen ja das immerwährende Gedenken sichern – doch was passiert, wenn neue Eigentümer solche Tafeln an ihren Hauswänden ablehnen?“ Dass auch überlegt wurde, wie wohl heutige Eigentümer „arisierter“ Häuser reagieren würden, wollte Hackl nicht kommentieren. Und so trug der Historiker Professor Dr. Lutz-Dieter Behrendt im Stadtarchiv Deggendorf die Daten zusammen, die nun auf die „Stolpersteine“ übertragen werden.
Schade nur, dass die Stadtverwaltung nicht an eine Kontaktaufnahme mit Felix Ephraim Scharf in Jerusalem dachte. Mitte Januar telefonisch befragt, war Scharf noch nicht informiert. Das ist deswegen bedenklich, weil nicht alle Juden Befürworter der „Stolpersteine“ sind. So hält die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, „wenig davon, dass Menschen über Namen und Daten von Ermordeten trampeln!“ Scharf indessen teilte am 25. Januar 2012 dem Verfasser dieses Berichtes schriftlich mit: „…Ich bin mit dem Vorschlag (Anm: der „Stolpersteine“ ) einverstanden und sehr daran interessiert. Ich danke allen, die sich damit befassen, für ihre Bemühungen…“
Dabei gibt es längst einen „Stolperstein“ im Zusammenhang mit einstigen Bewohnern Deggendorfs. In Berlin-Wilmersdorf, Sächsische Straße 22, erinnert er an Minna Geballe, * 1877 in Rogasen, seit 1942 im KZ Theresienstadt. Sie wurde dort am 8. Mai 1945 von Sowjets befreit und lebte seit dem 14. Juli im DP-Camp 7 Deggendorf in der ALTEN KASERNE. Sie starb an den Folgen der Gefangenschaft, des Hungers und der alltäglichen Quälereien im KZ am 20. Oktober 1945 in Deggendorf.12
Minna Geballe überlebte das KZ Theresienstadt. Sie starb im DP-Camp 7 Deggendorf
und wurde auf dem Guten Ort der Stadt begraben. Foto: S. M. Westerholz
Der „Stolperstein“ für Minna Geballe in der Sächsischen Straße 22 in Berlin. Foto: OTFW Berlin
- PASSAUER NEUE PRESSE/DEGGENDORFER ZEITUNG (im folgenden PNP/DZ), 06.01.2012, kw (= das ist Katrin Wittler): Stolpersteine sollen auch in Degendorf verlegt werden. [↩]
- Deggendorfer Geschichtsblätter, Band 24/2003: Deggendorf 1002 – 2002, JM (d. i. Johannes Molitor): 6. Altwege zwischen Bayern und Böhmen, S. 195. [↩]
- Alemannia Judaica (2003), zuletzt eingesehen am 20.01.2012. [↩]
- Wie oben 3. [↩]
- Wie oben 3., ferner Seldner David: Judentum im Überblick (7.) und FRANFURTER ZEITUNG vom 02. 10. 1872. 400 Mordopfer – das kann nicht zutreffen, denn sonst wären die Juden in dem Ort mit etwa 600 Einwohnern in der Mehrzahl gewesen. [↩]
- Osiander, Andreas (1498 bis 1552) als Verfasser, und das Erscheinungsjahr 1541 der hier zitierten Apologie der Juden sind nicht absolut gesichert . Es fanden sich unter Euseb(ius) zwei Fragmente, darunter Praep Ev. VIII.6, 1 bis 9. Der angebliche Kindermord durch Juden, um das Blut der Christenkinder verarbeiten zu können, ferner Vorwürfe über Brunnenvergiftungen und Hostienschändungen wie in Deggendorf gehörten zu den Grundmustern der mittelalterlichen Judenpogrome, der besonders üble Vorwurf des Kindesmordes gar noch im 20. Jahrhundert bei Nachkriegspogromen in Polen (Tarnow!). [↩]
- DZ, 28. 02. 1961, hpr (= d. i. Dr. Hanns Proeger): Acht Deggendorfer Juden; Westerholz, S. Michael in: Da wvrden die Jvden erslagen Zur Geschicht der Juden im Landkreis Deggendorf, Neue Presse Verlags-GmbH Passau, 1986, S. 19 ff; PLATTLINGER ANZEIGER (PA), 28.01.2005, Professor Dr. Lutz-Dieter Behrendt: Auch Deggendorfs Juden blieben von den Gräueln der Nazis nicht verschont; Ophir, Baruch Z./Wiesemann, Falk: Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 – 1945, Oldenbourg Verlag München, 1979, S. 66 f. [↩]
- Erinnerungen des DEG. Friseurmeisters Schraufstetter (SPD), seinem Sohn, Obermeister der Friseurinnung Deggendorf und Kreishandwerksmeister Alois Schraufstetter mitgeteilt. [↩]
- Wittmer, Siegfried: Regensburger Juden, Universitätsverlag Regensburg, 1996, S. 360 f. [↩]
- DZ , hpr; PA, Behrendt, Westerholz; Ophir / Wiesemann, wie oben 7.; Wittmer, wie oben 8. [↩]
- Eder, Manfred: Die „Deggendorfer Gnad“, Passavia Verlag Passau, 1992, S. 409/10 (Pfarrakten Deggendorf 571 [↩]
- NS-Akte Kuchler, Urteil Heckscher, Rößler, Nirschl , Scharf-, Fraller- und Baruch-Briefe im Eigentum des Verfassers; über „Stolpersteine“ in Berlin zahlreiche Berichte auf Google, Tel.-Gespräch mit Hauptamtsleiter Hackl im Rathaus DEG am 12. 01. 2012. E-Mail Franzel an DZ-Redaktionsleiter St. Gabriel und an den Verfasser. [↩]
@ Robert Schlickewitz
Ausgehend von der Analyse des Psychotherapeuten N. Stern zur Erinnerungsproblematik für unsere psychische Gesundheit sind wir nun bei der „Identität“ gelandet! Vielleicht kann man auf diesem Weg den Kreis vollenden…
Sie betonen, der Mensch brauche eine Identität, sonst werde er verunsichert. Hier hilft dann die Gruppe, die religiöse Gemeinschaft, die Landsmannschaft, und ..und.. und… also die Identifikation mit übernommene, in der Jugend erlebten, früh und dauerhaft eingeprägten Ritualen.
Diese „Identitätsbildung“ finde ich nicht erstrebenswert, denn “Mia san mia!” kann dabei herauskommen.
„Persönlichkeit“ ist leider auch ein interpretierbarer Begriff, aber in ihm liegt schon ein wesentlich mehr von dem, was ich für wünschenswert halte, nämlich nicht Mitläufer in einer vorgegebenen „Identitätsschablone“ zu sein. Zur Persönlichkeitsentwicklung gehört auch der von Ihnen angesprochene „ehrliche Umgang mit der Geschichte“.
Das hier die Maßstäbe der Menschen verschiedener religiösen Gruppen offensichtlich differieren, darauf hat meines Erachtens Herr Stern hingewiesen. Für den Historiker ist dies sicherlich keine akzeptable Antwort, aber Verdrängen schrecklicher Phasen der Geschichte ist den jetzt Heranwachsenden zu gönnen, sie sollten erstmals unbeschwert im „Hier und Jetzt“ leben. Also auch seelisch gesund werden und dann bleiben.
Wenn Heranwachsende hoffentlich eine Persönlichkeit entwickeln, dann werden sie nicht vergessen sondern wissen wollen. Man kann es nur hoffen und daran arbeiten.
@kd0627
Ihr Beitrag als ein Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn der Raum des Denkens geöffnet wird. Danke!
Besonders den Aspekt „Seelische Gesundheit“ möchte ich aufgreifen und hervorheben:
Identifikationen mit einer – wie auch immer gearteten Einheit – als Basis der Identität der individuellen Persönlichkeit bedeutet – um in der Sprache der Psychologie zu bleiben: Symbiose. Die mit symbiotischen Mustern zusammenhängenden Problemlagen wie etwa Adoleszentenkrise, Unmündigkeit, Autoritarismus, Individuationshemmung, Ich-Schwäche, pathologische Abhängigkeit, Psychose usw. stehen mal mehr mal weniger in direktem Zusammenhang mit dieser Art Identifikation.
Im Sinne der seelischen Gesundheit des Menschen – und diese betrachte ich als notwendige Voraussetzung für Widerstandsfähigkeit gegen z.B. faschistische Verfährung – ist also die Ablösung aus Identifikationen wichtiger als die Suche nach Tradition und Ritual.
Ihnen beiden ,SchallundRauch sowie kd0627, möchte ich danken für die Vermittlung mir neuer Perspektiven.
Was die „jetzt Heranwachsenden“ anbelangt, die „unbeschwert“ leben sollen, so galt bisher, jedenfalls gemäß Befragung in meiner Umgebung, dass sich nur eine ganz kleine Minderheit, es handelt sich zumeist um die Kinder der Eliten, für die Fülle der Informationen zu den „schrecklichen Phasen der Geschichte“ je wirklich interessieren wird. Es herrscht diesbezüglich ein weit verbreitetes Desinteresse vor („hatten wir doch schon alles in der Schule, ist doch langweilig…!“). Möglicherweise ist das auch ein (unbewusster?) Selbstschutzreflex.
Die Tatsache, dass gewisse Dinge höchst zeitintensiv und in sehr vielen Büchern zusammengesucht werden müssten bzw. vereint an einem Ort auch im Internet noch nicht rasch nachgeschlagen werden können, verhindert, dass ‚zuviele‘ junge Menschen durch diese unpopulären Tatsachen über das Eigene in ihrer Entwicklung gehemmt oder eingeschüchtert oder negativ beeinflusst werden.
„Die Ablösung aus Identifikationen“ – das wünschte ich mir auch manchmal, wenn ich sehe wie kritik- und bedenkenlos bei uns Bayerisches (etwa religiöse Zugehörigkeit, überholte Einstellungen und Vorlieben oder Abneigungen gegen bestimmte Gruppen, etc.) von den Vorfahren oder anderen Bezugspersonen übernommen und ohne weiter zu hinterfragen für gut befunden werden.
Aber dafür sind die Menschen noch nicht reif. Tradition und Ritual sind wie Säulen, an die man sich in schweren Zeiten lehnen kann, während man mit neuem Denken (ohne geschichtliche/kulturelle Identität) noch keine Erfahrung hat, bzw. sich so eine Existenz gar nicht vorzustellen vermag.
Neuem, das ans Eingemachte geht, stehen die Menschen weit skeptischer gegenüber als einem neuen Smartphone oder neuen Modetrends.
Aber, es ist erfreulicherweise nach vorne, in die Zukunft, alles offen…
@ Robert Schlickewitz
„Braucht nicht jeder Mensch eine irgendwie geartete Identität?“
Ein sehr gute, sehr wichtige Frage! Allerdings stellen Sie diese leider nur rhetorisch und beantworten Sie affirmativ.
Wie wäre es, wenn wir diese Frage mit Mut und Erkenntnislust angehen und einfach mit „Nein.“ antworten?
Welche Räume können dem Denken / Geist geöffnet werden, sagen wir:
„Nein, kein Mensch braucht eine Identität.“ ?
Oder zumindest: Kein Mensch braucht eine kulturelle und / oder geschichtliche Identität.
@ Robert Schlickewitz
„Braucht nicht jeder Mensch eine irgendwie geartete Identität?“
Eine sehr gute und sehr wichtige Frage! Leider beantworten Sie diese affirmativ. Spannend wird es aber doch erst dann, wenn einer den Mut aufbringt, diese Frage mit „Nein.“ zu beantworten. Stellen Sie sich einmal vor, die Antwort auf diese Ihre Frage lautete „Nein, kein Mensch braucht eine Identität!“ Was für Möglichkeiten eröffnet das dem Denken?
„Basiert nicht Identität auf zumindest rudimentärem Wissen über die eigene Herkunft, Vergangenheit, Geschichte, Kultur?“
Auch einem Historiker sollte Identitätskonstruktion ein Begriff sein. Was ist Herkunft? Was ist Vergangenheit? Was ist Geschichte? Was ist Kultur?
All das sind subjektive Konstruktionen.
Und wieso sollte die Identität eines Menschen aus seiner Vergangenheit bestehen?
Ist die Identität dessen, der über mehr als „rudimentäres Wissen“ verfügt, vollständiger, als die Identität dessen, der „nur“ rudimentäres Wissen hat?
Ist es im Sinne einer anders gearteten Identität (z.B. einer moralischen) nicht wesentlich sinnvoller, so wenig wie möglich Identifikation mit den genannten subjektiven KOnstruktionen haben zu wollen?
@ R. Schlickewitz
„Wenn das so wäre, warum haben dann sämtliche Kulturen (nicht nur Länder!), die wir kennen, das Bedürfnis ihre Geschichte festzuhalten, das Vergessen zu verhindern, zu erinnern?“
Um sich vielleicht von „den Anderen“ nur abzugrenzen? Denn jeder hat offensichtlich seine „eigene Geschichte“! Und diejenigen, die der eigenen Interpretation der vergangenen Ereignisse widersprechen, das sind dann die „kulturlosen Anderen“.
„Wie kann man eine, doch hoffentlich wohl bessere, Zukunft anstreben, ohne aus seiner Geschichte zuvor die nötigen Lehren gezogen zu haben?“
Ich kann verstehen, dass Sie als Historiker hoffen, dass das eine Nutzanwendung des Studiums der Vergangenheit darstellt. Leider widerspricht dem die Erfahrung…
Wie kann sich überhaupt “seelische Gesundheit” einstellen ohne Fundament, ohne Basis, ohne Ausgangspunkt, auf quasi ‘sumpfigem Terrain’?
Welches Fundament meinen Sie? Die Geschichtswissenschaft? Oder etwa die heutigen religiösen Vielfalten?
Ob dies solide Fundamente darstellen? Da melde ich meine Zweifel an! Und wo sehen Sie denn sumpfiges Terrain? Wir betonieren doch nahezu sämtliche vorhandenen irdischen Grundstücke…
Welches Fundament ich meine?
Braucht nicht jeder Mensch eine irgendwie geartete Identität?
Basiert nicht Identität auf zumindest rudimentärem Wissen über die eigene Herkunft, Vergangenheit, Geschichte, Kultur?
Fragt man Menschen was sie sind, geben sie, ich habe es hier in Bayern mehrfach getestet, sehr unterschiedliche Antworten. Die einen antworteten (z.B.) mit „Münchner“ oder „Deggendorfer“, andere sahen sich als Niederbayer, Oberbayer, Bayer oder Deutsche, wieder andere (wenngleich wenige) als EU-Bürger oder Europäer, noch weniger als Kosmopoliten oder „Weltbürger“, kaum einer sagte „Mensch“.
Ganz egal welche Antwort die Befragten gaben, identifizierten sie sich mit der dazugehörigen ‚Einheit‘ mehr oder weniger und wussten auch Begründungen zu nennen, warum sie sich gerade so oder anders empfanden. Diese Begründungen basierten i.d.R. auf den oben aufgezählten vier Aspekten.
„Sumpfiges Terrain“ sehe ich da, wo die Menschen von Unsicherheiten über die eigene Identität geplagt werden. Wenn ich Bürger verhalten, aber durchaus vernehmlich, klagen höre „man sagt uns ja nicht alles über unsere Vergangenheit“ oder „die da oben werden schon wissen, warum’s uns ned die Wahrheit sagen“, dann wird mir dies ganz besonders bewusst.
Unsicherheiten über die eigene Identität kann man gewiss eine zeitlang überspielen, etwa durch extrem ausgeprägten Nationalstolz und Selbstüberschätzung („Mia san mia!“), aber ob das auf die Dauer der richtige Weg ist – da hege ich meine Zweifel.
Als in Bayern geborener Europäer und somit Bayer, setze ich mich daher für eine Überwindung der geläufigen Geschichtslügen und für einen ehrlichen Umgang mit unserer Geschichte ein.
Geschichtslügen gibt es in allen Kulturen.
Leider kann ich nicht überall tätig werden, sondern muss mich auf ein Gebiet beschränken. Naheliegenderweise ist dieses Gebiet das meiner näheren oder etwas weiteren Umgebung, sprich Bayern und Deutschland bzw. mit der deutschen Geschichte in Zusammenhang stehende internationale Themen, wie etwa die Juden von Saloniki.
Geschichtslügen haben in einer Zeit des Internet nur noch eine sehr begrenzte Lebenserwartung. Dennoch halten es wertkonservative Zeitgenossen wie etwa zahlreiche Politiker, der Klerus, beamtete Historiker, bisweilen auch Wikipedia für nötig, Mythen und Legenden so lange wie nur möglich zu bewahren; gemeint sind Mythen wie die z.B. vom „in seinem Kern guten“ und scheinbar so menschenfreundlichen Christentum, oder von Dynasten und Idolen deren Vita möglichst kein rassistisches Stäubchen trüben darf, usw.
@ Uri Degania & R. Schlickewitz
Sehr geehrte Herren,
ihre Reaktionen auf die Anmerkung von Herrn Soran-Schwarz veranlasste mich einen Bericht ihnen zur Reflexion zu empfehlen:
http://test.hagalil.com/2011/12/05/psychotherapeuten/
Im Gespräch mit dem jüdischen Psychotherapeuten Nicolai Stern
Von Lutz Lorenz
.
„Eine besondere Belastung sieht Stern auch in der kulturspezifisch jüdischen Erinnerungskultur. Kaum eine christliche Familie werde sich an der Inquisition des Mittelalters orientieren, doch berichtet er mir von einer Patientin, in deren Familie immer wieder von der Verbrennung einer namentlich sogar bekannten Vorfahrin als Hexe vor mehreren hundert Jahren erzählt wurde. Im Kopf seiner Patientin führe sich diese Hexenverbrennung mit den Pogromen vieler späterer Jahrhunderte bis zum Holocaust weiter, “und jetzt bin ich die einzige Überlebende”, resümiert die Dame ihre Familiengeschichte, die mit ihrem Tod, ausgerechnet in Deutschland, nun bald enden werde.„
Ist ständiges Erinnern daher im Sinne von Soran-Schwarz Geschichtslosigkeit oder ein spezieller Exhibitionismus?
Ist Verdrängen und Vergessen für unsere seelische Gesundheit nicht zwingend notwendig?
„Ist Verdrängen und Vergessen für unsere seelische Gesundheit nicht zwingend notwendig?“
Wenn das so wäre, warum haben dann sämtliche Kulturen (nicht nur Länder!), die wir kennen, das Bedürfnis ihre Geschichte festzuhalten, das Vergessen zu verhindern, zu erinnern?
Wie kann man eine, doch hoffentlich wohl bessere, Zukunft anstreben, ohne aus seiner Geschichte zuvor die nötigen Lehren gezogen zu haben?
Wie kann sich überhaupt „seelische Gesundheit“ einstellen ohne Fundament, ohne Basis, ohne Ausgangspunkt, auf quasi ’sumpfigem Terrain‘?
Ich stimme Robert Schlickewitz vollständig zu, danke. Ich hatte gleichfalls den Impuls, in dieser Weise für den informativen Bericht von Michael Westerholz zu danken. Wer Erinnerung moralisch zu diskreditieren versucht, wer die Vergangenheit nicht zu akzeptieren vermag – dem vermag man nicht mehr zu helfen. Auch hier gilt: Walser lässt grüßen… Wenn Sie sich nicht für die Vergangenheit interessieren, geschichtslos leben wollen – dann tun Sie dies doch! Nur: Was suchen Sie dann hier?
Weil Sie Walser erwähnen, Herr Degania.
Spaßig ist, dass der „große alte Mann der deutschen Nachkriegsliteratur“ offensichtlich an einem Bayernkomplex leidet. Geboren ist er nämlich in Wasserburg am Bodensee, einer zu Bayern gehörenden Gemeinde am „Schwäbischen Meer“. Jedoch erfüllte Walser diese Zugehörigkeit zum Lande der Bajuwaren nicht mit ‚Stolz und Heimatliebe‘, denn er tat bisher alles ihm nur Mögliche um eine eventuelle Verbindung zum Freistaat zu unterdrücken. Er will partout nicht Bayer sein (oder Bayer genannt werden).
Ein trauriger Witz, zu dem auch dieser lange Artikel gehört, der – wie ein Blick in die lange Liste weiterer Artikel gleichen Autors – auf obsessiver Weise das Gleiche wieder und wieder zerkaut, ohne dass dadurch die Argumentation oder die Anschauung an Wert gewännen.
Irgendwie stimmt es mich sehr traurig, dass alle Seiten schlecht verdeckte Verbissenheit für eine moralische Tugend halten.
Als Jude würde ich es begrüßen, wenn die Damen und Herren aus dem Ort ihre Wäsche ohne Exhibitionismus reinigen. Oder begraben, oder wegwerfen. Ich habe keine Lust, dem beizuwohnen.
Niemand zwingt Sie, Herr Soran-Schwarz, Artikel über Deggendorf zu lesen. Es war Ihr freier Entschluss. Wenn Sie zuviel Zeit haben – Ihr Problem!
Für die Menschen hier in der Region sind die Artikel von Herrn Westerholz oft die einzige Möglichkeit sich über ihre dunklen Zeiten zu informieren, da die CSU-gelenkte lokale Presse bzw. selbst allerneueste Heimatkundebücher unpopuläre Tatsachen am liebsten verschweigen bzw. unterdrücken.
Herr Westerholz hat zudem seine früheren Beiträge mit diesem Artikel aktualisiert.
Ich bin sicher, dass ich nicht der einzige bin, der ihm dafür dankbar ist.
Die Bücher der zweiten ehrlichen Niederbayern-NS-Spezialistin, Anna Elisabeth Rosmus, sind bedauerlicherweise nur in kleiner Auflage gedruckt worden und fast alle vergriffen.
Es hat nichts mit „Verbissenheit“ zu tun, aufzuklären. Es ist vielmehr eine Notwendigkeit in einer Welt, die nahezu ausschließlich auf Konsum, Wellness und platte Unterhaltung ausgerichtet ist.
„Als Jude…“ – interessiert doch keinen!