Vor genau einhundert Jahren wurde in Israel die Kibbuz-Bewegung gegründet. Ihr Programm nahm Dinge vorweg und, ab den Zwanziger- und Dreißigerjahren, andere auf, die auch das historische Bauhaus beschäftigten…
Das Wohnen und Arbeiten in Gemeinschaft, am Bauhaus zum Grundbestand einer Hochschule gemacht, ist im Kibbuz bis heute der Rahmen, in dem das Leben abläuft. Und auch direkte Einflüsse gibt es, etwa durch die Bauhäusler, die nach dem Studium in Deutschland nach Palästina gelangten und dort den Aufbau eines israelischen Staates als Architekten und Planer mitgestalteten.
Die Kulturwissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin der Stiftung Bauhaus Dessau, Regina Bittner, und Werner Möller, Kurator der Ausstellung Bauhaus und Kibbuz, die im Winterhalbjahr 2011/12 am Dessauer Bauhaus gezeigt wird, in einem Skype-Gespräch mit Galia Bar Or und Yuval Yasky über die Bedeutung der Kibbuzim für die israelische Gesellschaft — und die Perspektiven dieser Inseln in einer immer schnelleren Zukunft.
Die begleitenden Bilder stammen von der Künstlerin Stephanie Kloss und der Politikwissenschaftlerin Antonia Blau. Sie haben 40 Kibbuzim besucht und das dortige Leben in Fotografien und Interviews dokumentiert. Die Bilder sind ebenfalls Teil der Dessauer Ausstellung.
Hat der Kibbuz wieder eine Zukunft?
Ein Gespräch über die Entwicklung eines sozialen Modells und die Renaissance der Gemeinschaftlichkeit
Erschienen in: bauhaus. Die Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau, Ausgabe 2/2011
Regina Bittner, Werner Möller: Betrachtet man die Geschichte und die Ideen der Bauhausbewegung, so fing man bei Null an, es wurde reiner Tisch mit der Geschichte gemacht. Wie aber würden Sie den Anfang des Kibbuz-Konzepts vor dem Hintergrund der Moderne beschreiben? Worüber wir hier reden, ist das ‹Auslöschen der Vergangenheit›, die Idee der Tabula rasa, das Ablehnen jeder Art von Tradition. Natürlich ist das ganz klar ein Bauhaus-Ansatz, aber vielleicht gibt es ja bestimmte Bezüge zu oder Gemeinsamkeiten mit dem Kibbuz-Konzept?
Yuval Yasky: Auf der einen Seite lehnten die Kibbuzim die alten Lebensformen mit der Maßgabe ab, dass es neue, bessere Arten des Zusammenlebens, neue Wege der Organisation von Gemeinschaftsleben geben müsse. Andererseits finden wir doch auch Anzeichen für etwas, das eher eine Umdeutung vorhandener Traditionen ist — insbesondere in Bezug auf jüdische Traditionen im Kibbuz-Leben. Denkt man an solche Anlässe wie Begräbnisse, Gebete, Feiertage und dergleichen, dann ging es da nicht um die völlige Ablehnung oder das komplette Abschreiben alter Traditionen und alter Lebensweisen, sondern eher um eine Neuinterpretation und -ausrichtung, eine Anpassung an das neue, lebenswertere, gesündere Leben. Dabei bezog sich die Ablehnung nicht so sehr auf den Inhalt, die Philosophie, sondern mehr auf formale Aspekte. Deshalb findet man so viele Rückbezüge auf jüdische Traditionen — selbst in der Kibbuz-Architektur. Im Allgemeinen sind Wohngebiete oft von ländlicher Architektur geprägt, während moderne Architektur eher bei öffentlichen Bauten auszumachen ist. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Bewegungen, aber insgesamt scheint es nicht um die völlige Abschaffung der alten Welt zu gehen.
Galia Bar Or: Anscheinend hatten die Gründer der Kibbuzim begriffen, dass gesellschaftlicher Wandel eben nicht von einer Tabula rasa aus beginnt und dass Tradition und Kunst nicht bloßer ‹Überbau› sind, sondern untrennbarer Bestandteil ihres Lebens als Individuen und als Gesellschaft. Zwar war für sie eine zukunftsgerichtete Ideologie wichtig, doch glaubten sie zugleich, dass sie, um soziale Veränderungen bedeutsam und fruchtbar für die Zukunft zu machen, mit den tief verwurzelten kulturellen Strukturen arbeiten müssten, die Teil ihrer Lebenswelt in der Diaspora waren. Deshalb ging es bei der Begrifflichkeit des Kibbuz nicht nur um ein gewisses Verwerfen der Vergangenheit, sondern auch um eine Neudeutung alter Werte, die Erneuerung von Institutionen — etwa auf der Grundlage der Gegenseitigkeit (traditionelle Nachbarschaftshilfe in jüdischen Gemeinden usw.) oder die Übersetzung religiöser jüdischer Erfahrungen in moderne säkulare geistige Erfahrungen (wie durch den Bau von Kunsteinrichtungen ausgedrückt). All das hatte Einflüsse auf die Struktur und die Entwicklung eines Kibbuz, obwohl jede Kibbuz-Bewegung eine andere Position in Bezug auf Tradition und Wandel bezog. Zur Ideologie kann man sagen, dass die verschiedenen Kibbuz-Bewegungen unterschiedlichen Gesellschaftskonzepten anhingen, die auf Formen des Sozialismus und seiner Auslegung durch unterschiedliche jüdische Gelehrte und Philosophen beruhten.
Bittner: Um wieder auf das Bauhaus zu kommen — es gibt zurzeit zahlreiche Forschungsarbeiten, insbesondere zu den Traditionen, auf die das Bauhaus aufbaute. Man schaue sich nur einmal die vom Bauhaus geschaffenen Einrichtungsgegenstände an: Dabei handelte es sich ja nicht um wirkliche Neuerfindungen, eher um die Weiterführung der Vergangenheit in anderer Form und in einer anderen Sprache. Das heißt, selbst für die avantgardistischen Bauhausideen hatte das 19. Jahrhundert einen großen Einfluss auf deren Wahrnehmungsweise. Dasselbe gilt auch für bestimmte Aspekte der Bauhausarchitektur — daraus kann man ableiten, dass die gesamte Idee der Tabula rasa und dessen Vermischung mit dem Bauhauskonzept und möglicherweise der gesamten Moderne viel komplexer und vielleicht viel subtiler diskutiert werden muss. Doch lassen Sie uns jetzt das Thema Tradition und Geschichte näher und tiefgründiger betrachten: Wessen Vergangenheit wurde da eigentlich ausgelöscht und welche wurde bewahrt? Was wurde ausgehandelt oder integriert, und was wurde ad acta gelegt?
Bar Or: Nun, die allererste Ablehnung betraf das Bild vom Schtetl. Die Menschen hatten das Schtetl verlassen, weil sie dort keine Zukunft mehr für sich sahen — trotzdem hatte das Schtetl natürlich einigen Einfluss auf die Institutionen und vielleicht sogar die Form des Kibbuz. Doch die Kibbuznikim versuchten neue Identitäten gegen die Lebensvorstellungen im Schtetl in Bezug auf Wirtschaft, Kultur etc. auszuformen. Viele der frühen Kibbuznikim lasen den russischen Anarchisten Kropotkin, identifizierten sich mit dem Anarchismus und der osteuropäischen Revolution in den Zwanzigerjahren. Später, Anfang der Dreißigerjahre, kamen mit der Flüchtlingswelle aus Deutschland auch die Ideen der deutschen Jugendbewegung.
Yasky: Für viele der Kibbuz-Gründer bildete das Schtetl einen festen Bestandteil ihrer eigenen Vergangenheit, das hieß, sie wollten damit einen Teil ihrer eigenen Identität aufgeben. Diese Menschen versuchten praktisch eine Neufindung über neue Gewohnheiten, Kleiderordnung und so weiter. Dazu bedienten sie sich einer Kultur, die eher physisch geprägt war, ohne aber die spirituellen Aspekte des Judentums ganz zu vergessen. Es handelte sich dabei um den Versuch, Arbeit und körperliche Betätigung mit der Ausbildung einer eigenen Identität zu verbinden und sich zugleich von der osteuropäischen Identität und den dortigen abgeschotteten Gemeinschaften zu lösen. Meiner Meinung nach ist das ein Teil jener Geschichte, die sie hinter sich lassen wollten.
Möller: Welche Einflüsse des Bauhauses gelangten denn in der Anfangszeit nach Israel, etwa mit den in die Kibbuzim kommenden Bauhausarchitekten? Sehen Sie da Anzeichen für eine engere Beziehung zum Kibbuz und den damit verbundenen Konzepten im Sinne von Leuten wie Sharon oder Mestechkin, die aus Palästina kommend eine Art Aufbaustudium am Bauhaus absolvierten und anschließend zurückgingen? Und, apropos Bauhausarchitekten, welche Rolle spielten eigentlich Architektur und moderne Stadtplanung für die Kibbuz-Bewegung?
Bar Or: Der deutsche Einfluss auf die israelische Architektur ist sehr stark — und ist insbesondere der Rolle Richard Kauffmanns Anfang des 20. Jahrhunderts geschuldet. Kauffmann wurde praktisch als Chefplaner ins Land geholt und er war auch für einige Modellplanungen für die Kibbuz-Bewegung verantwortlich. Er identifizierte sich persönlich mit der Kibbuz-Idee und mit der Schaffung einer sowohl ländlichen als auch urbanen Gemeinschaft, einer Mischung aus Neuem und Altem.
Yasky: Ja, Kauffmann ist wirklich eine Schlüsselfigur. Nach seiner Ausbildung in Deutschland und seiner dortigen Tätigkeit als etablierter Stadtplaner und Architekt musste Kauffmann Modelle für den Kibbuz und dessen ganz andere gesellschaftliche Organisation entwickeln. Schlussendlich schuf er Gartenstädte nach dem von ihm selbst in Deutschland realisierten Vorbild. Meiner Meinung nach verstanden Sharon und Mestechkin — und mehr noch Milek Bickels, der nicht aus Deutschland kam und auch nie am Bauhaus war — als Erste die Notwendigkeit der Entwicklung oder Erfindung neuer Modelle; Modelle, die noch viel moderner als die Kauffmann’schen sein mussten. Beide arbeiteten ja sehr stark mit Diagrammen. Davon ausgehend braucht man nur die grafischen Darstellungen Sharons aus seinen Bauhausstudien mitzudenken und man hat den besten Nachweis für eine sehr starke Verbindung zwischen dem Bauhaus und diesen frühen Kibbuz-Modellen. Diese Entwürfe zeigen eine neue Denkweise in Bezug auf formale und physische Beziehungen und bestimmten auch die Arbeitsweise für die Kibbuzim: Sie versuchten immer, zuerst die soziale Organisation abzubilden und Entwürfe zu erstellen, die dann in physische Beziehungen übersetzt werden konnten. Das ist der Hauptunterschied zur Arbeit Kauffmanns, der vorhandene Modelle anpasste — obwohl auch diese Modelle Anfang der Zwanzigerjahre natürlich recht neu waren.
Bittner: Wenn wir über Architektur sprechen, sollten wir das vielleicht noch etwas mehr präzisieren — insbesondere, wenn es um die Konzeptualisierung der Architektur geht. Lassen Sie uns darüber sprechen, wie diese Kollektivsiedlungskonzepte in der Architektur funktionierten und wie sich Architektur im Ergebnis dieser kollektiven Strukturen herausbildete. Wir haben bereits die Arbeit auf Grundlage von Diagrammen erwähnt, eine eng mit dem zweiten Bauhausdirektor Hannes Meyer verbundene Bauweise. Die Grundidee dieser auf das Bauen ausgerichteten Architektur war eine neue Architekturauffassung, nämlich die Ablehnung des veralteten Architekturkonzepts als Kunstgattung — in Deutschland auch als ‹Baukunst› bezeichnet.
Yasky: Dem stimme ich vollkommen zu — wir alle kennen die enge Verbindung zwischen Sharon und Meyer. Was Sharon von Meyer gelernt hat, war die Anwendung dieses wissenschaftlichen Ansatzes auf allen Ebenen: vom gesamten Kibbuz über ein Viertel oder eine Kinderbetreuungseinrichtung bis hinab zu den Gebäuden selbst. Ganz anders war dagegen die Arbeitsweise von Munio Weinraub, der ein mehr handwerklich orientierter Architekt war. Das kann man vielleicht nicht an seiner Architektur ablesen, aber eindeutig in seinen Entwürfen für Alltagsgegenstände und Möbel. Doch auch dieser handwerkliche Ansatz führt schließlich zu Erfindungen im Zusammenhang mit sozialer Organisation und praktischen Themen. Ein Entwurf musste diesen Bedürfnissen entsprechen — und das hatte Weinraub eindeutig als Student am Bauhaus gelernt.
Bar Or: Das wissenschaftliche Herangehen an Architektur könnte auch etwas mit den Ideen des Marxismus zu tun haben — zuerst kommt eine Untersuchung und dann werden die Erkenntnisse auf die Arbeit angewandt. Hier ist eine Beschäftigung mit Bickels interessant, der 1909 in Lemberg geboren und am örtlichen Polytechnikum ausgebildet wurde, mit allen dortigen Einflüssen aus Deutschland und Russland. Nach seiner Ankunft in Palästina ließ er sich schnell auf die modernen Kulturen ein, die er zuvor bereits während eines Frankreichbesuchs in den Arbeiten von Le Corbusier und anderen gesehen hatte. Deutsche Einflüsse, wie etwa die des Bauhauses, waren für seine Arbeit auch wichtig, aber nicht vordergründig. Ihm ging es immer darum, einen dynamischen Austausch zwischen den Menschen, für die er plante, zu realisieren — und er versuchte, auf deren spezifische Wünsche und auf die topografischen Gegebenheiten einzugehen — denn die Kibbuzim wurden ja in unterschiedlichen Landschaften gebaut, in den Bergen, in der Wüste oder an der Küste.
Bittner: In den Kibbuzim wurde diese Ideologie des kollektiven Arbeitens durch gemeinschaftliche Aktivitäten umgesetzt, aber auch über die Art und Weise, wie die Kibbuznikim das Land bestellten, ihre eigenen Lebensmittel erzeugten — jeder war einfach immer mitverantwortlich für die Gemeinschaft und deren Zusammenarbeit. Und das Bauhaus hatte ja — zumindest auf ideologischer Ebene — auch dieses Ideal des kollektiven Arbeitens: Im Sinne des ‹Gesamtkunstwerks› arbeiteten alle möglichen Künstler und Architekten gemeinsam an einem Werk. Was sie dabei ablehnten, war eine eher bürgerliche, individualistische Kultur, die Vorstellung, dass solche Werke in autistischer Manier von einem Einzelnen geschaffen werden müssten, der häufig als Künstlergenie bezeichnet wurde. Diese Ablehnung könnte die ideologische Last sein, die beide Bewegungen miteinander teilen.
Bar Or: Völlig richtig, das ganze kleinbürgerliche System wurde von den Kibbuznikim abgelehnt, und deshalb wurde die Kibbuz-Architektur eben nicht auf ihren Ikonen errichtet. Tatsächlich ging es ihnen um einfachere Strukturen, doch versucht natürlich jeder Kibbuznik auch, sich ein wenig selbst in seinem kleinen Garten oder Hauseingang zu verwirklichen. Dieses Konzept eines Modells mit Mustern, die nicht auf Statusikonen fußen, sondern auf Grundlage der Beziehung zwischen Privatem und Kollektivem als größeres System entwickelt werden und die natürlich im Laufe der Jahre leicht modifiziert werden, ist ein Wesensmerkmal der Kibbuz-Architektur.
Yasky: Dieses Thema der ‹gattungsmäßigen› Architektur ist sehr interessant, da die Kibbuzim einerseits als physische Artefakte auf vielerlei Weise denselben Grundsätzen folgen, andererseits aber sich jeder Kibbuz vom nächsten unterscheidet — selbst im Vergleich mit dem direkten Nachbardorf. Der offensichtliche Grund dafür ist, wie sich professionelle Architekten, Landschafts- und Stadtplaner mit der jeweiligen Kibbuz-Führung ins Benehmen setzen. Aufgrund dieser Absprachen hat jeder Kibbuz seine eigene Kultur und Identität entwickelt. Im Architekturgefüge, insbesondere in den Wohngebieten, werden diese Unterschiede sichtbar. Ein Foto in der Ausstellung zeigt dagegen ein von Richard Kauffmann entworfenes Gebäude. Es stammt von einem nicht näher benannten Kibbuz — in dem jeder Kibbuznik treffsicher seinen eigenen zu erkennen glaubte. Denn es waren tatsächlich identische Gebäude, die überall wiederholt wurden. Natürlich gibt es auch Individualität in den Kibbuzim — doch ist das die individuelle Identität einer Gemeinschaft aus allgemeinen und nicht spezifizierten Individuen. Da gibt es zum Beispiel diese verrückten Gärtner, die ihr eigenes Fleckchen Erde in öffentlichen Parkanlagen bestellen, aber das sind nur Randbeispiele für Individualismus.
Unbekanntes Gebäude, 1930er Jahre, Architekt: Richard Kauffmann
Bittner: Ein weiteres Thema, das in Bezug auf die Kibbuzim sehr interessant zu sein scheint, ist der Gegensatz zwischen ruralem und urbanem Lebensstil. Handelt es sich dabei um die bloße Weiterführung der Suche der europäischen Avantgarde nach einer alternativen Lebensweise — insbesondere als Alternative zu Trends wie Rationalisierung, Industrialisierung in den westlichen Zivilisationen? Denn wenn wir solche Projekte wie die Gartenstädte mitdenken, dann können wir überall Anhaltspunkte für die europäischen Wurzeln der Kibbuzim finden. Es stellt sich die Frage nach dem Ausmaß, in dem der Kibbuz diese Konzepte der europäischen Siedlungs- und Gartenstadtbewegungen ‹nachempfunden› hat — oder wurde tatsächlich ein völlig neues Stadtkonzept entwickelt, das alle Urbanismuskonzepte des frühen 20. Jahrhunderts über den Haufen warf?
Bar Or: Nun ja, das impliziert natürlich, dass man den Kibbuz als bloße Ablehnung von Urbanismus auslegt und dieses Klischee von der Rückkehr aufs Land und dessen Bebauung in einer ländlichen Gesellschaft betont. Schaut man jedoch zurück auf die frühen Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als die größte Kibbuz-Bewegung, Hakibbutz Hameuchad, gegründet wurde, so hatten die Mitglieder eher eine Verschmelzung von Stadt und Dorf im Sinn. Dabei spielten die Ideen von Kropotkin eine wichtige Rolle, ebenso wie die deutscher Soziologen wie Ferdinand Tönnies, aber auch die des russischen Anarchismus und Sozialismus. Sicherlich wollten die Menschen damals eine neue Form der Siedlungsweise entwickeln, in der Konzepte wie ‹Gemeinschaft› und ‹Gesellschaft› miteinander verbunden werden sollten, um die Lebensverhältnisse für jedermann zu verbessern. Das war das ‹Utopia› der damaligen Zeit. Natürlich beinhaltet das unterschiedliche Dinge zu verschiedenen Zeiten für die unterschiedlichsten Menschen, das würde ich hier eher hervorheben als die Vorstellung einer kleinen Gruppe auf dem Lande, die sich nur der Landwirtschaft widmete.
Yasky: Im zweiten Entwicklungsjahrzehnt der Kibbuzim wurde das Konzept dieser kleinen Gruppe auf Gehöften allmählich fallen gelassen. Der einflussreichste Aspekt im Ein-Harod-Plan von Kauffmann (1926) war, dass der Kibbuz als städtische — nicht einmal vorstädtische — Siedlung angesehen wurde, obwohl einige der Planungen vielleicht etwas nach Gartenvorstadt aussehen. Bei näherer Betrachtung änderte sich jedoch die Kibbuzim-Idee hin zu einer modernen Industriegesellschaft, so dass wir heute in den Kibbuzim alle Annehmlichkeiten und Einrichtungen einer normalen Stadt finden. Die Kombination des geistig-kulturellen Lebens mit Land- und Industriearbeit war ein Kerngedanke und in fast jedem Kibbuz anzutreffen — das heißt also, wir reden über ein völlig urbanes Modell, aber natürlich eines der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Das ist vielleicht nicht immer gleich so augenfällig, da die heutigen Stadtplaner häufig traditionalistischer als ihre Vordenker aus der ersten Jahrhunderthälfte sind. Aber als Sharon 1952 den Bau neuer Städte in Israel plante, stütze er sich hauptsächlich auf das Kibbuz-Modell.
Möller: Also liegt das Erfolgsgeheimnis der Kibbuzim in deren hochproduktiven und sehr flexiblen Strukturen?
Bar Or: Genau. Auch der Erfolg der Kibbuz-Architektur ist ja deren Anpassungsfähigkeit und Flexibilität geschuldet. Alle Veränderungen im Wandel der Zeiten konnten so mitgemacht werden. Mein eigener Kibbuz zum Beispiel ist 90 Jahre alt — und das bedeutet 90 Jahre Veränderung und Anpassung.
Yasky: Auch das Thema Flexibilität läuft wiederum auf zwei Ebenen ab. Zunächst sind da die Gebäude — insbesondere Kulturbauten — selbst, die ein breites Raumprogramm hatten. Das war natürlich in voller Absicht so angelegt, denn ein Speisesaal war nie nur für die Esseneinnahme gedacht, sondern musste auch andere Nutzungen zulassen, und die Theater wurden zum Beispiel auch als große Gemeindesäle genutzt. Mit der Art von Architektur wurden völlig neue Typologien unter der Maßgabe entwickelt, dass alles beweglich und ohne ein starres Raumprogramm sein musste. Der andere Bereich von Flexibilität bezieht sich auf den Kibbuz. Auch dort musste alles beweglich und bei Bedarf zur Funktionsänderung ausgelegt sein. Der Hauptgrund ist, dass der Grund und Boden allen gehörte. Es gab nur Gemein- und kein Privateigentum, das heißt, die Gemeinschaft konnte entscheiden, was wie getan werden sollte — es bedurfte nur eines Beschlusses der Versammlung. Heutzutage wird alles immer starrer, Schuld ist die Privatisierung, die das Land in kleine Parzellen teilt und damit den wichtigen Faktor Flexibilität beeinträchtigt. Betrachten Sie alte Karten der Kibbuzim, dann verstehen Sie sofort die grundlegenden Planungsmechanismen: Es gab keinerlei Teilungen — es gab keine Parzellen für öffentliche Bauwerke, Wohngebäude oder Industriebauten. Alle Flurstücke sind in der gleichen Farbe ausgewiesen und der Kibbuz konnte über die Flächennutzung entscheiden.
Kibbuz Mizra, Speisesaal (Architekt: Shmuel Mestechkin), Foto: Stephanie Kloss
Bittner: Wenn man Ihre sehr interessanten Erläuterungen zur Komplexität und Flexibilität des Kibbuz-Konzepts hört, wird schnell klar, dass es sich dabei weder um ein Dorf noch um eine Stadt handelte. Es ging um eine völlig neue Idee, die Erfindung einer neuen Siedlungsform. Im Vergleich zur gegenwärtigen politischen Situation erscheinen die früheren Kibbuz-Ideen wie eine Ausformulierung der nationalen israelischen Identität, ein Integrationsansatz. Und gleichzeitig ist es wie eine gelebte Utopie unter Einbeziehung aller positiven Vorstellungen dieses ‹Projektes Israel›. Wie sehen Sie in diesem Kontext die gegenwärtigen Proteste in Israel? Hat der Kibbuz vielleicht Ansätze für eine Lösung?
Bar Or: In den letzten sechs, sieben Monaten gab es schon einige Veränderungen. Vor Kurzem gab es eine ernsthafte Diskussion der führenden Mitglieder der Kibbuz-Bewegung darüber, wie die Kibbuzim zu sanieren oder weiterzuentwickeln und an die heutigen Bedürfnisse anzupassen sind. Hinzu kommt, dass gerade jetzt der Grundgedanke der Solidarität und Gemeinschaftlichkeit eine Renaissance erfährt. Das sind Begriffe, die man lange Zeit kaum noch gehört hatte. Damit wird der Kibbuz im weiteren Sinne wieder zu einem Impulsgeber. Ganz nach Derridas Marx’ Gespenster: Wir müssen an der Philosophie der Verantwortung arbeiten — Ideen und menschliche Erfahrungen verschwinden nicht.
Yasky: Was Galia gesagt hat, stimmt. Als wir darüber sprachen, welchen Raum Solidarität und Demokratie einnehmen, darüber, wie man die Menschen an Themen wie Stadtplanung, Architektur und Raumschöpfung teilhaben und entscheiden lassen kann, hielten uns manche für reine Utopisten. Natürlich waren wir damals noch weit von irgendwelchen Lösungen entfernt, aber wir sahen alle den Antrieb und den Bedarf, dass die Menschen in den Entscheidungsprozess mit eingebunden werden mussten. Und ich glaube, dass der Kibbuz ganz gewiss ein sehr gutes Modell für eine solche gesellschaftliche Praxis ist. Andererseits gab es in den letzten paar Jahren auch so etwas wie eine Revolution in den Kibbuzim, eine Art Konterrevolution der Führungsgremien, mit der die direkte Demokratie durch verschiedene Leitungsebenen ersetzt wurde, auf denen die Entscheidungsfindungen ablaufen. Im Augenblick scheint nicht ganz klar zu sein, in welchem Maße diese Führungskräfte eine Teilnahme oder eine Einmischung der Öffentlichkeit zulassen. Was wir aber dessen ungeachtet heute und schon während der letzten drei oder vier Monate erleben, ist ein erneuertes Interesse an den Traditionen des Kibbuz als einer direkten Demokratiebewegung. Das betrifft auch junge Kibbuz-Mitglieder — und damit ist diese gegenwärtige Revolution definitiv eine Revolution der Jugend, der Zwanzig- und Dreißigjährigen und auch der Studenten. Es ist diese Bevölkerungsgruppe, die sich wieder dem Kibbuz als einem Modell zur Organisation einer Gemeinschaft auf der Grundlage der direkten Demokratie zuwendet. Wir erleben damit eine sehr interessante Epoche in der Geschichte Israels — und vielleicht auch in der Geschichte der Kibbuzim.
Möller: Es gibt also noch Hoffnung für Utopia — und für die Zukunft der jungen Generation!
Galia Bar Or wurde in Geschichte an der Tel-Aviv University promoviert und ist seit 1985 Direktorin und Kuratorin des Kunstmuseums in Ein Harod. Ihr Buch Our Life Requires Art: Art Museums in Kibbutzim wurde 2010 mit dem Ben-Zvi-Preis ausgezeichnet. Yuval Yasky ist Architekt aus Tel Aviv, Israel, und Partner bei Keshet-Yasky. Er lehrt Architektur und Urbanismus am Technion (Israel Institute of Technology) und an der Bezalel Academy of Arts and Design, wo er seit 2010 die Architekturfakultät leitet. Er hat mehrere Bücher über israelische Architektur und Stadtplanung herausgegeben und Ausstellungen zum selben Thema kuratiert. 2010 war er gemeinsam mit Galia Bar Or Kokurator des israelischen Beitrags auf der 12. Biennale in Venedig zum Thema Kibbuz — eine Architektur ohne Vorläufer.
Stephanie Kloss , geboren in Karlsruhe, hat in Berlin Architektur und Kunst studiert und arbeitet heute als Künstlerin und Dozentin für Fotografie. Ihre Arbeiten wurden in einer Vielzahl von Ausstellungen gezeigt. Antonia Blau, Politikwissenschaftlerin aus Berlin, war 2008/2009 für verschiedene Nichtregierungsorganisationen in Israel und den palästinensischen Gebieten tätig und lebt und arbeitet heute in Berlin und Brüssel.
“Kibbuz und Bauhaus”
Freitag, 25. November 2011 bis Montag, 9. April 2012, täglich 10 bis 18 Uhr
Werkstattflügel des Bauhausgebäudes, Gropiusallee 38, 06846 Dessau-Roßlau
Eintritt: 6,– Euro / ermäßigt 4,– Euro (inkl. Dauerausstellung), Kinder und Jugendliche frei
Ausstellungseröffnung
Donnerstag, 24. November 2011, 19 Uhr, Eintritt frei
Weitere Informationen: www.bauhaus-dessau.de