Ägyptischer Auszug aus Ägypten

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Es gibt Leute, die bei jeder Gelegenheit eine Krise sehen. Und es gibt solche, die in jeder Krise eine Gelegenheit sehen. Ich zähle zu den letzteren…

Von Michael Melchior

Eine tiefere Betrachtung der Vorgänge in der arabischen Welt sollte jeden freiheits- und gerechtigkeitsliebenden Menschen im Allgemeinen und jeden Juden im Besonderen mit Freude erfüllen. Es liegt hier so etwas wie eine Wiederholung des Auszugs aus Ägypten vor. Doch diesmal sind es die Ägypter, die von der Knechtschaft zur Freiheit ausziehen. Ein ganzes Volk hat sich – beinahe ohne Blutvergießen – gegen ein Regime von Folter, Despotismus und Knechtschaft erhoben. Jeder Jude sollte sich freuen über diesen Sieg von Gerechtigkeit und Wahrheit über Unterdrückung und Lüge.

Ein Ausdruck dieser Identifikation lässt sich in den wundervollen Worten des Rabbiners Samson Raphael Hirsch finden, eines der herausragenden jüdischen Gelehrten der Neuzeit. In seinem Kommentar „Hachalat Hasar“ zur Pessach-Haggada drückt er den Segen aus, den man angesichts eines Ereignisses sprechen sollte, dessen Ziel die Befreiung vom Joch der Knechtschaft ist: „Alle freien Menschen auf der Welt, alle Kämpfer für Freiheit und Menschenrechte, haben sich zum Segen Israels versammelt… denn mit der Geburt der Freiheit Israels wurde auch ihre Freiheit geboren, da die aus Ägypten Ausziehenden den Menschen das Bewusstsein zurückgaben, das sie verloren hatten – dass alle einen Vater und gleiche Rechte haben…Von den aus Ägypten Ausziehenden empfingen sie das Buch, dass die Rechte jedes Menschen bekräftigt und die Freiheit des Menschen und die göttliche Würde jedes Wesens festschreibt.“

Vor jeder opportunistischen politischen Rechnung sollte man die Dimension des Wandels vom Blickwinkel jüdischer Moral aus erkennen. Auf politischer Ebene ist der Friedensvertrag mit Ägypten zwar ein großer Segen gewesen. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass dies ein Friedensvertrag gewesen ist, der mit einem Autokraten und Diktator geschlossen wurde, und kein wirklicher Frieden, der auf gemeinsamen Werten wirklicher Anerkennung und Nähe und einer ehrlichen und offenherzigen Beziehung mit dem ägyptischen Volk beruhte.

Darüber hinaus: Wie Tyrannen es zu tun pflegen, bediente sich auch der ägyptische Despot des Antisemitismus als Blitzableiter, um die gegen ihn gerichtete Kritik der Opposition auf das jüdische Volk und den Staat Israel umzuleiten. Ich sah es mit eigenen Augen: Kurz vor dem Gipfel von Alexandria, auf dem Oberhäupter der drei Religionen zu einem Versöhnungstreffen zusammenkommen sollten, traf ich mich mit Präsident Mubarak. Bei dem Treffen kritisierte ich ihn wegen des in seinem Land grassierenden Antisemitismus, aber er begnügte sich mit einer Aussage, die seine Taktik offenbarte: „Sie verstehen nicht. Die Antisemiten sind meine größten Widersacher.“ Er wollte sagen, dass sie so ihrer Feindseligkeit und ihrem Hass Luft machen können. Sie haben zwei Optionen: Uns zu hassen oder ihn zu hassen, und er bevorzugte wohl die erste Option.

Überraschenderweise haben sich die israelischen Regierungen mit diesem schmutzigen Weg abgefunden. Die Absurdität erreichte ihren – schlechthin grotesken – Höhepunkt, als die Regierung Netanyahu die Kandidatur eines erklärten Antisemiten, der zum Verbrennen aller jüdischen Bücher aufrief, für den Posten des UNESCO-Generaldirektors unterstützte.

Als Ergebnis dieser Zusammenarbeit wurde eine trennende Barriere zwischen Juden und Israelis und dem ägyptischen Volk geschaffen. Nun öffnet sich eine wirkliche Tür und damit eine gute Gelegenheit, nicht nur mit dem Regime, sondern auch mit dem ägyptischen Volk und der ägyptischen Gesellschaft Frieden zu schließen.

Gewiss, es ist fast sicher, dass wir dafür den „Preis“ eines Friedensschlusses mit den Palästinensern werden zahlen müssen – aber ist die Zeit dafür nicht ohnehin reif? Wir haben die Verpflichtung, den Frieden mit der muslimischen Welt auf die vielen gemeinsamen Werte zu gründen, die zwischen uns und den Muslimen existieren, den Werten von Gerechtigkeit und Gleichheit. Nicht ein Frieden im Stil einiger Leute der Linken, die ihn auf der Basis von Hass und Separation von den Palästinensern fördern: „Wir sind hier, und sie sind dort.“ Eine solche Art von Frieden zementiert die Feindschaft und führt am Ende sogar noch den Unterstützern von Meir Kahane und Avigdor Lieberman Mandate und Beliebtheitswerte zu.

Auf dieser Ebene leistet der interreligiöse Frieden einen entscheidenden Beitrag. Nicht Wenige haben den jüngsten Aufstand in Ägypten mit Staunen betrachtet; es wurde deutlich, dass die Mehrheit des ägyptischen Volkes traditionell orientiert ist. Das bedeutet nicht, dass alle seine Söhne plötzlich zu Mitgliedern der Sekte von Ahmadinejad werden, aber es sagt gewiss einiges aus über die wichtige Rolle, die die Religion für ihre Identität spielt.

Eine der größten Herausforderungen für den interreligiösen Dialog besteht darin, wie man die Religion von einem Mittel der Rache, einem zerstörerischen und tödlichen Schwert in einen kraftvollen Hebel für den Frieden verwandeln kann. Die Religion ist nicht das Problem. Eher ist sie die Lösung. Die jüngsten Ereignisse haben bewiesen, dass tiefer religiöser Glaube sich mit einer bürgerlichen Verfassung und demokratischem Pluralismus vereinigen lässt.

Es ist Zeit, von der Leiter herunterzusteigen. All die Verrückten müssen von dem Dach des Hasses und des Totalitarismus auf den Boden der Wirklichkeit herunterkommen, einen Boden, der mit den gemeinsamen Werte aller, die an einen Gott glauben, bepflanzt ist: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, Tradition und Moral. Ein Nährboden, auf dem ein anderer Naher Osten erwachsen kann.

Rabbiner Melchior war Regierungsminister und ist Vorsitzender der Organisation „Mosaica“ für interreligiösen Dialog.

Ersterscheinen in Haaretz, 18.03.11, übersetzt für die Botschaft Israels. Kommentare, auch im Newsletter, geben nicht grundsätzlich den Standpunkt der israelischen Regierung wieder. Sie sollen vielmehr ein Meinungsbild abgeben.

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