Briefe aus Degania

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In diesen Tagen feiert die Kibbutz-Bewegung in Israel ihr 100-jähriges Bestehen. Ende Oktober 1910 gründeten zehn Männer und zwei Frauen die erste Kollektivsiedlung, Degania Alef, am Ufer des See Genezareth. Degania formte die Prinzipien der unabhängigen Arbeit und des kollektiven Lebens und wurde Vorbild für Hunderte weitere Kibbutzim, die bald darauf im Land gegründet wurden…

Zum Jubiläum wollen wir eine Reihe Briefe eines Zeitgenossens dokumentieren, die das Leben in Degania anschaulich beschreiben. Die Briefe wurden erstmals in der von Martin Buber herausgegeben Zeitschrift „Der Jude“, Heft 7, 1921/1922, veröffentlicht. Einleitend heißt es dazu: „Die nachstehenden Briefe an Verwandte und Freunde stammen von Dr. Oswald L., einem geborenen Karlsbader, der, als Konzipient in Wien tätig, den Entschluß faßte, als landwirtschaftlicher Arbeiter nach Palästina zu gehen, sich der sozialistischen Genossenschaft „Awodah“ anschloß, sich (…) praktisch ausbildete und im Sommer 1920 zu Schiff ging. Seine Frau Ella folgte ihm im Dezember. Er arbeitete in der ersten Zeit in Daganiah A, in der Kwuzah A. D. Gordons, von dessen wirkender Gegenwart man in den Briefen etwas verspüren wird.“

Daganiah, Jom Kippur (22. September 1920).

Es bleibt mir kein anderer Tag vorläufig, als solche Feste, um zu mir und zu Euch zu kommen. Die andern sind voll von Arbeit von Sonnenaufgang bis zu ihrem Untergang, und habe ich am Abend auch noch die Kraft und Lust zum Schreiben, so fehlt mir die Stille ringsum, denn die Lampen stehen dann im Speisezimmer und um sie herum sind die Kameraden geschart, sprechend, debattierend, singend oder lesend. Wenn ich dort eine Stunde oder etwas mehr hebräisch gelernt oder ein Kapitel in den Brüdern Karamasoff gelesen, zieht es mich hinaus ins Kühlere, Freie, unter die Sterne, und seit einigen Tagen unter den zunehmenden Mond. Auch mein Nachtlager habe ich unter freiem Himmel, auf der Terrasse, die zum See gerichtet ist, und selbst da schwanke ich immer zwischen Auge und Körper, wem ich sein Recht und seine Lust lassen soll, ehe ich das Leintuch über den Kopf ziehe (dies zum Schutze gegen Moskitos).

Ich weiß nicht, ob ich es je einem gesagt habe, welche Angst ich vor dem hochsommerlichen Bild Palästinas hatte, wie ich mir alles grau und öde vorgestellt habe, auch wo es noch Grün gibt. Aber ist es, weil ich in der Geborgenheit eines Parkes oder des Blaus vom Genezareth-See lebe, jedenfalls ist mein Auge immer wieder durch ein Neues beglückt, manchmal in einer Atempause, während sich mein Rücken etwas geraderecken will; und sind es nicht Farben, so sind es Linien und Formen. Doch glaube ich auch, daß in unserer Landschaft in Böhmen, wo nicht gerade Wälder ihren schönen Tod sterben, kaum soviel Farbennuancen mit einem Blick das Auge treffen, wie hier bei Tagesanbruch, in der Mittagsglut oder im Sterben des Tages. Soviel habe ich schon in die Landschaft ringsum geschaut, von der Bergkuppe angefangen, auf deren Höhe Safed zu sehen ist, hinüber zum Massiv des Hermon entlang den sanften Hängen um den See herum, dann , dort wo der Jarmuk in die Jordansenke eintritt, auf der andern Seite die Höhen über Milchamiah, Betaniah und Har Poriah — und doch ist mir das Bild noch nicht im ganzen eingegangen, weil das Auge immer wieder wo haften bleibt.

So wie hier, glaube ich, kann man sich überhaupt von Erez Israel kein einheitliches Bild machen, weder hinsichtlich der Landschaft noch des Klimas noch der Vegetation und was immer. Und doch ist die Landschaft vorläufig mein einziger Vertrauter. Der Weg zu den Menschen ist mir noch versperrt, da ich ihre Sprache nicht beherrsche. Wohl verstehen sie Deutsch, aber in mir ist eine unausrottbare Scheu, mit ihnen deutsch zu sprechen. So sind sie mir ein Stück Natur, das ich betrachte, zu dem ich hinhorche, nur daß ich hier ein anderes noch fühle, das nicht so friedlich schauen läßt, wie dort: die Scham vor ihnen, die Scheu, das geheime Fragen nach ihrem Urteil über mich als Arbeitenden. Noch konnte ich nichts erfahren, nichts was mir mehr Mut gäbe, unerbittliches Richtertum bleibt ihre einzige Leistung. Ich wußte es ja, daß meine Arbeit ein Ringen sein wird, ein Kampf mit vielem, aber ich dachte, daß ich eben aus diesem Wissen heraus geduldiger mit mir sein würde, mehr nachsichtig. Aber jeder Tag ist eine neue Frage: wie wirst du ihn, wie wirst du vor ihm bestehen? Dabei sind meine Körperkräfte stärker, größer als ich vermutet habe, nur an Elastizität fehlt es. Doch das Wohlgefühl, wenn man es annähernd den andern gleich gemacht hat, wenn sechs Arbeitsstunden vorbei sind, und man in der blauen Seeluft oder im Jordan mittags Schweiß und Schmutz ins Weite schickt, die Glieder für die Nachmittagsarbeit erfrischend, und abends unter der Dusche, ich weiß nicht, was einem das noch schenken kann, außer — erfüllte Liebespflicht. Wieviel Liter Wasser, sei es rein oder als Tee oder Kaffee, ich dabei täglich vertrinke, weiß ich nicht. Dabei bin ich schon nach der größten Hitze gekommen, die in der Zeit meiner Herfahrt hier in Daganiah bis zu 65 Grad gestiegen war.

Was im Lande sonst und in der Welt vorgeht, davon weiß ich schon nichts, seit ich Jaffa verlassen habe, trotzdem hier sehr viel Zeitung (aber hebräisch) gelesen wird. Manchmal muß ich mich mit Mühe entsinnen, welche Jahreszeit es denn bei Euch ist und wie es da aussieht. Vielleicht ist daran schuld, daß ich noch immer gar nichts, kein Lebenszeichen von irgend wem bekommen habe. Da wird die Weite zwischen uns noch weiter, die Augen fühlen es manchmal sinnlich, welchen Weg sie bis zu Euch wandern müssen. Nur heute ist mir alles näher, vertrauter, ist mir als könnte ich die Wege jedes Einzelnen zu jeder Stunde verfolgen, da es Jom Kippur ist. Und ich fühle auch, wie man an mich verstärkt denkt, denn es ist ein Tag vieler Erinnerungen von Jugend an. Sonst hab ich ja nicht viel Zeit zu Erinnerungen, ist die Seele ganz von Gegenwart in Anspruch genommen, als Grundpfeiler für die neue Zukunft. Wie lange meines Bleibens in Daganiah ist, weiß ich nicht, da sie ständige Mitglieder haben wollen und ich für die „Awodah“ verpflichtet bin, was sie wohl wissen.

Da hab ich gestern unterbrochen, ich machte mit einem Chawer einen Ausflug zur Genossenschaft nach Kinereth, ebenfalls am See gelegen. Man watet durch den Jordan, geht dann zwischen den frisch geackerten Feldern etwa eine Viertelstunde eine staubige Straße, bis man ein Gebäude inmitten von Zypressen und Oelbäumen wie ein Herrenhaus liegen sieht. Das ist das Wohnhaus der dortigen Genossen. Gegen den See zu in Terrassen abfallend, Anlagen von Pflanzungen, durchzogen von Röhren, in denen aus dem See wie bei uns aus dem Jordan Wasser heraufgepumpt wird. Auch sonst ist das Bild ein ähnliches wie in Daganiah, nur daß hier der Blick auch vom Hofraum aus weitere Umschau halten kann. Im Mondschein führte uns dann der Weg durch die schimmernden Wellen des Flusses. Ach, was für ein herrliches Ding ist es nun, dies Wasser. Vor einer halben Stunde hab ich wieder mein Mittagsbad genommen und noch jetzt spüre ich seine Frische an Leib und Seele. Hier versteht man erst, welchen Sinn es hatte, was ich vor einigen Tagen in der Bibel las, wie Isaak einen Brunnen nach dem andern, den Abraham gegraben hatte und der in die Hände anderer geraten war, wieder in Besitz nahm. Ein Brunnen war gleichsam die Seele eines Wohnsitzes, die Quelle seines Lebens.

Heute waren wir ohne Wasser aufs Feld gefahren, es blieb nichts anderes übrig, als daß ein Wagen zurückfuhr, zwei Krüge voll zu bringen. Unsre jetzige Arbeit ist Dünger fahren. Wer es nicht weiß, würde es für Asche oder Kohlenstaub halten, so weit ist der Verbrennungsprozeß gediehen, manchmal kommt man beim Einschaufeln in die Körbe auf noch geradezu glühende Stellen. Ihr könnt Euch denken, daß das keine angenehme Arbeit ist, wenn einem dies heiße Pulver in Augen, Nase und Ohren, unter die Kleidung dringt, und vor allem die Kehle austrocknet. Heute war es leichter, weil Windstille herrschte. So kann man zu Zeiten etwas hassen, was einem zu anderer, ja schon bei der nächsten Atempause unendliches Glück ist. Und es ist wirklich ein wunderbarer Ausgleich zur hiesigen Hitze, daß fast immer ein leises Lüftchen den Atem erfrischt. Nur in der Mittagszeit, zwischen 12 und 3 Uhr, in der wir auch rasten, brütet alles in unbeweglicher Stille, außer den Fliegen, die einen weder ruhig schlafen noch lesen noch schreiben lassen, wenn man sich an sie noch nicht akklimatisiert hat, wie die alten Chawerim oder die Kinder hier, die ihre Zudringlichkeit gar nicht mehr spüren.

Ich schreibe Euch aus meinem täglichen Leben und Ihr wollt vielleicht vom Großen, Ganzen hören. Aber dazu fühle ich mich noch immer nicht reif. Jetzt aber muß ich den Brief schnell schließen, es fährt jemand fort, damit er ihn zur Post nehmen kann.

–> Fortsetzung