Dr. Eyad El-Sarraj: Vergangenheit und Zukunft im Gazastreifen

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Dieses Interview mit Dr. Eyad El-Sarraj, dem Direktor des GCMHP (Psychiatrisches Gemeinschafts Programm für Gaza) wurde von Dr. Eli Erich Lasch geführt, dem ehemaligen israelischen Direktor des Gesundheitswesens im Gazastreifen. Übersetzt aus dem Englischen wurde es von Dr. Cora Hermann…

Dr. Lasch: Was geschah nachdem die Israelis abzogen sind? (1994)
Dr. El-Sarraj: Das erste war, dass jegliches Rechtssystem augenblicklich zerstört wurde. Plötzlich gab es eine völlig neue Umwelt – politisch, sozial …

Dr. L. Wenn Sie plötzlich sagen, was meinen Sie damit?
Dr. S. Als die palästinensische Herrschaft mit J. Arafat im Jahre 1994 eingeführt wurde, brachte er alle möglichen Leute aus Tunesien mit sich. Diese hatten nichts mit der politischen Kultur hier zu tun, sie wussten nicht viel darüber und nun wurden sie an die Spitze gestellt, waren die Anführer und sie waren chaotisch. Die Art wie sie bisher gelebt hatten war ein Leben des Chaos‘, der Geheimnistuerei, jenseits des Gesetzes. Im Libanon, zum Beispiel, funktionierte die Palästinensische Befreiungsorganisation, die PLO, abseits der Gesetze.

Dr. L. Ich weiß.
Dr. S. Diese Art Kultur kam nun auch nach Gaza, eine Kultur ohne jegliches Konzept oder Verständnis für Rechtstaatlichkeit. So ging diese hier sofort verloren. Und nicht nur das. Was auch passierte, war, dass die Leute sofort anfingen zu bestechen, was völlig neu war. Wir wussten, dass die Israelis nur schwer zu bestechen waren. Aber diese Leute kamen aus Tunesien – sie waren wie die ägyptischen Offiziere (die Gaza bis 1967 beherrschten – E.L). An sie erinnerte sich jeder.

Dr. L. Ich erinnere mich daran, wie erstaunt die Menschen waren, dass ich keine Bestechung akzeptierte.
Dr. S. Ja. Es war sehr selten, dass ein Israeli Bestechung annahm. Jetzt herrscht das Gefühl vor, dass man mit Geld wirklich alles, was man nur will, bekommen kann.

Dr. L. Wenn Leute heute ins Gesundheitsamt kommen und ….
Dr. S. Und nichts. Überall herrscht der Nepotismus. Wenn man einer starken oder wichtigen Familie angehört oder jemanden in der Verwaltung in der Nähe Arafats hat, dann kann man natürlich alles haben. Aber wenn man keine starke, wichtige oder reiche Familie hat, die bestechen kann, oder niemanden in der Nähe Arafats hat, dann hat man Pech. Dann ist man am Ende.

Dr. L. Als wir (die Israelis E.L) hier waren, haben wir für die Leute außerhalb des Camps Häuser gebaut. Leben diese Menschen weiterhin außerhalb des Camps oder wurden sie zurückgeholt?
Dr. S. Nein, nein. Sie sind immer noch da draußen. Die Lager haben sich schnell verändert. Wie Sie wissen, gab es eine Übergangsperiode zwischen der israelischen und palästinensischen Autorität und jeder in dem Lager begann das Land zu bereinigen und darauf zu bauen. Nun haben sich die Lager verändert und sind voller Häuser. Der Platz ist völlig überbevölkert. Sie wissen, dass in Gaza 1,5 Millionen Menschen leben. Alle Felder und Grünflächen in Gaza-Stadt sind überbaut. Gaza und Gabalia sind zusammengewachsen, wie eine, große Stadt. Es ist hässlich, weil die meisten der Gebäude nur zu 90% fertig sind. Es ist einfach hässlich.
Wie auch immer, der wichtigste Punkt war der Verlust der Rechtstaatlichkeit. Der zweite Punkt ist die Korruption. Und, natürlich, ist Gaza jetzt mehr von der Außenwelt abhängig, als je zuvor. Das liegt daran, dass es große Unkosten gegeben hat aber keine Entwicklung. Keine Entwicklungspläne. Nehmen wir zum Beispiel den heutigen Tag. Israel belagert Gaza und sagt, dass Gaza ein feindliches Gebiet ist. Das Resultat ist, dass die Anzahl der Sachen, die eingeführt werden dürfen, scharf heruntergefahren wurde, von 1000 auf 10. Nur noch die allernötigsten Gebrauchsartikel. Jetzt kann Gaza nichts machen, weil es unter Arafat keinerlei wirtschaftliche Entwicklungspläne gab. Hinzu kommt, dass Israel alles versucht hatte, Gaza von sich abhängig zu machen. Es gab keinerlei Bewegung in Richtung Entwicklung. Arafat bekam Unsummen an Geld und das meiste verschwand ohne irgendwelche Zeichen einer Entwicklung.

Dr. L. Verschwand es in seinen Taschen?
Dr. S. Ich weiß es nicht. Seine Taschen? Die Taschen derjenigen, um ihn herum, wer weiß? Aber wissen Sie, es gab so viele um ihn herum die Millionen machten, zu Millionären wurden. Millionen in Dollars. Dass sie so reich wurden, lag nicht daran, dass sie so gute Geschäftsmänner sind, es lag an der Korruption. Ich glaube nicht, dass Arafat das Geld für sich genommen hat, aber die Leute um ihn herum? Die meisten von ihnen sind sehr korrupt.
Und das Rechtssystem verschlechterte sich die ganze Zeit. Bis zu dem Grad, dass, als Abu Masen an die Macht kam, er keine Macht hatte. Die ganze Macht lag in den Händen der Milizen und den großen Sippen (Familien), die ihre eigenen Milizen hatten. Diese beiden kontrollierten nun das Land. Als dann Hamas kam, sagten die Menschen am Anfang: `Endlich haben wir eine Autorität’, denn in der Zeit vor Hamas, war jeder, der eine Waffe hatte, Herr in seinem Gebiet. Hamas begann die großen Familien zu bekämpfen, die großen Sippen. Und jetzt bekämpfen sie die Milizen. Sie bekämpften die Hayes-Familie, Sie kennen sie; die Bakr–Familie, die von Said Bakr, Sie erinnern sich sicherlich an ihn. Sie bekämpften diese Familie, töteten 10 Leute der Familie Bakrs. Und so weiter. Und jetzt bekämpfen sie den Islamischen Dschihad. Vor kurzem gab es einen Zusammenstoß mit dem Islamischen Dschihad. Richtig. Sie wollen die Macht und sie werden alles dafür tun. Vielleicht, so denken manche Leute, ist das der Weg um anzufangen mit den Israelis zu verhandeln. Um die Israelis zu überzeugen, dass sie die Leute sind, die alles kontrollieren und dass sie anfangen können, mit ihnen Geschäfte zu machen.

Dr. L. Das Problem ist der Fundamentalismus. Sie sind sehr fundamentalistisch.
Dr. S. Innerhalb der Hamas gibt es verschiedene Gruppierungen. Razi Hamad, zum Beispiel, ist ein absolut säkularer Mensch, liberal und modern denkend.

Dr. L. Aber die meisten Frauen tragen jetzt die schwarze Jalabib. (Verhüllender Umhang, ähnlich dem iranischen Tchador. E.L.)
Dr. S. Das gab es auch schon vor der Hamas.

Dr. L. Ich erinnere mich, dass zu meiner Zeit die jungen Frauen, vor allem diejenigen, die nicht in den Lagern lebten, sich wie europäische Frauen kleideten.
Dr. S. Bis heute ist meine ganze Familie wie eine europäische Familie gekleidet. Die Frauen der ärmeren Familien haben sich immer bedeckt. Aber es gibt tatsächlich eine neue Sorte von Hamasfrauen, die sich von Kopf bis zu den Zehen verhüllen.

Dr. L. Warum?
Dr. S. Ich denke die Religion hat manchmal etwas mit dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu tun. Wenn die Menschen keine Hoffnung haben, dann liefern sie sich Gott aus. Und Gott lehrt sie, zu beten, dieses zu tun, jenes zu tun. Sie wollen nur noch eine Beziehung zu Gott haben. Sie glauben, was ihnen in den Moscheen beigebracht wird: Dass ihr Benehmen, ihr Aussehen, und wie sie sich benehmen sehr wichtig für eine Beziehung mit Gott ist. So müssen sie dieses oder jenes tun. Sie sind einfältig.

Dr. L. Sind die ganzen schönen Restaurants am Strand verschwunden?
Dr. S. Nein, nein. Sie funktionieren alle.

Dr. L. Kein Bier, kein Wein…
Dr. S. Kein Bier, kein Wein. Wenn Sie es haben wollen, müssen Sie es zu Hause haben. Und derzeit ist es sehr schwierig irgendetwas in Gaza zu bekommen, wegen der Belagerung. Vor allem Zigaretten. Gaza ist heutzutage der närrischste Ort auf der Welt. Und der teuerste Platz um Sachen, wie Zigaretten zu kaufen. Eine Packung Zigaretten kostet 10 $. Eine Flasche Mineralwasser ist nicht erlaubt.

Dr. L. Warum?
Dr. S. Von den Israelis, wegen der Blockade … Seife ist nicht erlaubt.

Dr. L. Seife??
Dr. S. Seife, um sich zu waschen, ist nicht erlaubt. Kaffee ist nicht erlaubt.

Dr. L. Wegen der Blockade?
Dr. S. Wegen der Blockade. Diese Tat ist natürlich mal wieder sehr dumm. Um über die Palästinenser und die Israelis zu sprechen: Die Palästinenser und Israelis sind natürliche Partner. Das haben Sie in Ihrem Buch (Das Wunder von Gaza. E.L) geschrieben und ich bin mit Ihnen 100% einer Meinung. Aber wir sind in einem Teufelskreis gefangen, wo eins zum anderen führt. Die Israelis mit ihrer kollektiven Bestrafung. Alle Menschen, mich eingeschlossen, die den Frieden lieben, werden nach und nach sehr wütend.

Dr. L. Warum?
Dr. S. Das fragen Sie? Und dann haben wir die neue Generation, die schlimmer ist als die jetzige. Wie Sie wissen, entwickelt sich hier eine Generation nach der anderen, die immer gewalttätiger, radikaler, extremistischer, dümmer, ungebildeter wird, die keine Erziehung hat und keine Identität. Sie haben keine Arbeit, sind ohne Hoffnung und verzweifelt. Und zugleich bekamen wir jede Menge Moscheen, mit vielen dummen Imamen, die in den Moscheen auch gegen die Christen predigen. Nicht nur gegen Israel oder die Juden, auch gegen die Christen. Sie kennen doch meine Sekretärin, Ranna, eine sehr anständige Frau. Sie ist eine Christin und lebt in der Nähe eines Platzes, wo eine Moschee gebaut wurde. Und jeden Freitag sagt der Imam über die Lautsprecher: `Jetzt müssen wir gegen die Christen kämpfen….´ Jetzt verlässt sie jeden Freitag ihr Haus.

Dr. L. Aber wie wird das enden? Wohin führt es? Was wird passieren?
Dr. S. Ich fürchte, wir haben auf der palästinensischen Seite ein schwerwiegendes Problem, ein sehr schwerwiegendes Problem mit der Führung.

Dr. L. Abu Masen?
Dr. S. Nein, nein. Abu Masen ist ein Zeichen dieses Problems. Vor ihm war es die Hamas und davor Jassir Arafat. Arafat ist der Grund für das Problem der Palästinenser, weil er 40 Jahre da war und nicht wirklich geführt hat. Verstehen Sie, ich meine Führung in dem Sinn, dass man eine Gesellschaft zum Besseren verändern kann. Er war der Anführer, aber er, das System J. Arafat, hat wirklich die palästinensische Gesellschaft zerstört.

Dr. L. Lassen Sie mich eine Frage stellen.
Dr. S. Aber wir haben auch ein schwerwiegendes Problem mit Israel, mit Amerika …

Dr. L. Wenn Sie in Sderot (Eine israelische Kleinstadt neben Gaza, E.L.) leben und bombardiert würden, würden Sie das Resultat des Rückzugs aus Gaza anders sehen. Statt der Hoffnung, dass der Rückzug einen Friedensprozess in Gang setzt, wurde alles noch schlimmer.
Dr. S. Sicher.

Dr. L. Ich möchte Sie etwas fragen. Ich möchte Ihre Meinung hören. Ich habe das Gefühl, das der größte Fehler Rabins, war, Arafat ins Spiel zu bringen.
Dr. S. Ja.

Dr. L. Israel vertrieb Arafat aus Beirut und nach der ersten Intifada, die nicht von ihm ausgelöst worden war – es waren Ihre Leute, die sie initiierten – brachte Rabin ihn zurück.
Dr. S. Das ist richtig.

Dr. L Ich muss Ihnen etwas gestehen. Während der ersten Intifada war ich sehr stolz. Ich war glücklich und stolz.
Dr. S. Ja.

Dr. L. Ich erinnere mich, dass während der Intifada Menschen aus Gaza, insbesondere Ärzte, unsere Freunde, zu mir nach Hause kamen und wir darüber sprachen, was passierte. Und dann brachte Rabin Arafat zurück ins Spiel. Für mich bekam Arafat das Gefühl: Nur mit Gewalt kann ich etwas erreichen. Stimmen Sie mir zu?
Dr. S. Ich gebe Ihnen vollständig Recht. Es war der größte Fehler, den Rabin beging. Aber die Palästinenser selbst akzeptierten Arafat als Anführer, wissend, dass er ein solch korrupter und zerstörerischer Mensch war. Sie kannten ihn gut, besonders George Habash und Abbas. Die waren letzendlich verantwortlich für das, was geschah – denn sie erlaubten ihm das Geld zu kontrollieren und aufzuhäufen – all das wissend, dass er zur selben Zeit die palästinensische Gesellschaft zerstörte. Und ich war einer der Leute, das wissen Sie, der es von Anfang an wusste – und natürlich bekam ich mehr öffentliche Aufmerksamkeit nach seiner Ankunft. Wie Sie wissen, sprach ich am Tag seiner Ankunft in Gaza im Marna Haus (einem Hotel für internationale Besucher in Gaza) welches gegenüber dem Shifa Hospital liegt. Ich gab der BBC ein langes Interview. Er, Arafat, kam von Rafah und ich sagte zu ihnen: „Dieser Mann wird den Frieden zerstören, dieser Mann wird die palästinensische Gesellschaft zerstören. Und ich bin sehr traurig darüber, dass es passieren wird. Einerseits bin ich sehr glücklich, dass einige Palästinenser zurück nach Hause kommen, aber ich weiß, dass dieser Mann nicht den Frieden bringen oder ihn wirklich und ehrlich fördern wird.
(Anm. E.L.: Während Arafats Regierung war Dr. El-Sarraj drei Mal im Gefängnis)

Dr. L. Ihre Leute warnten mich. Bringt nicht die Tunesier! Einer davon waren Sie selbst. Ich habe darauf persönlich Rabin gewarnt, aber er hat mich ausgelacht.
Dr. S. Ja, das ist es, was ich in Tunesien gesagt habe. 1991 reiste ich dorthin. Ich wurde gerufen um Arafat zu sehen und er bat mich an den Washingtonern Friedensgesprächen teilzunehmen. Das tat ich. Ich fuhr mit Khader Abu Shafi, ich war einer in dem Team. In dieser Zeit traf ich so viele Leute, die meine Klassenkameraden gewesen waren oder Freunde über eine lange Zeit, und einer nach dem anderen sagte mir: Wenn du es schaffst, das Problem mit Israel allein zu lösen, dann umso besser. Denn wenn du Arafat und uns nach Palästina bringst, wird er alles zerstören. Das sagten sie zu mir. Einer davon ist heute der Kopf des Revolutionären Rates der Fatah. Es war eine bekannte Tatsache. Aber ich glaube, Rabin hatte keine Wahl in dieser Zeit – erstens wegen der Amerikaner und zweitens weil es keine anderen palästinensischen Anführer gab.

Dr. L. Das Problem bei Rabin war, dass er ein hervorragender Stratege, aber kein Menschenkenner war.
Dr. S. Das weiß ich nicht.

Dr. L. Meiner Meinung nach hätte er Leute von Ihnen nehmen sollen, von innen.
Dr. S. Arafat hätte sie getötet, das ist das Problem. Arafat kontrollierte die Massen der Palästinenser mit Rhetorik und Schlagworten. Und er kontrollierte die Eliten durch Korruption. Oder durch Gewehre. Ich erinnere mich an Rashad Shawa, den Bürgermeister von Gaza. Als er zu jener Zeit versuchte etwas mit Sa´dat zu machen, wurde er fast ermordet. Sie wissen, sie töteten den Imam von Gaza, Hashem el-Khuzandar. Er hatte eine ähnliche Initiative wie Sa´dat. So wurden die Leute eingeschüchtert. Wie konnte man sich gegen Arafat und gegen die Fatah stellen, wenn sie alle Waffen, die es dort gab, kontrollierten? Und gleichzeitig korrumpierten sie die Leute die ganze Zeit. Schickten Geld an Leute in Gaza und in der West Bank, um sie zu kaufen. Das war ihr Weg und alle waren still. Entweder aus Angst oder wegen des Geldes.

Dr. L. Und was wird passieren? Wie soll es enden?
Dr. S. Schauen Sie, Hamas ist ein Problem, aber das Schlimmste ist nicht Hamas. Ich glaube, dass die Hamas die Basis hat, um zu verhandeln und das Problem mit Israel zu lösen. Vor allem sind sie sehr mächtig, nicht nur in Gaza, auch in der West Bank. In der West Bank sind sie populärer als die Fatah.

Dr. L. Aber werden sie Gesprächen zustimmen?
Dr. S. (lachend) Sie werden zustimmen. Sie haben einen sehr guten Vorschlag. Der Vorschlag ist eine unbestimmte Waffenruhe zwischen uns und den Israelis. Nach ein, zwei oder drei Jahren können wir Botschafter austauschen. Aber jetzt, Waffenruhe, keine weitere Gewalt. Für Israel ist das eine gute Sache jetzt eine Waffenruhe zu haben, verbunden mit einem Partner, der die Sicherheit kontrolliert. Wie Sie wissen, kontrollieren sie die Raketen von Gaza. Raketen die früher abgeschossen wurden, werden jetzt von der Hamas gestoppt. Und jetzt kontrolliert die Hamas auch die anderen. Ja, letzte Nacht töteten sie sogar Leute vom Islamischen Dschihad, weil sie keinen Raketenbeschuss mehr wollten. Hamas will Geschäfte. Ich hoffe, dass Leute, wie Razi Hamad, Ismail Haniye überzeugen können; sie sind bereit, sie sind bereit.

Dr. L. Sie sind bereit zu akzeptieren, dass es einen Staat Israel gibt?
Dr. S. Ja, sie sind soweit, die Existenz Israels anzuerkennen und einen langen Waffenstillstand mit Israel für die nächsten 100 Jahre zu haben. Das Problem ist, dass die Israelis, die übrigen Palästinenser und die Amerikaner Druck, Druck und nochmals Druck ausüben. Und, was passiert, wenn man Druck ausübt? Extremisten werden geboren. Wenn man Leute hungern lässt, wenn man ihnen die Hoffnung nimmt, sie leiden lässt, wer kontrolliert dann die Menschen? Die Extremisten. Heute ist die Hamas gespalten. Eine Hauptgruppe besteht aus Ismail Haniye, Razi Hamad und anderen, welche der moderaten Seite angehören. Und auf der anderen Seite gibt es die Extremisten. Ich bin ein Arzt und ein Mensch. Ich bin kein Nationalist und ich bin kein religiöser Mensch. Ich glaube, dass Nationalismus und Religion Kräfte des Bösen sein können. Das kommt darauf an, wer sie kontrolliert. Beides, Nationalismus und Religion werden für Macht missbraucht.

Dr. L. Sagen Sie mir, ist Gaza vom Iran beeinflusst?
Dr. S. Um ehrlich zu sein: Ich sehe es nicht.

Dr. L. Sehen Sie irgendein Problem mit dem Iran?
Dr. S. Ich sehe überhaupt keines. Natürlich müssen die Anführer der Hamas und des Islamischen Dschihad, die in Syrien sitzen, Kontakt haben.

Dr. L. Aber die sind weit weg.
Dr. S. Aber in Gaza sehe ich nichts. Ich sehe keinerlei Einfluss vom Iran. In unserer lokalen Politik wird der Iran nicht einmal erwähnt. Sie sprechen über den Iran und dessen Einfluss auf die amerikanische Presse. Aber nicht in Gaza. Es gehört überhaupt nicht zu unserem Konzept.

Dr. L. Das Problem sind aber die Raketen und die Demonstrationen (zwischen den zwei Gruppen).
Dr. S. Lassen Sie mich Ihnen etwas erzählen (er lacht ironisch) Derzeit hassen die Palästinenser sich gegenseitig mehr, als sie die Israelis hassen. Die Brutalität der Palästinenser zwischen Fatah und Hamas ist unglaublich. Wissen Sie, sie töten einander die ganze Zeit. Stellen Sie sich vor, und das ist tatsächlich passiert: jemand ist im Krankenhaus – ich habe darüber geschrieben und es veröffentlicht – ein, im Kampf verwundeter, Palästinenser liegt im Krankenhaus. Sie töten ihn. Die Israelis rettenden diese Menschen. Wenn sie einen Zusammenstoß mit der Guerilla hatten und irgendjemand wurde verwundet, dann schickten sie einen Hubschrauber, um ihn zu retten und ins Krankenhaus zu bringen.

Dr. L. Und in ein israelisches Krankenhaus.
Dr. S. Die Palästinenser dagegen töten ihn. Die Tiefe des Hasses zwischen Hamas und Fatah ist derzeit unglaublich. Ich denke, dass die Hamas alleine nicht funktionieren kann. Die Hamas sollte mit Abu Masen zusammenarbeiten. Ich hoffe nur, dass Abu Masen dazu bereit ist. Aber eigentlich ist Abu Masen zu schwach um ihr Angebot zu akzeptieren. Die Hamas kann die West Bank und Jerusalem in zwei Tagen übernehmen. Ich spreche über die West Bank, und nicht über Gaza. Aber sie wollen es jetzt nicht tun, sie fürchten sich vor der israelischen Reaktion. Also wenn die Israelis einige wirklich strategisch denkende Leute hätten, könnten sie noch heute ein Abkommen mit der Hamas und mit der Fatah treffen. Das wird passieren, so lange es keine Gewalt gibt, keine Raketen. Die Hamas ist bereit zu einer Zusammenarbeit für die nächsten 10 Jahre.

Dr. L. Ich sage Ihnen, was ich in meinem Buch geschrieben habe: Was die Palästinenser, meiner Meinung nach, tun müssten, ist die Israelis als Verbündete und Helfer akzeptieren. Als Entwicklungshelfer.
Dr. S. Ja, ganz genau. Und Sie könnten das am Besten. Sie wissen, dass Ihre Arbeit in Gaza sofort freudig begrüßt würde, wir brauchen Experten auf allen Gebieten. Wie Sie wissen, habe ich das Psychiatrische Gemeinschafts Programm für Gaza gegründet. Wir haben inzwischen 16 Außenstellen quer über Gaza verteilt. Und wer hat uns alles gelehrt? Die Israelis aus Tel Aviv, von dem Hadassah Krankenhaus. Sie kamen tagtäglich und Woche für Woche nach Gaza, um uns zu lehren. Sie und Menschen aus anderen Teilen der Welt. Und ich muss gestehen, die meisten Menschen, die uns in Gaza geholfen haben, waren Juden. Wenn es keine Israelis waren, waren es Juden. Aus England, aus Amerika uns aus Frankreich. Das ist die Rolle, die Ihr spielen könntet. Es ist eine produktive Rolle, etwas für die Zukunft. Wie Sie bestimmt aus der Vergangenheit wissen, beneide ich Euch irgendwo. Schauen Sie, in Israel ist heutzutage Euer durchschnittliche Pro Kopf Einkommen über $ 20.000 im Jahr. In Gaza ist es $ 600 im Jahr. Man kann nicht in einem Palast leben, der neben einer Bruchbude steht. Man kann nicht in einem Palast leben, der sich in der Nachbarschaft eines überbevölkerten Slums, voll mit 1,5 Mill. verzweifelter Menschen befindet. Wir haben nicht einmal genug Wasser.

Dr. L. Genau das habe ich schon in der Vergangenheit gesagt. Das ist der Grund, weshalb ich nach Gaza kam.
Dr. S. Genau.

Dr. L. Ich sagte, man kann keinen medizinischen Dienst des 21. Jahrhunderts haben und wenige Kilometer weiter eine Medizin des 19. Jahrhunderts – und beide unter ein und derselben Regierung. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb ging ich nach Gaza.
Dr. S. Richtig. Ich erinnere mich, wie Sie mich vor dem Gouverneur, Sheike Eres, verteidigt haben, als ich aufstand und zu ihm sprach. Im Jahre 1987, als er Gaza verließ, gab es eine große Party im Shifa Krankenhaus. Und ich stand auf und sagte zu ihm: `Wir sitzen hier auf einem großen Vulkan und der kann jeden Moment ausbrechen´. Und nach ein paar Monaten kam es zur Intifada. Er wollte der Botschafter Israels in Gaza sein, in einem freien Land, nicht in einem besetzten. Ich sagte ihm vor allen Leuten: `Sie müssen ihre Hand zum Frieden ausstrecken um über Frieden zu sprechen.´ Und als ich ihn dann in seinem Büro traf, Sie waren damals schon nicht mehr dort, bat ich ihn zwei Leute in seinem Büro zu treffen und sagte zu ihm: `Eli Lasch war damals eines eurer besten Beispiele. Sie sollten das tun, was er tat. Er hat einen sehr menschlichen und professionellen Job gemacht. Genau das brauchen wir. Wir brauchen keine Leute wie Menasche Nab´a´ („ Ein Verwaltungsoffizier des Gesundheitswesens der die Araber hasste“).(E.L.)
Ich sagte zu ihm: `Übrigens (er lacht wieder), den Mann brauchen wir nicht. Wir brauchen Leute die professionell sind und für die der menschliche Teil auch wichtig ist. Und der an eine friedliche Zukunft denkt´. Wissen Sie, was M. Nab´a mir einmal sagte? Er meinte: „Machen Sie sich keine Sorgen um Israel. Israel wird in 70 Jahren zerstört sein. Also keine Bange.“ Ich antwortete ihm: „Es ist furchtbar so etwas zu sagen. Aber ich denke, es gibt bessere Beispiele von Menschen, die wir brauchen.“
Und heute brauchen wir sie mehr denn je. Aber wir brauchen vor allem eine Art Stabilität, etwas weiter reichendes, verstehen Sie?´

Dr. L.: Eyad, ich will Ihnen etwas gestehen. Dazu kann ich nur sagen: Inshallah (So Gott will. C.H.)
Dr. S.: Inshallah

Dr. L. Ich denke, die Dinge entwickeln sich. Und Sie brauchen mich als Vermittler. Ich werde, ungeachtet meines Alters (78) kommen. Ich lebe in Deutschland, doch ich werde kommen und ich werde bereit sein zu helfen.
Dr. S. Vielen, vielen Dank.

Dr. L. Für mich besteht die Zukunft aus Kooperation.
Dr. S. Ein anderer Fall. Die Zukunft des Kinderkrankenhauses.

Dr. L. Meinem Baby. (Ich hatte damals das Kinderkrankenhaus gebaut und geleitet. E.L)
Dr. S. Ihrem Baby. Und wie Sie wissen, gehört das Land einer Familie in Gaza, und sie sagten der Regierung, dass sie das Land zurück haben will. Das Kinderkrankenhaus wird zerstört werden. Der Gesundheitsminister der Hamas kam vor einer Woche zu mir und sagte: `Wir haben ein Problem. Das Krankenhaus muss umziehen, denn wir müssen das Land zurückgeben. Was können Sie tun?´ Also sagte ich zu ihm: `Ihr müsst ein neues bauen.´ Und er fragte: `Können Sie uns helfen?´ Und ich antwortete: `Ja, ich kann.´ Also schrieb ich an einige Menschen und bis jetzt habe ich $2 Millionen gesammelt. Sie werden das Land beschaffen und der Rest wird kommen. Ich sagte zu ihm: `Finde Land und wir werden das Krankenhaus bauen.´ Während der ganzen Zeit dachte ich an Sie und ich erzählte ihnen von Ihnen. Also, wenn Sie sagen: Ich bin bereit zu helfen, dann hoffe ich, dass Sie in der Lage sind das Krankenhaus wieder so aufzubauen, wie es einmal war.

Dr. L. Ich habe es einmal getan, (lachend) ich werde es wieder tun.
Dr. S. Auch wenn das heißt, in die Politik zu gehen?

Dr. L. Wo immer ich etwas tun kann.
Dr. S. Deutschland hat eine sehr wichtige Aufgabe. Jeden Tag kommen Besucher aus Deutschland.

Dr. L. Hinsichtlich der Dinge, die wir hier gerade besprechen. Ich habe Beziehungen zu einigen Websites und ich werde eine zusammengefasste Version über das, was wir besprochen haben, machen und sie auf einige Websites stellen.
Dr. S. Sehr gut.

Dr. L. Ich habe eine Frage. Ich habe etwas über euch, über die Palästinenser gelesen. In einem dieser Berichte habe ich gelesen, dass der größte Teil der Leute, die sich heute Palästinenser nennen und heute die palästinensische Nation bilden, ursprünglich aus allen Gebieten des Osmanischen Reiches kamen.
Dr. S. Oh ja. Das ist die Wahrheit.

Dr. L. Also sind sie nicht, wie Arafat sagte, die Nachkommen der Kana’aniter.
Dr. S. Blödsinn.

Dr. L. Aber das hat Arafat gesagt.
Dr. S. Der konnte viel erzählen. Er behauptete, dass er aus Jerusalem kommt, dass er in Jerusalem geboren sei. Ist er aber nicht.

Dr. L. Weiß ich.
Dr. S. Ich kann nicht sagen, dass ich ein Kana’aniter bin. Wissen Sie, meine Familie kommt aus Syrien– aus Hama. Aber ich weiß nicht, vor wie viel hundert Jahren. Andere kommen ursprünglich aus Ägypten, einige aus Tunesien, aus Marokko. Wieder andere kommen aus Jugoslawien. Und viele aus Saudi-Arabien, aus der arabischen Wüste.

Dr. L. Also sind wir zwei Nationen, zwei Nachfahren von Immigranten, die das gleiche Stück Land haben wollen. Zwei Völker die niemand anderer haben will.
Dr. S. Genau so, genau so. Ich gebe Ihnen jetzt ein Beispiel. Da gibt es einhundert Familien, Palästinenser, die aus dem Irak geflohen sind, wegen des Krieges dort. Sie gingen nach Jordanien, doch Jordanien ließ sie nicht herein; sie gingen nach Syrien, doch auch Syrien ließ sie nicht herein. Also bauten sie ein Lager, ein Flüchtlingslager, direkt an der Grenze. Wissen Sie, was passierte? Kein einziges arabisches Land, und natürlich auch nicht Israel, war bereit sie aufzunehmen. Jetzt sind sie nach Brasilien gegangen. Brasilien hat sie aufgenommen.

Dr. L. Kann es irgendwann hier Frieden geben? Ist Frieden im Nahen Osten möglich?
Aus meiner persönlichen Erfahrung wäre die deutliche Antwort „JA“. Mein neues Buch handelt hauptsächlich von der Aussöhnung. Ich habe festgestellt, dass es möglich ist. Wir müssen lernen umzudenken. Und der einzige Weg, der Weg, ist eine Zusammenarbeit für ein Ziel, das höher ist als die kleinen persönlichen Interessen
Dr. S. Genau so. Das ist es, was Khaider Abu Shafi, Sie erinnern sich an ihn, ( Er starb vor kurzem. E.L) immer wieder sagte: Wenn wir an die Nation denken, dürfen wir nicht an uns kleine Individuen denken. Wissen Sie, er hatte eine große Liebesgeschichte mit einer Israelin namens Na´ama.

Dr. L. Es ist erstaunlich, wie ähnlich wir uns sind.
Dr. S. Absolut. Es war eine große, große Sache in der israelischen Zeitung Ye´dioth Achronoth, zwei Seiten, sein Bild, ihr Bild. Sie kam um in meinem Zentrum zu lehren, sie ist Psychologin. Ich habe seine Erinnerungen aufgezeichnet bevor er starb. Ich habe seine Geschichte aufgezeichnet. Eine der faszinierenden Geschichten, die er mir erzählte, eine sehr bewegende, berührende war die folgende. Als er sehr jung war lebte er in Hebron Seine Familie war von Gaza nach Hebron gezogen. Er war 10 Jahre alt. Als die Pogrome 1929 begannen, lebten sie neben einem jüdischen Rabbiner. Sie waren sehr vertraut miteinander, wie eine Familie. Sie spielten zusammen, aßen zusammen usw. Sein Vater war ein Sheikh, wissen Sie, ein religiöser Mann, ein Richter am Gericht. Sobald die Übergriffe begannen, sagte sein Vater zu dem Rabbiner. `Ich möchte, dass Ihr in mein Haus kommt, damit ich euch vor den Hooligans auf der Straße schützen kann. Auf diese Weise, wird euch nichts passieren.´ Der Rabbi antwortete.` Nein, nein, diese sind meine Leute. Sie werden mir nichts tun.´ Er lehnte es ab, bei Khaider Abu Shaifis Vater zu bleiben. Also wurde er getötet. Khaider Abu Shaifi erzählte mir die Geschichte und setzte hinzu.` Das war der traurigste Tag in meinem Leben.´ Er meinte.` Man kann keinen Staat gründen, der auf einer solchen Gewalt basiert. Man kann nicht einen Staat haben, in dem man sich im Frieden mit sich selbst fühlt, wenn man andererseits so feindlich und gewalttätig zu anderen ist.´ Wie Sie wissen, haben alle Kinder Dr. Khaider Abu Shaifi deutsche Frauen geheiratet. Sie haben keine Probleme.

Dr. L. Vielen Dank und ma´salama.

Dr. Eyad Sarraj wurde im April 1944 in Bir as Sabi im Negev (hebr. Beer Sheva) geboren und wurde 1948 mit seiner Familie in den Gazastreifen vertrieben. Er hat in Alexandria, Ägypten, ein Medizinstudium und in London ein Psychologiestudium abgeschlossen. Er lebt heute in Gaza-Stadt.
Er ist ein Menschenrechts- und Friedensaktivist und Gründer und Direktor des Gaza Community Menthal Health Programm. Er ist Generalsekretär der Palästinensischen unabhängigen Kommission für Bürgerrechte und Mitglied in vielen lokalen und internationalen Gesundheits- und Menschenrechtsorganisationen.
Sein Engagement für die Menschenrechte hat ihm schon einige Probleme/Härten von Seiten der israelischen und palästinensischen Behörden eingebracht. 1996 wurde er verhaftet und gefoltert, weil er die Folter und Verletzungen der Menschenrechte durch die palästinensische Behörden verurteilt hat. Nachdem sich international viele für ihn eingesetzt hatten, wurde er nach kurzer Zeit aus der Haft entlassen.
Er ist Preisträger des „Ärzte für Menschenrechte-Preises“(1997) und des Martin-Ennals-Preises für Menschenrechtsverteidiger (1998). Dr.Eyad Sarraj schreibt umfassend über Probleme des Friedens, der zivilen Gesellschaft , über Menschenrechte und psycho-politische Themen. Er war Berater der palästinensischen Delegation beim Camp-David-Gipfel-Treffen, 2000. Bei den palästinensischen Wahlen 2006 stand er an der Spitze der Kandidaten der Wa’ad-Liste (Nationale Koalition für Gerechtigkeit und Demokratie). Er leitet auch eine Gruppe von palästinensischen und israelischen Akademikern, die an einem Friedensabkommen arbeiten. (Aus tlaxcala.es)

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