Die Freilassung der Geiseln und ein womögliches Ende des Krieges im Gazastreifen sorgen in Israel erst einmal für Erleichterung. Doch zur lang ersehnten Ruhe wird das Land schwerlich kommen. Dafür gibt es zu viele neue Herausforderungen.
Von Ralf Balke
Plötzlich ging alles ganz schnell. US-Präsident Donald Trump präsentierte seinen 20-Punkte-Plan zur Beendigung des Krieges im Gazastreifen und die seit über zwei Jahren von der Hamas festgehaltenen israelischen Geiseln kommen frei – im Gegenzug werden etwa 2.000 Palästinenser, rund 250 davon zu langen Haftstrafen verurteilte Mörder und Terroristen, aus israelischen Gefängnissen entlassen und Israels Armee zieht sich aus Teilen der von ihnen besetzten Gebieten zurück. Sowohl Israel als auch die Hamas können sich mit dem neuen Abkommen irgendwie als Sieger fühlen, weil beide Seiten für sich vorteilhafte Ergebnisse erzielen konnten, ohne jedoch ihre eigentlichen Ziele erreicht zu haben. Weder gelang es Israel, die Hamas vollständig zu vernichten, noch konnte die Terrororganisation verhindern, dass womöglich andere im Gazastreifen bald das Sagen haben werden und sie vielleicht nur noch eine Nebenrolle spielen. Und sollte sie im Gazastreifen wirklich ausgeschaltet werden, heißt es nicht, dass die Hamas stattdessen nicht stärker als bisher im Westjordanland in Erscheinung treten wird.
Außerdem ist etwas Realität geworden, was Israel über Jahrzehnte hinweg immer vermeiden wollte, und zwar die Internationalisierung des Konflikts – oder in diesem Fall eher seiner Lösung. Denn neben den Vereinigten Staaten, Jerusalems wichtigsten Partner, werden im Rahmen einer wie auch immer aussehenden Nachkriegsordnung einige weitere Player eine stärkere Rolle spielen, und das wohl nicht nur als Vermittler: Ägypten, Indonesien sowie Katar und sogar die Türkei. Die beiden letztgenannten dürften schwerlich als ehrliche Makler zu bezeichnen sein, sondern gelten traditionell als Förderer und Schutzmacht der Muslimbruderschaft, aus der wiederum eine radikal-islamistische Terrororganisation wie die Hamas hervorgegangen ist. „So Gott will, werden wir als Türkei an der Task Force teilnehmen, die die Umsetzung des Abkommens vor Ort überwachen wird“, erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan vergangenen Donnerstag und fügte hinzu, dass man auch zum Wiederaufbau des Gazastreifens beitragen werde. Für Israel könnte damit eine unangenehme Vorstellung Wirklichkeit werden: die direkte Präsenz türkischer Sicherheitskräfte im Gazastreifen. Und für Ankara wäre nach der Ablösung des Assad-Regimes in Syrien durch den von der Türkei protegierten Präsidenten Ahmed al Scharaa das Flagge-Zeigen im Gazastreifen ein weiterer Schritt zur Umsetzung einer neo-osmanischen Expansionspolitik in der Region.
Grund für die stärkere Einbindung der Türkei – aber ebenfalls Katars – in den Aufbau einer Nachkriegsordnung im Gazastreifen dürfte nicht nur das gute persönliche Verhältnis zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und Donald Trump sein. Auch die Entscheidung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vor rund einem Monat, entgegen allen Warnungen des Mossad und hochrangiger Militärs, die noch lebenden Hamas-Funktionäre in Katar ins Visier zu nehmen, war im Rückblick ein Schuss ins eigene Knie, glaubt nicht nur Avi Issacharoff. „Die bedeutendste Veränderung in der Haltung der USA – Trumps Entscheidung, Netanyahu zur Beendigung des Krieges zu zwingen – scheint durch den israelischen Angriff auf hochrangige Hamas-Führer in Katar ausgelöst worden zu sein“, so der Sicherheitsexperte und Journalist in „Yedioth Ahronoth“. „Während sich die Führung der Organisation in Doha versammelt hatte, um über den jüngsten Vorschlag der USA zu beraten, versuchte Israel, dort die hochrangigen Hamas-Funktionäre zu eliminieren. Dies scheint bei einigen Mitgliedern des amerikanischen Teams die Alarmglocken aktiviert zu haben, die Katar aus einer Reihe von Gründen, darunter auch wirtschaftlichen, eher als Verbündeten denn als bloßen Förderer der Muslimbruderschaft, von al Jazeera und der Hamas betrachten. Daraufhin folgte massiver Druck aus Washington und ein Friedensplan, dessen vollständige Umsetzung von vornherein unwahrscheinlich war.“
Dabei hätte der Krieg im Gazastreifen bereits im Januar beendet werden können, als sich Israel und die Hamas auf einen Zwei-Phasen-Deal verständigt hatten, nach der Freilassung von 33 Geiseln aber wieder platzte. „Einige Analysten in Israel sagen, dass ein solches Abkommen schon vor einem Jahr hätte erzielt werden können; dies lässt sich jedoch schwer beweisen, da sich im Laufe des vergangenen Monate so viele Aspekte verändert haben“, schreibt Amir Tibon in „Haaretz“. „Aber die 65 israelischen Soldaten, die seit März getötet wurden, die Tausenden palästinensischen Zivilisten, die in diesem Zeitraum ums Leben kamen, das anhaltende Leiden der Geiseln und der immense Schaden für Israels internationales Ansehen hätten allesamt vermieden werden können.“ Die Schuld für die Verlängerung des Krieges sieht Amir Tibon sowohl bei Netanyahu und den Extremisten in seiner Regierung, als auch bei der Hamas, jeder aus seinen unterschiedlichen Motiven heraus. „Zwar wurde die Entscheidung zur Wiederaufnahme des Krieges von Netanyahu getroffen, doch die Hamas bestand darauf, die Geiseln festzuhalten, bis eine lange Liste von Forderungen erfüllt war, anstatt zu erkennen, was die Vermittler aus Katar und Ägypten der palästinensischen Terrororganisation seit vielen Monaten predigten: Die Geiseln sind der einzige Grund, warum Israel weltweit Legitimität für die Fortsetzung des Krieges erlangen kann.“ Oder anders ausgedrückt: Hätte die Terrororganisation spätestens im Januar die Geisel alle freigegeben, wäre es der Regierung in Jerusalem deutlich schwerer gefallen, ein weiteres militärisches Vorgehen nach außen und innen zu rechtfertigen.
Nun aber geschah Folgendes: „Die amerikanische Dampfwalze wurde sowohl auf Israel und die Hamas als auch auf die vermittelnden Länder Katar und Ägypten sowie den Neuling Türkei losgelassen“, kommentiert Amos Harel ebenfalls in „Haaretz“ die jüngsten Entwicklungen. „Wenn Trump anfängt, wie Tony Soprano zu klingen, kann ihm niemand wirklich im Weg stehen. Und Premier Benjamin Netanyahu vielleicht am wenigsten.“ Sowieso wird es in den kommenden Wochen für den Ministerpräsidenten richtig herausfordernd – da war der demütigende Anruf von Benjamin Netanyahu bei seinem Amtskollegen in Katar vor laufender Kamera, zu dem ihn Donald Trump gezwungen hatte, womöglich noch das Harmloseste.
Denn wenn sich der Staub, der gerade durch den Friedensplan aufgewirbelt wurde, gelegt hat, und die Geiseln frei gekommen sind, werden in Israel manche Diskussionen erst richtig beginnen. „Nach dem Ende des langen Krieges kann Israel dringend notwendige Maßnahmen in Angriff nehmen“, bringt es Yoav Limor in „Israel HaYom“ auf den Punkt. „Und davon gibt es eine Menge: die Rehabilitation des Images der Streitkräfte, die Verabschiedung eines neuen Wehrpflichtgesetzes, die Wiederherstellung des internationalen Ansehens Israels (vielleicht sogar endlich der Aufbau eines kompetenten Apparats für öffentliche Diplomatie) und die Einrichtung einer lange aufgeschobenen nationalen Untersuchungskommission, um aus den Fehlern zu lernen und den nächsten Krieg zu verhindern.“ Genau Letzteres verhinderte der Premier stets mit dem Verweis darauf, dass man so ein Gremium nicht zu Kriegszeiten einsetzen würde, sondern erst danach. Überhaupt ist er gegen eine staatliche Untersuchungskommission, allenfalls würde er eine von der Regierung eingesetzte akzeptieren.
Doch eine solche wäre kaum als unparteiisch zu bewerten. Und während die Verantwortlichen bei der Armee oder den Geheimdiensten in den Monaten nach dem 7. Oktober 2023 ihren Platz freigemacht haben, ist Benjamin Netanyahu der einzige Politiker von Rang, der sich bis heute weigert, Versäumnisse oder Fehler einzugestehen. Weiterhin verhält er sich so, als die Einbindung der Hamas in seine Gaza-Politik, die mit seiner Genehmigung erfolgten Finanzspritzen aus Katar für die Terrororganisation und die Tatsache, das enge Mitarbeiter aus seinem Umfeld gleichzeitig als bezahlte Lobbyisten für das Emirat unterwegs waren, nichts mit ihm zu tun hätten. Ganz im Gegenteil, seit Monaten bastelt er selbst an der Legende, Opfer einer Verschwörung der Sicherheitsapparate gegen ihn zu sein. Die Diskussionen über eine Aufarbeitung dürften deshalb ziemlich toxisch ausfallen, ganz so im Sinne von Benjamin Netanyahu.
Und dann ist da noch die Zukunft seines Kabinetts. Minister der Religiösen Zionisten sowie aus den Reihen der extremistischen Otzma Yehudit-Partei betonen zwar, gegen das Abkommen zu sein, allerdings klingt das alles eher verhalten. Für den Moment dominiert der Eindruck, als ob Finanzminister Bezalel Smotrich und Nationaler Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir es gerade nicht so eilig hätten, zurückzutreten. Doch mittel- oder langfristig ist die Stabilität der Regierung mehr als ungewiss. Unabhängig davon hat das nationalistische Lager, das in dem Kabinett vertreten ist, einige Probleme. Vor wenigen Wochen noch fantasierten seine Vertreter von einer Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen und planten bereits neue Siedlungen. Sie dachten, man hätte den Rückhalt der amerikanischen Regierung und quasi einen Freibrief von Donald Trump. Jetzt erfolgt die Realitätskonfrontation, weil Washington eher das Gegenteil als Ziel in dem 20-Punkte-Plan nennt.
Plötzlich erscheint sogar eine Zwei-Staaten-Lösung als Schreckgespenst wieder möglich, und zwar allein deswegen, weil die Amerikaner das so wollen und die allermeisten arabischen Staaten dabei hinter sich wissen – oder präziser: Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien verlangen einen politischen Prozess, an dessen Ende ein wie auch immer aussehendes palästinensisches Gemeinwesen herauskommt. Langsam fällt im messianisch gestimmten Lager in Israel der Groschen, dass ihre Pläne in Washington keinerlei Relevanz spielen, weil für die Trump-Administration das Bündnis mit den finanzkräftigen Regimen aus der Golfregion absolute Präferenz hat. Auch das wird die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Wochen mitbestimmen. Und damit könnte auch ein vorgezogener Wahltermin etwas wahrscheinlicher werden als noch vor rund einem Monat.