Demontage des Justizwesens – zweiter Anlauf

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"Gali, das Volk ist mit Dir", Plakat bei einer Demonstration in Tel Aviv, Foto: haGalil

Die Entmachtung des Obersten Gerichtshofes ist eines der großen Projekte von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Deswegen treibt sein Justizminister gerade das Vorhaben mit neuem Verve voran. Doch ganz so einfach ist es für ihn nicht.

Von Ralf Balke

Das Feindbild ist blond und weiblich. Und es hat einen Namen: Gali Baharav-Miara. Denn folgt man den Worten von Israels Justizminister Yariv Levin ist die Generalstaatsanwältin so etwas wie die Quelle allen politischen Übels im Lande. „Sie ist der lange Arm aller Gegner der Regierung und scheut keine Mühe, den Willen der Wähler zu untergraben.“ Doch die Realität sieht etwas anders aus. So ist Gali Baharav-Miara eine Gegnerin des von der Regierung angestrebten Umbau des Justizwesens und eine hartnäckige Verteidigerin des Rechtsstaats, weshalb sie auch in den gerichtlichen Verfahren gegen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nicht locker lässt. Außerdem sieht die 65-jährige Juristin die Ausnahmeregelung für Ultraorthodoxe von der Wehrpflicht als problematisch. All das macht sie in den Augen der Regierung zu einem Problemfall, den man loswerden möchte. Schon länger hat Yariv Levin damit gedroht, gegen die Generalstaatsanwältin vorzugehen. Aber nun scheint es konkret zu werden. Am 5. März beantragte er offiziell ihre Entlassung.

Doch so einfach wird es nicht für ihn. Um überhaupt jemanden in dieser Position entlassen zu können, muss der Justizminister einem fünfköpfigen Ausschuss, der Personen für diesen Posten ernennt, schriftlich die Einwände der Regierung gegen die Arbeitsweise des Generalstaatsanwalts darlegen. Dieser besteht aus einem ehemaligen Richter des Obersten Gerichtshofes, der vom jetzigen Obersten Gerichtshof wiederum ernannt wird, einem ehemaligen Justizminister oder Generalstaatsanwalt, den die Regierung ernennt, einem Knesset-Abgeordneten, den das Rechtskomitee des Parlaments bestimmt, sowie jeweils einem Vertreter der Anwaltskammer und einem Dekan einer juristischen Fakultät. Vor diesem Ausschuss muss eine Anhörung der Generalstaatsanwältin erfolgen, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Standpunkte zu erläutern. Erst dann kann das Gremium eine Empfehlung aussprechen, ob die Person entlassen werden soll oder nicht. Die Regierung hat nun die Option, diese zu ignorieren oder nicht. Folgt sie nicht der Empfehlung des Ausschusses, hat sie schlechte Karten vor dem Obersten Gerichtshof. Denn dort wird die Causa am Ende landen. Kurzum, das Verfahren, das Yariv Levin nun initiiert hat, dürfte sich über viele Monate hinziehen. Und auch der Ausgang wäre offen. Das wird den Justizminister aber gewiss nicht abschrecken. Er wird alles nur Erdenkliche unternehmen, um Gali Baharav-Miara in der Öffentlichkeit weiter zu diskreditieren.

Schließlich ist Hartnäckigkeit so etwas wie sein Markenzeichen – auch bei dem Thema Umbau des Justizwesens, von seinen Befürwortern euphemistisch „Justizreform“ bezeichnet. Millionen Israelis gingen im Frühjahr und Sommer 2023 jede Woche auf die Straße, um gegen das Vorhaben der Regierung, und zwar die Entmachtung des Obersten Gerichtshofes und Schwächung des Rechtsstaates, zu demonstrieren. Dann geschah das Massaker vom 7. Oktober und der Plan verschwand erst einmal in der Versenkung. Viele Experten sahen in dem Streit um die „Justizreform“ einen der Gründe, warum Israel damals von der Hamas als geschwächt und innerlich zerrissen wahrgenommen wurde, weshalb die Islamisten den Zeitpunkt als günstig bewerteten und losschlugen. Über Monate hinweg dominierte daraufhin der Krieg im Gazastreifen und im Libanon die politische Agenda – bis Ende 2024. Denn am 15. Dezember verkündete Yariv Levin einen neuen Anlauf, um das Justizwesen so umzubauen, wie es der Regierung gefällt. „Viele Israelis wachten an diesem Sonntagmorgen mit einem Déjà-vu-Gefühl auf und fragten sich, ob das Land vielleicht in die Zeit des 6. Oktober 2023 und die angespannte politische Atmosphäre von damals zurückversetzt ist“, kommentierte Amir Tibon das Ganze in „Haaretz“.

Diesmal will der Justizminister dem neun-köpfigen Ausschuss an den Kragen, der die Richter für den Obersten Gerichtshof ernennt. Aktuell sitzen darin auch zwei Vertreter der Anwaltskammer. Die würde man gerne austauschen, und zwar durch zwei Juristen, einen von der Regierung ernannt, den zweiten von der Opposition. Dadurch würde sich der Einfluss innerhalb dieses Gremiums zugunsten der Politik verschieben, was wiederum die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshof am Ende in Gefahr bringt. Die Ernennung der Richter wäre dann zunehmend durch politischen Verhandlungen bestimmt – so argumentieren die Gegner des Vorhabens, allen voran Gali Baharav-Miara. Aktuell wird das Ganze vor dem Verfassungskomitee der Knesset verhandelt, dem wiederum Simcha Rothman vorsteht, ein Abgeordneter der Religiösen Zionisten und einer der lautstärksten Befürworter des Regierungsprojekts. Dort beschäftigt man sich gerade mit den ersten 900 Einsprüchen gegen ein verändertes Prozedere, viele Tausend stehen noch an. Gerne würden Yariv Levin und Simcha Rothman das Ganze bis Anfang April über die Bühne bringen, damit es noch vor der Pessach-Pause in der Knesset zur Abstimmung gelangen kann.

Für den Justizminister ist das besonders wichtig. Denn im Juni 2023 musste Yariv Levin eine Schlappe hinnehmen. In einer für ihn und die Regierung äußerst peinlichen Situation wählte die Knesset eine Abgeordnete der Opposition, um einen der beiden damals freien Sitze in dem Gremium neu zu besetzen, und zwar Karin Elharrar von der Yesh Atid-Partei. Die Abstimmung war in geheimer Wahl erfolgt, sodass es wohl auch Abgeordnete aus der Koalition gab, die mit den Plänen von Yariv Levin nicht einverstanden waren, aber nicht den Mut hatten, sich öffentlich dagegenzustellen. Mit anderen Worten: Der Justizminister hatte seine Chance verpasst, durch die Ernennung einer Person, die ihm politisch genehm war, das Kräfteverhältnis in dem Ausschuss, der die Obersten Richter ernennt, zu seinen Gunsten zu ändern. Also beschloss er, seine Autorität als Justizminister zu nutzen, um den Ausschuss ganz lahmzulegen. Über ein Jahr weigerte sich Yariv Levin nunmehr, eine Anhörung einzuberufen und die Ernennung neuer Richter des Obersten Gerichtshofs zuzulassen. Nur elf der 15 Richterposten sind deshalb derzeit besetzt. Selbst als dessen Präsidentin Esther Hayut altersbedingt im Oktober 2023 in den Ruhestand gehen musste, stellte er sich stur, weshalb es danach nur einen amtierenden Präsidenten gab, und zwar Uzi Fogelman, der im Oktober 2024 aber ebenfalls in Rente ging. Ihm folgte der als liberal geltende Yitzhak Amit – auch seine Ernennung weigert er sich bis dato anzuerkennen. Als dieser am 13. Februar 2025 vereidigt wurde, erschienen weder der Ministerpräsident, noch der Justizminister oder der Knessetsprecher Amir Ohana, was von Staatspräsident Itzhak Herzog heftig kritisiert wurde.

Am 9. Januar 2025 hatte sich Yariv Levin mit Außenminister Gideon Sa’ar, der übrigens sein Vorgänger an der Spitze des Justizministeriums war, zusammengetan, um einen vermeintlichen „Kompromiss“ in der Frage der Richterernennung aus dem Hut zu zaubern. Demnach sollen die beiden Vertreter der Anwaltskammer weiterhin ersetzt werden, dafür aber Ernennungen für den Obersten Gerichtshof auch ohne die Stimme der drei im Gremium vertretenen Richtern möglich sein. Aktuell besitzen diese genauso wie die Vertreter der Koalition ein Vetorecht. Sollten gleich zwei Stellen am Obersten Gerichtshof länger als ein Jahr unbesetzt sein, könnten beide Seiten einen Richter aus einer Liste von drei Kandidaten ernennen. Zu dem „Kompromiss“ gehört ferner eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Legislative und Judikative. Über die Grundgesetze, die als verfassungsähnlich gelten und zentrale Fragen der jüdischen und demokratischen Identität des Staates, der Menschenrechte und Aspekte des Regierungssystems betreffen, hätte der Oberste Gerichtshof keine richterliche Kontrolle mehr.

Gali Baharav-Miara hatte zuletzt Anfang März den Vorschlag von Yariv Levin und Gideon Sa’ar heftig kritisiert. Die Generalstaatsanwältin sprach davon, dass auch dieser Plan die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Gewaltenteilung unterminieren und damit der Demokratie schaden würden. Der Einfluss der Politik würde zunehmen, während die Stimmen der Juristen in dem Gremium an Relevanz verlieren könnten, schrieb sie dem Justizminister. „Die vorgeschlagene Regelung hat schwerwiegende negative Auswirkungen auf das Justizsystem und schadet seiner Professionalität, Unabhängigkeit sowie seiner Fähigkeit, die Regierung zu kritisieren.“ Diese Worte wiederum erzürnten den Außenminister, der sie beschuldigte, sich über das Parlament und die Gerichte erheben zu wollen. „Dies ist ein politisches Dokument, kein juristisches“, kritisierte er auf der Social-Media-Plattform X die Äußerungen des Justizministers. „Um ehrlich zu sein, ist es schwierig, in der Geschichte des Staates und der Knesset einen vergleichbaren Vorschlag zu finden, in den so viel aus dem öffentlichen und politischen Diskurs berücksichtigt worden wäre“, wie in seinem „Kompromiss“. Funfact: Als Gideon Sa’ar Justizminister war, sorgte er dafür, dass Gali Baharav-Miara Generalstaatsanwältin wurde.

Diese Personalentscheidung dürfte der jetzige Außenminister mittlerweile schwer bereuen. Denn Gali Baharav-Miara hat sich als äußerst widerstandsfähig erwiesen. Erst begann man von Seiten der Regierung im Verborgenen Druck auf sie auszuüben und sie zum Rücktritt zu überreden. Mittlerweile ist das alles reichlich aus dem Ruder gelaufen. Die verbalen Attacken, auch von Itamar Ben Gvir, Ex-Minister für nationale Sicherheit, haben längst eine beunruhigende Dimension und äußerst schrille Töne angenommen. Nun also soll sie offiziell aus dem Amt gedrängt werden. Gali Baharav-Miara hat deutlich gemacht, dass sie da nicht mitspielt und weiterhin Generalstaatsanwältin bleiben wird. Nerven aus Stahl hat sie jedenfalls bereits gezeigt. Deshalb könnten sich der Ministerpräsident und der Justizminister an ihr die Zähne ausbeißen.