„Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“

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Endlich liegt eine deutschsprachige Ausgabe von Benny Morris „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ vor, eine quellenorientierte Arbeit zur historischen Rekonstruktion, die durch einschlägige Fakten ideologische Fehldeutungen zurechtrückt.

Von Armin Pfahl-Traughber

Wie kam es zum palästinensischen Flüchtlingsproblem nach 1948? Die inhaltliche Bedeutung dieser Frage ist evident, dienen einschlägige Deutungen doch auch politischen Wertungen. Dies macht es differenzierten Analytiker wie quellenorientierten Historikern so schwer, in einer polarisierten Debatte mit ihren Sichtweisen durchzudringen. So ergeht es auch Benny Morris seit 1988, veröffentlichte er dann erstmals seine Studie zum Thema. Er ist einer der „Neuen Historiker“ in Israel, womit nicht nur auf deren jüngere Generation angespielt wird. Ihre Angehörigen kritisieren viele Details des Gründungsnarrativ von Israel, gleichzeitig gab es aber auch in dieser Gruppe viele Unterschiede. Und dann lösten die Deutungen von Morris auch innerisraelisch aus politischen Motiven unangemessene Reaktionen aus. Nachdem „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ erstmals erschienen war, galt Morris mitunter als „Nestbeschmutzer“ oder „PLO-Sympathisant“. Beide Deutungen seiner Person sind und waren falsch, wie die Lektüre der Studie eindrucksvoll zeigt.

Endlich liegt eine deutsche Ausgabe von ihr vor, „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Eine Neubetrachtung“ ist sie betitelt. Man hat es mit der bislang ausführlichsten und genausten Darstellung zum Thema zu tun, ergänzt um neue Erkenntnisse aus erst später zugänglichen historischen Quellen. Blickt man allein in die Fußnoten von Morris, dann veranschaulichen diese die Breite seiner Untersuchung. Entsprechend haben sich bei der Beschreibung der Ereignisse die Seiten gefüllt. Die aktuell vorliegende Ausgabe hat die 800 als Zahl überschritten. Dazu gehören aber ebenso Ausführungen von den Herausgebern zur Übersetzung, außerdem findet sich ein informatives Nachwort zur Neuausgabe zu verschiedenen Themen. Und schließlich gibt es noch ein Interview mit Morris. Die letztgenannten Beiträge sollte man wohlmöglich zuerst lesen, erschließt sich daraus doch besser der inhaltliche Zusammenhang. Außerdem sind dadurch die Ausrichtung der Forschungsdebatte und damit der Inhalt der Studie besser verständlich.

Denn man hat es bei der Arbeit mit einer geschichtswissenschaftlichen Darstellung zu tun, welche an Details von Ereignissen und Quellen orientiert ist. Der Autor unterscheidet dabei für die Entwicklung verschiedene Phasen. Sie prägen auch die Gesamtstruktur der Studie, jeweils bezogen auf die Ereignisse in unterschiedlichen Regionen. Bei der Fixierung auf konkrete Vorkommnisse geht aber mitunter das verloren, was für eine Deutung des Gesamtkomplexes relevant ist. Erst durch die um den Haupttext stehenden Nebentexte wird vieles in der Relevanz besser vermittelt. Worin bestehen aber nun die eigentlichen Erkenntnisse von Morris?  Er führt das Flüchtlingsproblem auf den Krieg von 1948 zurück, wurde Israel doch von arabischen Staaten angegriffen. Der Autor macht deutlich: „Dieser Krieg und nicht ein jüdischer oder arabischer Plan führte zur Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ (S. 755). Die Auffassung belegt bereits die bloße Chronologie, was in polarisierten Debatten nicht immer zur Kenntnis genommen wird.

Betrachtet man einzelne Ereignisse genauer, dann wird die ganze Komplexität besser verständlich. Nur in Ansätzen finden sich einzelne Faktoren genannt, wozu auch das Agieren arabischer wie israelischer Protagonisten zählte. Der Autor will Prozesse beschreiben, keine Punkte für unterschiedliche Schuldkonten verteilen. Diese Ausrichtung mag manche Leser enttäuschen, sie entspricht aber der Seriosität des Wissenschaftlers. Das Differenzierungsvermögen zeigt sich auch bezogen auf einzelne Ereignisse immer wieder, wofür hier die Darstellung des Deir-Yassin-Massakers angeführt werden soll. Dessen Ausmaß veranschaulichen die historischen Quellen, es wird aber auch der Irgun in Verantwortung zugeschrieben. Die Haganah wie das Oberrabbinat verurteilten die Taten. Letzteres macht die Dimensionen nicht geringer, heutige Stellungnahmen dazu sollten aber differenzierter vorgenommen werden. Zu einem derartigen Ansinnen liefert Morris viel erhellenden Stoff. Gedankt sei der Gesellschaft für kritische Bildung und Hentrich & Hentrich für die Herausgabe der Übersetzung.

Benny Morris, Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Eine Neubetrachtung, Leipzig 2025 (Hentrich & Hentrich), 825 S., Euro 39,00, Bestellen?

–> Leseprobe (PDF)

–> Bei Hentrich & Hentrich erschien von Benny Morris bereits: „1948. Der erste arabisch-israelische Krieg“

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