„Durch das gemeinsame Erleben dieses Ortes verbunden“

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Foto: begegnen e.V.

Begegnung, das persönliche Kennenlernen und Dialog sind der Schlüssel für Toleranz und Empathie. Gerade heute scheint dieser Grundgedanke wichtiger denn je. In Nordrhein-Westfalen gibt es einen Verein, der den Rahmen für Begegnungen zwischen Muslim*innen, Juden*Jüdinnen und Christ*innen schafft, unter dem Leitgedanken „Wer die Zukunft nachhaltig gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen und die Gegenwart positiv beeinflussen.“

begegnen e.V. wurde im Juli 2019 gegründet und ermöglicht Momente der Begegnung im Rahmen von Vorträgen, Bildungsveranstaltungen und Reisen. Im Mai gab es eine Begegnungsreise zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Wir haben zwei Teilnehmerinnen gebeten, ihre persönlichen Eindrücke zu teilen. Ihre Antworten sprechen für den enormen Wert dieser Begegnungsarbeit. 

Alle Muslim*innen, Christ*innen und Juden*Jüdinnen, aber auch Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen in Nordrhein-Westfalen sind eingeladen, am Begegnungs- und Bildungsangebot von begegnen e.V. teilzunehmen. Informationen zu den aktuellen Veranstaltungen gibt es hier.

Dicle Karababa und Inbal Arnon, Foto: begegnen e.V.

Dicle Karababa, 39 Jahre, islamisch (alevitisch)

Welche Erwartungen hatten Sie an den Besuch in Auschwitz? Warum haben Sie sich für einen Besuch in diesem interreligiösen Forum entschieden? 

Ein Besuch in Auschwitz war für mich lange Zeit ein unausgesprochener Wunsch. Schon in der Schulzeit hatte ich das Bedürfnis, diesen historischen Ort zu sehen, ihn zu begreifen, soweit das überhaupt möglich ist. Doch ich habe es nie gewagt, die Reise allein anzutreten. Ich hatte großen Respekt vor der emotionalen Wucht, die ich dort erwartete, und mir war klar, dass eine solche Erfahrung eine gründliche Vorbereitung braucht. Als ich von der Möglichkeit erfuhr, im Rahmen eines interreligiösen Forums Auschwitz zu besuchen, wusste ich sofort, dass ich teilnehmen möchte. Der geschützte, begleitete Rahmen, getragen vom Dialog zwischen verschiedenen Religionen, gab mir die Sicherheit, mich dieser Erfahrung zu stellen. Ich hatte nur eine einzige Erwartung: dass dieser Ort ein einschneidendes Erlebnis sein würde. Und das wurde er in jeder Hinsicht.

Welche Reaktionen erhalten Sie in Ihrem Umfeld auf die Entscheidung, aktiv im interreligiösen Dialog engagiert zu sein? 

Mein Engagement im interreligiösen Dialog löst in meinem Umfeld unterschiedliche Reaktionen aus. Viele Menschen zeigen sich offen, interessiert, stellen mir Fragen über andere Religionen oder kulturelle Hintergründe, hoffen, dass ich Einblicke geben oder Verbindungen herstellen kann. Manche lassen sich dadurch selbst ermutigen, den Dialog zu suchen oder bestehende Vorbehalte zu überdenken. Aber es gibt auch kritische Stimmen. Besonders seit dem 07. Oktober hat sich die Tonlage verändert. Menschen, die wissen, dass ich enge Freundschaften zu jüdischen Menschen und Israelis pflege, fragen vermehrt nach meinem Verhältnis zu ihnen; als wäre ein Bruch selbstverständlich. In solchen Momenten zeigt sich, wie wichtig und zugleich herausfordernd echter interreligiöser Austausch ist.

Nach meiner Reise traf ich einige jüdische Freund*innen wieder und sie zollten mir Respekt, dass ich dort war, selbst trauen sie sich (noch) nicht dorthin.

Hat die interreligiöse Perspektive Aspekte in Auschwitz betont, die Sie anders vielleicht nicht erfahren hätten? 

Die gemeinsame Reise nach Auschwitz mit Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung hat meinen Blick auf viele Aspekte geschärft, die ich allein womöglich übersehen hätte. Ich habe viel gelernt über die Geschichte, über die Menschen, über mich selbst. Es waren Details, die mich besonders erschütterten: die Schicksale schwangerer Frauen, die in den Lagern entbundenen Säuglinge, deren Leben von vornherein dem Tod geweiht war. Auch wusste ich nicht, dass das Arbeitslager Auschwitz ursprünglich für polnische Gefangene konzipiert war. Die Geschichte des heiligen Maximilian Kolbe, einem katholischen Priester, der sein Leben für das eines Mitgefangenen gab, berührte mich tief. Aber es waren nicht nur historische Fakten, die mich bewegten. Es war die Erfahrung, dass wir als Gruppe von Menschen, die sich vorher kaum kannten, durch das gemeinsame Erleben dieses Ortes verbunden wurden.

Welchen Eindruck nehmen Sie am nachhaltigsten von dem Besuch in Auschwitz mit? 

Am stärksten hat sich mir eine Nacht vor dem Besuch von Auschwitz-Birkenau eingeprägt. Meine Zimmernachbarin und ich hatten denselben Alptraum. In unseren Träumen suchten wir einander verzweifelt in den Baracken, riefen uns, fanden uns nicht. Diese Nacht stand symbolisch für das, was wir später an diesem Tag spürten: die unerträgliche Präsenz von Verlust, Angst, Einsamkeit.

Die Wege durch Auschwitz II zu gehen, war das Schwerste, das ich je körperlich erlebt habe, nicht wegen der physischen Anstrengung, sondern wegen der Last der Geschichte. Ich stellte mir vor, wie hier Mütter mit ihren Kindern entlanggingen, nach tagelanger Zugfahrt, erschöpft, hungrig, voller Angst. Ich sah in Gedanken, wie ein Kind stolperte, wie jemand willkürlich erschossen wurde, wie jemand zum Himmel blickte und nach Gott fragte, wie ein Vater still weinte. Jeder Schritt dort erforderte Respekt und Scham. Ich war mir bewusst, dass ich mich auf einem Massengrab bewegte. Dass vielleicht noch immer Spuren von Asche in der Luft oder im Boden lagen, untrennbar mit dem Ort verbunden. Dieses Bewusstsein hat mich verändert.

 

Inbal Arnon, 48 Jahre, jüdisch

Welche Reaktionen erhalten Sie in Ihrem Umfeld auf die Entscheidung, aktiv im interreligiösen Dialog engagiert zu sein?

Ich erhalte unterschiedliche Reaktionen. Viele schätzen die Bedeutung des interreligiösen Dialogs als Instrument zur Förderung von Verständnis, Toleranz und Brückenbildung zwischen verschiedenen Gemeinschaften. Insbesondere in Zeiten politischer und emotionaler Spannungen, wie nach dem 7. Oktober, gibt es auch Stimmen, die Zweifel oder Vorbehalte äußern. Das ist verständlich – komplexe Situationen lösen starke Gefühle und schwierige Fragen aus. Ich sehe im interreligiösen Dialog einen Weg, auch in sensiblen Situationen offene Kommunikationskanäle aufrechtzuerhalten – unter Wahrung von Identität, Komplexität und gegenseitigem Respekt.

Hat die interreligiöse Perspektive Aspekte in Auschwitz betont, die Sie anders vielleicht nicht erfahren hätten?

Der Besuch in Auschwitz hat für mich eine tiefgreifende und schmerzhafte Bedeutung als zentraler Ort im kollektiven jüdischen Gedächtnis. Gleichzeitig hat die interreligiöse Perspektive eine zusätzliche Ebene eröffnet – sie ermöglichte mir zu sehen, wie dieser Ort auch für Angehörige anderer Religionen nachklingt, die jeweils ihren eigenen Schmerz und ihre eigene Erinnerung tragen. Besonders bewegend war es für mich, Vertreter verschiedener Religionen gemeinsam trauern, beten und nachdenken zu sehen – aus Respekt vor der jüdischen Erinnerung und mit dem aufrichtigen Wunsch, aus der Vergangenheit zu lernen.

Welchen Eindruck nehmen Sie am nachhaltigsten von dem Besuch in Auschwitz mit?

Das Stehen in Auschwitz war für mich eine zutiefst bewegende persönliche Erfahrung. Ich fühlte, dass ich mit der Erinnerung meines Volkes in Berührung komme – nicht nur durch Bücher, sondern direkt an dem Ort, an dem ihr Leben gewaltsam beendet wurde. Besonders eindrücklich war die Stille – schwer und beklemmend – die das ausspricht, was Worte nicht ausdrücken können. Der Besuch bestärkte in mir das Gefühl, dass die Erinnerung an den Holocaust eine Mission ist, nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch als Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Hass und Diskriminierung in der Gegenwart.

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