Von Flip-Flops und Sprengstofffässern

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Netanyahu während der Pressekonferenz, Screenshot Youtube, PM Office

Benjamin Netanyahu irrlichtert durch die Politik. Israels Ministerpräsident blockiert weiterhin jede Untersuchung der Versäumnisse rund um das Massaker vom 7. Oktober. Auch einen Plan für die Zukunft des Gazastreifens kann er nicht präsentieren. Deshalb geht der Krieg einfach weiter – mit schwerwiegenden Folgen für das Land.

Von Ralf Balke

Der Presse stellt sich Benjamin Netanyahu mittlerweile äußerst ungern. Das war früher einmal anders. Heute gewährt Israels Ministerpräsident allenfalls sorgsam ausgewählten ausländischen Medien noch Interviews. Und wenn es mal israelische Journalisten sind, die ihm Fragen stellen dürfen, dann allenfalls solche, die ihm wohlgesonnen sind, beispielsweise aus dem Umfeld von Kanal 14, seinem ihm absolut loyalen Sprachrohr. Doch was man dieser Tage bei einem seiner raren Auftritte zu hören bekam, irritierte sogar seine Anhängerschaft. Angesprochen auf die Ereignisse vom 7. Oktober erklärte er beispielsweise, dass die Verteidigung des Kibbuz Ein Hashlosha doch wunderbar funktioniert hätte. „Dort ist nichts passiert! Sie sind nicht in die Gemeinde eingedrungen, und die Terroristen wurden getötet.“ Die Tatsache, dass vier Mitglieder des Kibbuz von Hamas-Terroristen ermordet wurden, hatte Benjamin Netanyahu entweder nicht mehr auf dem Radar oder sie war für ihn nur noch eine Petitesse.

Zu einem weiteren brisanten Thema wusste der Ministerpräsident gleichfalls Überraschendes zu sagen, und zwar zu den berühmten Geldkoffern, die aus dem Katar mit seiner Zustimmung über Jahre hinweg via Tel Aviv in den Gazastreifens gelangen konnten. So behauptete er, dass diese Gelder es der Hamas nicht ermöglicht hätten, ihren mörderischen Terrorangriff auf Israel zu planen, schließlich hätten diese „uns in Flip-Flops sowie mit AK-47 und Pickup-Trucks angegriffen, die gerade mal Schrottwert hatten“. Das sorgte für reichlich Verwirrung. „Bei den Nukhba-Terroristen handelte es sich nicht um einen Flip-Flop-tragenden Mob, sondern um eine gut ausgebildete Kommandotruppe“, so stellvertretend für viele der Journalist Nadav Eyal in einem Kommentar in der Tageszeitung „Yeditoh Aharonot“. „Nachdem sie die Armeeposten und die Sicherheitsteams in den Gemeinden im Grenzgebiet überrannt hatten, traf eine zweite Welle bewaffneter Hamas-Kräfte ein. In einer dritten Welle kamen schließlich die Plünderer. Ich glaube nicht, dass es nach all dem wichtig ist, darüber zu diskutieren, welche Schuhe die Terroristen trugen und ob es Flip-Flops waren, wie es der Premierminister behauptet hat.“

Angesichts der Kritik an seinen Äußerungen legte Benjamin Netanyahu nach und sagte, dass er nur noch mal habe hervorheben wollen, welche Waffen die Hamas benutzt hätte. „Kleintransporter. Kalaschnikows. Panzerfäuste. Das kostet doch nichts. Und es war wirklich kein riesiger Raketenvorrat. Sie wissen doch alle, wie sie das machen – man nimmt Metallfässer, packt Sprengstoff hinein, und das war’s. Eine kleine Einheit kann das machen. Das kostet kein Geld.“ Das ist Realitätsverlust deluxe – schließlich hatte die Hamas gemeinsam mit dem Islamischen Jihad vor dem Krieg mit iranischer Unterstützung ein riesiges Arsenal an Raketen aufgebaut, das technisch über die Jahre hinweg immer versierter wurde. Benjamin Netanyahu selbst hatte in der Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen. Auch waren es gewiss keine Metallfässer voller Sprengstoff, die auf Ashkelon, Ashdod oder Tel Aviv niedergingen.

Mit den Geldkoffern, die dank seiner Politik die Hamas erreichen konnten, hatte es ebenfalls nur Gutes auf sich, behauptet er ferner. „Diese Hilfe war für 100.000 Menschen im Gazastreifen bestimmt, die unterhalb der Armutsgrenze leben.“ Die Abwasserentsorgung, die Vorbeugung von Krankheiten, die Versorgung mit einem Minimum an Strom sollte so gewährleistet werden. „Mit dem Geld wurden also nicht wirklich Waffen oder ähnliches gebaut.“ Der Ministerpräsident, und das ist viel aufschlußreicher, hat aber auch Schuldige parat. So seien es die internationalen Hilfsorganisationen, die Vereinten Nationen sowie der Iran gewesen, die es der Hamas ermöglicht hätten, das Massaker anzurichten. „Es war also keine finanzielle Frage, und es ging auch nicht um das Geld aus Katar. Es ging um Versäumnisse, und wir müssen uns immer noch fragen, was da passiert ist. Und warum? Warum hat die Armee nicht die Bereitschaftstruppen eingesetzt? Warum hat sie die Luftwaffe nicht rechtzeitig alarmiert? Warum haben sie den Premierminister – also mich – nicht informiert? Wer hat diesen Anruf getätigt?“ Selbst 19 Monate nach dem 7. Oktober will Benjamin Netanyahu keinerlei Verantwortung für irgendwelche Fehlentscheidungen übernehmen – nur nimmt das Ganze langsam den Charakter einer Verschwörungstheorie ein. Sein Narrativ: Stunden vor Beginn des Angriffs wäre den nahe am Gazastreifen stationierten Soldaten angeblich befohlen worden, sich von den Grenzanlagen zu entfernen. Und als das Massaker dann seinen Lauf nahm, habe man die Luftwaffe daran gehindert, zu intervenieren. Schuldig an der Katastrophe seien also, so sein Mantra, allein die Armee und die Geheimdienste.

19 Monate nach dem 7. Oktober zeigt sich aber noch etwas. Die Regierung hat weiterhin keinen Plan für die Zukunft des Gazastreifens. Zwar erklärte Benjamin Netanyahu bei seinem Medienauftritt Folgendes: „Ich habe Neuigkeiten – ich bin bereit, die Kämpfe unter klaren Bedingungen zu beenden. Alle Geiseln kehren zurück, die Hamas-Führung wird aus dem Gazastreifen verbannt und die Gruppe wird entwaffnet – und dann beginnen wir mit der Umsetzung des Trump-Plans im Gazastreifen.“ Doch mittlerweile müsste auch dem Ministerpräsidenten klar sein, dass der Trump-Plan, egal ob die Vision von einer Riviera im Nahen Osten oder die sogenannte „Freedom Zone“, selbst den US-Präsidenten kaum noch interessiert. Ganz im Gegenteil, Donald Trump möchte den Krieg im Gazastreifen so schnell wie möglich beendet sehen, um die wirtschaftlichen, militärischen und politischen Beziehungen mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten auf eine neue Ebene zu bringen.

Deshalb üben die Vereinigten Staaten derzeit massiven Druck auf Israel aus, die Versorgung des Gazastreifens mit Hilfsgütern wieder zu gewährleisten. Man möchte keine Bilder von hungernden Menschen haben und eine mögliche humanitäre Katastrophe abwenden. Das bringt Benjamin Netanyahu zusätzlich in Bedrängnis. Denn seine Koalitionspartner Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir wollen genau das verhindern. Sie fordern eine Fortsetzung des Krieges mit allen Mitteln, und das beinhaltet ebenfalls das Aushungern der Palästinenser. Ob die Vereinigten Staaten oder andere Verbündete Israels das kritisch sehen, interessiert sie dabei wenig. Beide verfolgen langfristige Ziele, und zwar die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen sowie eine erneute israelische Besiedlung. Auch das Schicksal der 58 israelischen Geiseln, die sich seit dem 7. Oktober noch in der Gewalt der Hamas befinden, ist für sie absolut irrelevant.

Das bringt Benjamin Netanyahu in die Bredouille. Lässt er sich auf einen Deal – den übrigens zwei Drittel der Israelis befürworten – zur Freilassung der Geiseln ein, der eine Waffenruhe als Voraussetzung mit sich bringt, drohen Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir aus der Koalition auszusteigen. Neuwahlen wären die Folge, bei denen der Likud laut aktuellen Meinungsumfragen massiv Federn lassen würde und allenfalls nur noch rund 23 von 120 Sitze in der Knesset käme. Die Aussichten, erneut Ministerpräsident zu werden, wären in diesem Fall ziemlich miserabel. Was dann ebenfalls dahin sein könnte, wäre seine Immunität – auch das etwas, was Benjamin Netanyahu auf Biegen und Brechen verhindern will. Deshalb wird der Krieg weiter geführt, deshalb auch in Kauf genommen, dass seit Wochen wieder israelische Soldaten sterben. In Kauf genommen wird ferner, dass sich das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gerade in Rekordzeit abgekühlt hat.

Und es könnte noch einsamer um Israel werden, wenn Benjamin Netanyahu weiter so wie bisher agiert. So hat Großbritannien als Reaktion auf die unzureichende Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen sowie die israelische Politik im Westjordanland nicht nur bestimmte Personen aus der Siedlerbewegung mit Sanktionen belegt, sondern ebenfalls die Gespräche über ein Freihandelsabkommen zwischen beiden Ländern auf Eis gelegt. „Die Geschichte wird über sie urteilen“, so der britische Außenminister David Lammy über die israelische Regierung. „Sie blockiert die Hilfe und weitet die Kriegsführung aus. Die Bedenken durch Freunde und Partner werden ignoriert. Das ist durch nichts zu rechtfertigen. Und es muss aufhören.“ Aus Kanada und Frankreich waren ähnliche Worte zu hören. Spanien Ministerpräsident Pedro Sanchez nannte Israel einen „genozidalen Staat“. Aus dem israelischen Außenministerium waren dazu wenig konstruktive Äußerungen zu hören, man sprach von einer „anti-israelischen Obsession und innenpolitische Erwägungen“, um muslimischen und progressiven Wählern zu gefallen. Bezalel Smotrich legte rhetorisch noch eine Schippe drauf und tat das alles als Ausdruck eines „Antisemitismus“ ab.

Israel droht durch die Politik von Benjamin Netanyahu weitere Isolierung in der internationalen Gemeinschaft, man läuft durchaus in Gefahr, zum Paria-Staates abzusteigen. Israels Botschafter bei der Europäischen Union, Haim Regev, warnte deshalb am Donnerstag gegenüber israelischen Journalisten vor einer „diplomatischen Erosion“ zwischen Jerusalem und der EU. Das geschehe nicht von heute auf morgen, sondern sei ein längerer Prozess, der langfristig schwer zu kalkulierbaren politischen und wirtschaftlichen Schaden mit sich bringen würde. Israelis, die im Ausland unterwegs sind, können das jetzt schon bestätigen, die wenigsten trauen sich überhaupt noch, als Israelis in Erscheinung zu treten. Aber den Ministerpräsidenten dürfte das alles nicht interessieren. Er pflegt weiterhin lieber seine Erzählung vom sogenannten „deep state“, der die Medien ebenso kontrollieren würde wie auch die Armee und die Geheimdienste.