Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023

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Unterschiedlichen Aspekten des „Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023“ widmet sich ein neuer Sammelband, der von Olaf Glöckner und Günther Jikeli herausgegeben wurde. Dessen fachkundige Autoren blicken dabei auf einschlägige Entwicklungen, sei es an Hochschulen, im Kulturbetrieb oder in der Linken. Bilanzierend wirken die Beiträge wie Fragmente, mehr ist indessen in der aktuellen Situation auch nicht möglich.

Von Armin Pfahl-Traughber

Bekanntlich kam es zu einem starken Anstieg des Antisemitismus nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023. Dabei verdient ein zeitliches Detail besonderes Interesse: Die gemeinte Entwicklung setzte in vielen Länder bereits vor militärischen Reaktionen des israelischen Staates ein. Insofern war der Antisemitismus auch keine Folge dieses Vorgehens, wie gelegentlich in Kommentaren mit relativierendem Unterton zu hören oder zu lesen ist. Einen Eindruck von der alten wie neuen Judenfeindschaft in diesem Kontext vermittelt jetzt ein neuer Sammelband, der von den beiden als Experten ausgewiesenen Olaf Glöckner und Günther Jikeli herausgegeben wurde. Er trägt „Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023“ als schlichten Titel. Offenkundig hatten die Beiden einige ihnen bekannte Forscher um einschlägige Texte gebeten, ohne dazu wie bei vielen Sammelbänden inhaltliche Vorgaben zu machen. Insofern kommt es bei den einzelnen Aufsätzen auch zu gelegentlichen Doppelungen, sie halten sich in der Gesamtschau aber in einem vertretbaren Maße.

Um einen Einblick in die Inhalte zu gewinnen, mag hier der Hinweis auf einschlägige Themenschwerpunkte genügen: Es geht um einen „adaptierten Sekundärantisemitismus“ im islamistischen Sinne, kirchliche Auffassungen zur Deutung des Massakers mit überdauernden Stereotypen und eine Bilanz zu antisemitischen Dimensionen bei der documenta fifteen. Mehrere Aufsätze sind antisemitischen Entwicklungen an Hochschulen oder bei Intellektuellen gewidmet, etwa bezogen auf bestimmte Diskurse, eine Interviewstudie oder einzelne Protestaktionen. Auch die diesbezüglichen Auffassungen in der politischen Linken werden intensiver wahrgenommen, sei es bezogen auf die ideengeschichtliche Entwicklung, sei es hinsichtlich der Gegenwart. Gerade die Ausführungen zu den dort vorhandenen Denkstrukturen mit einem manichäischen Weltbild sind hierbei wichtig. Diese Aufsätze betreiben übrigens kein „Bashing“ gegen Linke, sondern analysieren mit Differenzierung problematische Positionierungen.

Anschließend geht es auch um die AfD und deren Antisemitismus vor und nach dem 7. Oktober, wobei auf deren ausgeprägte Anwendung von Codes und Narrativen verwiesen wird. Besonders verwunderlich war im eher linken Diskurs die Ignoranz gegenüber einer besonders brutalen Praxis, die sich in sexualisierter Gewalt mit tödlichen Wirkungen offenbarte. Eine auffällige Empörung darüber konnte weder unter Feministinnen noch unter Linken konstatiert werden, sieht man einmal von einzelnen Ausnahmen in der öffentlichen Kommentierung ab. Am Ende stehen noch interessante Reflexionen, welche die Anatomie von Genozidvorwürfen gegen Israel untersuchen. Und schließlich endet der Band mit persönlichen Betrachtungen, die von dem Inhaber eines jüdischen Restaurants stammen. Es handelt sich um den einzigen nichtwissenschaftlichen Beitrag im Sammelband. Er macht aber auch anschaulich auf den Alltagsantisemitismus aufmerksam und vermittelt so ansonsten eher ignorierte Dimensionen der gemeinten Judenfeindschaft.

Alle Beiträge stammen von ausgewiesenen Kennern der Materie, die bereits häufig schon seit Jahrzehnten einschlägige Studien vorgelegt haben. Man mag hier und da in Details einige Einwände bezüglich der Interpretation erheben, in der Bilanz lässt sich aber schwerlich gravierendere Kritik vortragen. Trotz der thematischen Breite ist kein Gesamtbild durch den Sammelband entstanden, wirkt er doch wie eine Ansammlung von Fragmenten zu einem komplexen Thema. Mehr ist aber auch in der Gegenwart vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Weiterentwicklung nicht möglich. Darüber hinaus sind fragmentarische Momentaufnahmen wichtig, um eben problematische Tendenzen stärker zu erfassen. Dies leistet der Band in gelungener Weise. Er dürfte eher von akademisch Gebildeten wahrgenommen werden, was hier in der Natur der Sache liegt. In dieser sozialen Gruppe bestehende Stereotype hätten noch stärker thematisiert werden können. Vielleicht geschieht dies aber in einem Folgeband zu einem leider nach wie vor aktuellen Thema. 

Olaf Glöckner/Günther Jikeli (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023, Baden-Baden 2025 (Georg Olms Verlag), 316 S., Euro 29,00, Bestellen?

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