Die Ideologie des „Siedlerkolonialismus“ findet nicht nur an Universitäten immer mehr Verbreitung. Mit ideologiekritischem Blick macht Adam Kirsch darauf aufmerksam, dass dahinter keine progressive Auffassung, sondern eine Idealisierung der Vergangenheit steht. Sein Buch „Siedlerkolonialisismus. Ideologie, Gewalt und Gerechtigkeit“ liefert dazu einen ideologiekritischen Überblick, es erschien jetzt auch in deutscher Sprache.
Von Armin Pfahl-Traughber
In den gegenwärtigen israelfeindlichen Diskursen findet sich immer häufiger das Schlagwort von einem angeblichen „Siedlerkolonialismus“. Dabei geht es aber keineswegs primär um das durchaus kritikwürdige Agieren von einschlägigen Siedlern, meint doch hier „Siedlerkolonialismus“ den ganzen jüdischen Staat. Einschlägige Ansätze dazu werden der Forschungsrichtung der „Settler Colonial Studies“ zugerechnet, welche an Hochschulen in den USA größere Verbreitung gefunden haben. Insbesondere im Kontext des „Post-Kolonialismus“ kommt ihnen hohe Relevanz zu. Dabei lassen sich indessen schnell Aktivismus und Ideologie konstatieren, beides überlagert allzu häufig Selbstkritik und Wissenschaftlichkeit. Darauf macht eine neue Buchveröffentlichung aufmerksam, die endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt: Adam Kirschs „Siedlerkolonialismus. Ideologie, Gewalt und Gerechtigkeit“, eine kritische Einführung in die gemeinte Richtung, wozu der Autor insbesondere ideologiekritische Betrachtungen an konkreten Fällen vorlegt.
Den Anlass boten die israelfeindlichen Demonstrationen an amerikanischen Hochschulen, welche die Hamas-Massaker als legitime Widerstandshandlungen huldigten. Der Autor sieht darin eine Folge bzw. Konsequenz eines behaupteten „Siedlerkolonialismus“. Ihm geht es aber nicht nur um die Analyse dieses gegenwärtigen Diskurses, soll doch der ganze Ansatz einer ideologiekritischen Erörterung unterzogen werden. Dies geschieht mit leichter Hand im essayistischen Sinne, aber ohne dabei in Polemik oder Unverbindlichkeit abzugleiten. Der Autor beabsichtigt auch nicht, staatliche Gründungsakte unkritisch zu legitimieren. Vielmehr sollen problematische Deutungen zur Entstehung von Israel wie den USA untersucht werden. Dabei geht es um das Besondere an der Ideologie des Siedlerkolonialismus, welche „uns einen neuen Syllogismus anträgt. Wenn Besiedlung eine genzoidale Invasion und diese wiederum eine andauernde Struktur und kein abgeschlossenes Ereignis ist, dann ist alles, was eine Siedlergesellschaft heute stützt (…), ebenfalls genozidal“ (S. 37f.).
Darüber hinaus erfolge bei einschlägigen Darstellungen eine Idealisierung der gemeinten Indigenen, einhergehend mit einer Fixierung auf eine angeblich bessere Vergangenheit von Völkern. Hier besteht auch eine Differenz zu progressiver Kritik, was über einen vergleichenden Blick auf Martin Luther King veranschaulicht wird. Ihm ging es um Bürgerrechte und Gleichstellungen in der realen Politik, nicht um ahistorische Träume von einer imaginierten Vergangenheit. Ohnehin sind die Denkweisen des Diskurses über „Siedlerkolonialismus“ gar nicht so fortschrittlich, weisen sie doch zu rechten Denkweisen von kollektiver Identität strukturelle Gemeinsamkeiten auf. In einer nur kurzen Anmerkung verweist der Autor etwa auf den Nationalismus der deutschen Romantik, der von der Verwurzelung der Völker ausging. Aber auch darüber hinaus würden in den Darstellungen historische Ereignisse häufig so hingebogen, dass sie in das vorgegebene Deutungsmuster der Ideologie passten.
Dies zeige auch das Geschichtsbild von Israel: Dabei müssten doch die Juden als eigentliche Ureinwohner gelten, was dann aber als Einsicht nicht in den „Settler Colonial Studies“ geteilt wird, würden sich daraus doch fundamentale Fehleinschätzungen für deren Gegenwart ergeben. Stattdessen fordert man mit aktivistischem Ansatz eine „Dekolonialisierung“ ein, was dann auf eine Auflösung von Israel hinauslaufen würde.
Kirsch macht auch immer wieder auf die Konsequenzen der referierten Kritik aufmerksam: „Der Ideologie des Siedlerkolonialismus sollte die Unmöglichkeit, sich eine dekoloniale Zukunft konkret vorzustellen, eine Warnung sein“ (S. 163). Derartige Ansätze beschwören für Kirsch die Sehnsucht nach einer erlösenden Zerstörung. Aufmerksamkeit für vergangenes Unrecht solle kein zukünftiges Unrecht verursachen. Insofern hat man es mit einem differenzierten Blick auf die Ideologie des „Siedlerkolonialismus“ zu tun, ausgerichtet an vielen Beispielen aus dem amerikanischen Diskurs, der aber auch in Deutschland immer mehr unkritische Nachahmer findet, wie ein lesenswertes Nachwort veranschaulicht.
Adam Kirsch, Siedlerkolonialismus. Ideologie, Gewalt und Gerechtigkeit, herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Bildung, Edition Tiamat 2025, 180 S., Euro 22,00, Bestellen?