Die Bewohner des Gaza-Umlands sprechen immer davon, dass ihr Zuhause zu 99 Prozent der Zeit ein Paradies gewesen sei. Jetzt im Frühjahr strotz die Gegend von sattem Grün und blühenden Bäumen, es riecht nach Kiefern und Blüten, Wiesen, Felder und Bäume wogen in sanftem Wind. In Nir Oz sieht man blühende Sträucher vor verkohlten Ruinen. Denn Nir Oz ist noch immer weitgehend zerstört, auch 18 Monate nach der Katastrophe.
Von Andrea Livnat
Nir Oz, 1955 gegründet, hat mit Terror leider viel Erfahrung. Die Gemeinschaftssiedlung, die von der Landwirtschaft, Tourismus und einer Farbenfabrik lebte, war oft genug Ziel von Raketenangriffen, Landwirte arbeiteten oft nachts, um nicht von Scharfschützen in Gaza erfasst zu werden. Nichts hat die Menschen aber auf das vorbereitet, was am 7. Oktober geschah.

Wie fast im ganzen Land begann der Terror am 7. Oktober um 6.29 Uhr mit Raketenalarm in Nir Oz. Hamas, Islamischer Jihad, andere Terrorgruppierungen, aber auch Zivilisten aus Gaza, fielen in den Kibbutz ein. Um 13.30 Uhr, nach sieben Stunden des Mordens, Brandschatzens und Plünderns verließen die letzten Terroristen den Kibbutz. Erst 45 Minuten später trafen zwei Fahrzeuge der Grenzpolizei in Nir Oz ein. Jeder Vierte der 400 Bewohner wurde ermordet oder entführt. 75 Menschen wurden lebend aus Nir Oz entführt, unter ihnen auch zwölf ausländische Arbeiter.
Auf den verschlungenen Wegen durch den Kibbutz kommen wir an den Häusern jener vorbei, deren Geschichten und Schicksale wir in den letzten Monaten kennengelernt haben. Wie die Familie Kedem-Siman Tov. Tamar und Jonathan „Johnny“ versuchten die Tür ihres Schutzraums zu halten, eine Tür, die nicht schusssicher ist. Die jungen Eltern starben durch Schüsse der Terroristen. Ihre drei Kinder Schachar, Arbel und Omer waren da noch am Leben. Sie starben durch den eindringenden Rauch. Die Terroristen hatten das Haus angezündet.

Das Haus der Familie Bibas, die zum weltweiten Symbol der unfassbaren Grausamkeit wurde, die auch vor Babys keinen Halt machte. Zurückgekehrt ist nur Yarden Bibas, der sich den Terroristen stellte, in der irrigen Annahme, damit seine Familie zu schützen.

Renana Gome, die uns durch den Kibbutz führt, zeigt uns ihr Haus, aus dem ihre beiden Söhne Or und Yagil, damals 16 und 13 Jahre alt, entführt wurden. Sie waren alleine zuhause. Im Kibbutz nichts besonderes, ihr Vater lebte nur wenige Hundert Meter entfernt. Renana war am Telefon mit den beiden als die Terroristen eindrangen und sie mitnahmen. Sie hörte Yagil noch sagen: „Ihr könnt mich nicht mitnehmen, ich bin noch zu klein“. Sie geht mit uns den Weg, den die Terroristen mit ihren Söhnen auf Motorrädern nahmen. Ein Weg durch ein Kriegsgebiet. Alles ist verbrannt, Häuser, Bäume. Die beiden mussten annehmen, dass es keinen Kibbutz mehr gibt. Auch das Haus ihres Vaters Yair und seiner Lebensgefährtin Meirav ist halb zerstört. Yair wurde durch die Tür des Schutzraums angeschossen. Die Terroristen sprengten schließlich den Eingang und nahmen Meirav mit. Yair, so stellte sich später heraus, überlebte den Tag nicht, seine Leiche wird weiter in Gaza festgehalten. Or, Yagil und Meirav kamen nach 50 Tagen frei.
Wie geht es den Jungs, frage ich Renana, und wie wird es weitergehen? Werdet Ihr zurückkommen nach Nir Oz? Yagil, so erzählt sie, will auf jeden Fall zurück, für ihn ist das keine Frage. Ein starker Junge, ein Junge, der aus dem Holz seines Kibbutz geschnitzt zu sein scheint.
Die Stärke des Kibbutz ist auch im Gespräch mit Gadi Moses so deutlich zu spüren. Der 81Jährige kam am 30. Januar diesen Jahres frei, nach 483 in Gaza. Gadi hat in einem ausführlichen Interview, Ausschnitte sind mit englischen Untertiteln verfügbar, über die Geiselhaft und die inszenierte Freilassung berichtet. Ein beeindruckender Mann, ein bescheidener Held.
Das Treffen mit Gadi war nicht geplant. Als er aber hört, dass wir mit Gadis Nichte Efrat Machikawa, die uns gemeinsam mit Renana durch den Kibbutz führt, vor seinem Haus stehen, kommt er gleich vorbei. Auch wenn seine Freilassung erst knapp zwei Monate her ist, Gadi ist bereits intensiv mit dem Wiederaufbau des Kibbutz beschäftigt. Und er will uns sein Haus zeigen. Es ist relativ unversehrt, denn als am 7. Oktober die Terroristen eindrangen, stellte er sich ihnen, in der Hoffnung, dass seine Lebensgefährtin Efrat, deren Tochter Doron und die beiden Enkelinnen Raz und Aviv, 4 und 2 Jahre alt, verschont bleiben. Efrat wurde wahrscheinlich während ihrer Entführung durch den Beschuss eines israelischen Hubschraubers getötet. Doron und die beiden Mädchen wurden nach Gaza entführt und kamen nach 48 Tagen frei.

Am meisten beeindrucken uns die Menschen an diesem Tag im Kibbutz. Menschen, die in Frieden leben wollten, in Koexistenz, die sich aktiv für ein friedliches Miteinander mit ihren palästinensischen Nachbarn engagierten. Menschen, die auch heute noch, nach dem Unfassbaren, versuchen, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken und von der Kraft der Gemeinschaft überzeugt sind.

In viele der Kibbutzim im Gaza-Umland, die am 7. Oktober von Hamas-Terroristen überfallen wurden, sind die Bewohner mittlerweile zurückgekehrt. Alle müssen sich dabei die Frage stellen, wie sie an das Massaker erinnern wollen. In Nir Oz sieht es noch immer so aus, als ob das Feuer gerade erst gelöscht wurde. Zu groß und zu umfassend ist die Zerstörung, zu viele Menschen wurden hier ermordet. 60 % aller Häuser in Nir Oz wurden während des Angriffs niedergebrannt und bis zu 80 % schwer beschädigt. Der Wiederaufbau wird noch lange dauern.
Vor allem aber kann ein Neuanfang, ein Aufarbeiten nicht beginnen, wenn noch immer Kibbutzbewohner in Gaza gefangen gehalten werden. 13 Geiseln aus Nir Oz sind noch in Gaza, vier von ihnen sind am Leben: Ariel und David Cunio, Eitan Horn und Matan Zangauker.
–> Der Bericht der All Party Parliamentary Group UK-Israel listet die Ereignisse in Nir Oz genau auf.
–> Hilfe kommt übrigens auch aus Deutschland. In wenigen Tagen werden wieder Freiwillige der „Solidaritätspartnerschaft Bergisch Gladbach – Nir Oz e. V.“ erwartet, die diesmal den Pool im Kibbutz neu bauen helfen. Mit Spenden an den Verein können Sie den Kibbutz Nir Oz beim Wiederaufbau unterstützen. Mehr unter: https://www.bgl-niroz.de/