Eine Unterhaltung mit dem israelischen Künstler Micha Ullman
Von Christel Wollmann-Fiedler

Vor Jahren – es muss wohl 2012 gewesen sein – begegnete ich Ihnen in der St. Matthäus-Kirche in Berlin bei der Übergabe und Einweihung Ihrer Bodenskulptur „Stufen“, die Sie gelegt hatten. Seitdem hege ich den Wunsch mit Ihnen ein Gespräch führen zu dürfen. Die schreckliche Geschichte der Bücherverbrennung in Deutschland, in Berlin, durch die Horden der SA, der SS und der Hitlerjugend ist mir bekannt. Auch Professoren der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität und Studenten des Nationalsozialistischen Studentenbundes in der Nazizeit im Jahr 1933, am 10. Mai, auf dem damaligen Kaiser-Franz-Joseph-Platz, auch Opernplatz genannt, dem heutigen Bebelplatz, waren an der schrecklichen Vernichtungsarie dabei.
Heinrich Heines Aussage von 1820 könnte nicht passender sein, fast eine Ahnung, was 113 Jahre später passiert ist in Deutschland.
Das war ein Vorspiel nur, dort
wo man Bücher verbrennt,
verbrennt man am Ende auch Menschen.“
Heinrich Heine 1820

Ihre leeren Bücherregale unter dem Asphalt des Platzes lernte ich kennen unweit der katholischen St. Hedwigs-Kathedrale. Ihre tiefsinnigen künstlerischen Ideen beeindrucken mich immer wieder. Vor Tagen erzählten Sie in der Mendelssohn-Remise in der Berliner Jägerstraße über die Entstehung Ihrer Bildhauerarbeit aus Kalkstein, Letters of Light, die neben der Neuen Nationalbibliothek und Knesset in Jerusalem seinen Platz hat. Ich konnte nur wenig verstehen, da Hebräisch nicht meine Sprache ist, doch die Licht- und Schatteneinfälle und Spiegelungen zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten verstand ich.

Jerusalem habe ich oft besucht, doch diese wunderbare Arbeit kenne ich noch nicht. Das Kunstwerk wurde im Oktober 2023 aufgestellt, doch die offizielle Einweihung konnte wegen der Katastrophe am 7. Oktober noch nicht stattfinden. Das nächste Mal in Jerusalem werde ich die Buchstaben-Skulpturen bewundern und sie fotografieren.
Doch bevor ich Sie nach dem Jerusalemer Buchstabenfeld frage, möchte ich ein wenig über Sie erfahren. Sehr bekannt sind Sie, international bekannt. Ihre Arbeiten sind verteilt in vielen Regionen Deutschlands, Europas, in Asien und Australien, in den USA und natürlich in Israel, stehen im Freien, im öffentlichen Raum, sind in Museen und Archiven und anderswo aufgenommen worden. Kunstpreise jeglicher Art bekamen Sie, ebenso den Israel Preis. Ihr Ausstellungskatalog ist so umfangreich, dass er viele Seiten in Anspruch nehmen würde.
Sie wurden in den 1930er Jahren in Tel Aviv geboren als in Deutschland die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begann. Ihr Name klingt nicht Hebräisch. Er könnte ein deutscher oder skandinavischer sein. Woher kommen Vater und Mutter, woher kommen die Großeltern?
Die Mutter kommt von Mannheim, der Vater von Dorndorf, das ist ein Dorf in der Nähe von Stadtlengsfeld und Martinroda in Westthüringen, kurz vor der Hessischen Grenze, nicht so weit von Eisenach entfernt. Von dort kommt Vaters Familie.
Woher die Großeltern kamen, wissen wir nicht so genau. Die Legende sagt, dass er als Händler über die Dörfer ging. In Dorndorf hatte er einen großen Laden. Im Dorf waren sie die einzige jüdische Familie. Der Großvater der mütterlichen Familie ist von Heidelberg, das ist fast sicher.
Wo haben sich die Eltern kennengelernt?
1933 sind sie nach Palästina emigriert. Das Zitat von Heinrich Heine aus dem Jahr 1820 „Das war ein Vorspiel, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“, müssen meine Eltern als Warnung wahrgenommen haben. Kurz nach der Bücherverbrennung 1933 muss es gewesen sein, dass sie Deutschland verlassen haben. Sie haben sich beim Hebräischunterricht in Palästina in einer Schule kennengelernt und verliebt. Beide waren schon in einem Alter von 30 Jahren, nicht so jung. 1934 haben sie geheiratet. Ich wurde 1939 geboren, mein Bruder 1935 und meine jüngere Schwester 1947.
Haben Sie mit Ihren Eltern Deutsch gesprochen, Hebräisch, Jiddisch?
Die Eltern haben viel Deutsch miteinander geredet. Sie haben Hebräisch gelernt, es wurde auch immer besser, aber nie richtig gut. Ich habe Deutsch gehört, natürlich auch Hebräisch, aber nie Deutsch geantwortet. Das wäre für mich eine Schande gewesen, wenn Kinder, meine Freunde, Deutsch geredet hätten. Das war typisch, nicht nur für mich. Meine Eltern aus Deutschland sprachen miteinander Deutsch, auch die polnischen Eltern sprachen ihre Sprache und auch die orientalischen sprachen Arabisch miteinander. Wir Kinder haben Hebräisch gesprochen. Als ich nach Deutschland kam, habe ich nie Deutsch geredet, doch als ich später in Deutschland unterrichtete merkte ich, dass die Studenten kein Englisch können. Ich war gezwungen, Deutsch zu lernen. Die Wörter wurden aus dem Mund gezogen, wie mit einem Kran. Es war sehr schwierig am Anfang. Doch dann ging es leichter. Ich hatte die Sprache irgendwie im Kopf. Sie merken, mein Deutsch ist nicht perfekt, doch es ist kein Deutsch von einem Engländer oder Italiener, es hat etwas mit den Spuren zu tun.
Ich kenne einige Juden, die Deutsch ein wenig Jiddisch aussprechen…
Nein, in meiner Familie wurde kein Jiddisch gesprochen, nur Deutsch.
In einer sehr interessanten Stadt, in Jaffa-Tel Aviv, mit den meisten Bauhausarchitekturen der Welt, sind Sie geboren worden. Sind Sie dort auch zur Schule gegangen?
Ja, und als ich zehn Jahre alt war sind wir nach außerhalb der Stadt gezogen, heute gehört der Ort zu Tel Aviv, nördlicher von Tel Aviv und noch ein paar Kilometer weiter nördöstlich ist Ramat Hasharon, eine kleine Stadt, in der ich wohne.
Wann haben Sie sich für Bildhauerei interessiert und wollten selbst dieses künstlerische Handwerk erlernen?
Relativ spät. Ich habe immer gezeichnet, dann auf der Kunstschule auch gemalt, Zeichnungen, Graphiken, Radierungen und Malerei. Mit 30 habe ich begonnen zu graben und später hat man das Bildhauerei genannt. Es war zufällig. Ich habe mit Erde gearbeitet, eigentlich bis heute. Die Grube auf dem Bebelplatz in Berlin, ist das bekannteste Werk von mir.
An welcher Kunstschule haben Sie studiert?
Das war an der Bezalel-Akademie für Kunst und Design in Jerusalem, wo ich vier Jahre studiert habe, dann ein Jahr in London als post graduate an der Central School for Arts and Crafts, insbesondere Radierung und Graphik. 1970 habe ich angefangen zu lehren, in der Bezalel Akademie für acht Jahre, dann noch sechs Jahre in Haifa in der Fine Arts Section an der Univertsität Haifa und in der Architecture and Town Planning am Technion in Haifa. 1991 bekam ich eine Professur in Stuttgart an der Akademie der Künste. 14 Jahre habe ich dort gelehrt. Ich wohnte nie richtig in Deutschland, war eigentlich immer am Hin- und Herfahren, Deutschland – Israel – Deutschland. Mit einem DAAD Stipendium kam ich 1989 nach Berlin und wohnte mit der Familie ein Jahr in der Stadt. Zwei Jahre später hat man mich für Stuttgart entdeckt, es war ein großer Wettbewerb, 50 Bewerber und ich war der letzte.
Vierzehn Jahre waren Sie Professor an der Stuttgarter Kunstakademie von 1991 bis 2005. Dann konnten Sie in Deutschland ihre künstlerischen Ideen umsetzen. Wie kam das zustande?
Das sind Kunstprojekte. Ich habe sie nicht genau gezählt. Es sind nicht wenige, aber nicht nur in Deutschland. Im Laufe meiner Lehrzeit war ich aktiv. Es funktioniert in Deutschland mit Wettbewerben. Ich habe einige gewonnen, auch in Berlin, die Arbeit auf dem Bebelplatz. Es ist die bekannteste überhaupt. In Stuttgart sind fünf Werke zu sehen, in Berlin werden es auch fünf sein und in Heidelberg eine Arbeit, in verschiedenen Orten, auch in Bamberg. Ein bis zwei in Lodz in Polen, eine Arbeit in Melbourne in Australien, zwei in Japan in Tokyo und Sabae, nicht weit von Kyoto. In Frankreich eine Wand in der Israelischen Botschaft in Paris und in der Kunstakademie in Nimes in Südfrankreich. In Finnland in Turku und in Italien in Rom. Das sind die wichtigsten Bildhauerarbeiten. In Israel gibt es natürlich auch viele Werke. Vielleicht gibt es in Deutschland sogar noch mehr. Ich habe das nicht so genau gezählt.
Noch kurz eine Zwischenfrage. Ich las in einer Zeitung, dass Sie vor Jahren einen Sack mit Kali nach Israel haben bringen lassen, der aber vom Zoll nicht ausgeliefert wurde. Haben Sie den Sack überhaupt bekommen?
Ah, ja, das stimmt. Es hat nicht funktioniert. Ich erinnere mich: Ich wollte Kali und Basalt für ein Projekt haben, das hat aber nicht funktioniert. Aus Sicherheitsgründen ging das nicht, weil Kali explosiv ist. Der Zoll hat das nicht zugelassen. Dann habe ich Basalt aus Israel genommen. Das Kunstwerk „Bergwerk“ war ausgestellt in der Evangelischen Erlöserkirche in Ost-Jerusalem. Eines von sieben Werken in Basalt. Der Berliner Galerist Alexander Ochs hat das organisiert. Das war die gleiche Arbeit, die ich im Altenburger Lindenau-Museum in Ostthüringen ausgestellt habe mit Kali und Basalt. Das sind rohe Materialien. Die Inspiration kam durch die Kaliberge in der Umgebung von Dorndorf. Das war der Grund für dieses Material.

Ich arbeite am meisten mit Erde, in anderen Ländern auch mit lokaler Erde. In der Dorndorfer Region ist es Kali.
Sind Ihre Ideen philosophische Erkenntnisse oder korrespondieren Sie mit der Natur? Kommen die Ideen aus der Thora, der Bibel oder dem Koran oder vielleicht aus der Mythologie? Oder sind es spirituelle Gedanken oder schlichte Ideen, die dem Bildhauer Micha Ullman im Kopf schweben?
Zu allen kann ich Ja sagen. Das kommt von mehreren Richtungen. Ich würde sagen nicht philosophisch, auch nicht theoretisch, ich bin kein Philosoph. Aber man hat in meinem Werk manchmal philosophische Tendenzen entdeckt. Es kommt aus verschiedenen Richtungen parallel, gleichzeitig. Bei mir zum Arbeitsprozess passiert viel im Kopf. Fantasie, Intuition, Träume, alles was im Kopf passieren kann. Am Anfang gehe ich zu dem Ort und zu dem Material, dann beginnt theoretisch ein Dialog mit dem Material und dem Ort. Die Theorie im Kopf entwickelt sich langsam, wie in einer Schwangerschaft, im Laufe von Monaten, manchmal von Jahren. Zum Arbeitsprozess kann ich das ungefähr so sagen. Der Dialog bedeutet für mich erst einmal zuhören. Was sagt mir der Ort. Mit den Augen hören. Im Laufe der Jahre gibt es eine Entwicklung, nicht nur was ich sehe, sondern auch was ich denke oder was ich weiß. Auch von dieser Richtung kommen Elemente. Das trifft sich mit dem Ort, der hat viel zu sagen. Beispiel Bebelplatz, sehr viel Charakter und Geschichte hat er selbst und die Erinnerung daran. Das spielt eine große Rolle, und was ich im Kopf habe, und was ich mit mir bringe in meinem Rucksack. Der Bebelplatz ist ein sehr gutes Beispiel. Ich wollte eine Grube machen an diesem Ort.
Ich habe 1970 angefangen zu graben, Grubenskulpturen. Auch in Deutschland, auf der Biennale Venedig in Italien, auf der documenta8 + 9 in Kassel waren es Gruben. Ich dachte das wäre der richtige Weg. Auf der Istanbul Biennale war es keine Grube.
Ich kam zu dem Ort in Berlin, habe viel gelesen, viele Bücher über die ganze Geschichte des Ortes (Bebelplatz in Berlin) und sah nach dem Regen die Pfützen. Dann sah ich, dass die Pfützen die Umgebung reflektieren, die Wolken erscheinen wie Rauchschwaden nach einem Feuer. Wenn man tagsüber auf die Glasscheibe sieht, erkennt man die Spiegelungen bei jedem Wetter. Die Wolken kann man als Rauch sehen. So brennt die Bibliothek in Berlin fast jeden Tag. Das ist symbolisch und ein wenig poetisch. Doch man sollte das so verstehen. Im März 1995 wurde diese leere unterirdische Bibliothek eingeweiht.

In dem Gedicht von Paul Celan in der Todesfuge aus dem Jahr 1944/45 ist zu lesen …wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng…
Ich meine, man sieht eigentlich, was man will. Die Fantasie wird angeregt, vielleicht zu einem poetischen Denken. Vorhin haben Sie bereits das Gedicht von Heinrich Heine erwähnt
„Das war ein Vorspiel nur, dort
wo man Bücher verbrennt,
verbrennt man am Ende auch Menschen.“
– Heinrich Heine 1820
Meine Eltern haben 1933 nach der Bücherverbrennung das Gedicht von Heinrich Heine als Signal verstanden und sind nach Palästina gegangen.
Auch die deutsche Flagge spiegelt sich in dem Glas auf dem Bebelplatz, auch das Kreuz auf der St. Hedwigs-Kathedrale oder der Betrachter sieht sich selbst. Das hat mich zu dem Glas geführt, das die Grube bedeckt. Dann kam die Idee von der Leere, auch die Leere ist bei mir richtig zentral in meinem ganzen Werk. Das kommt von der Leere jeder Grube. Von der kleinsten Grube bis zur größten. Je tiefer die Grube ist, desto mehr Himmel haben wir. Dann hat sich alles vermischt zu diesem Resultat. Das hat viele Gründe, die kamen aus allen Richtungen. Von der Humboldt Universität kamen die Studenten und Professoren mit ihren Vorschlägen und Ideen. So baut sich etwas Schritt für Schritt auf. Das ist mehr oder weniger der Prozess.
Haben alle Ihre künstlerischen Werke, die Sie angefertigt haben, mit dem Holocaust zu tun?
Nein, überhaupt nicht. Ich würde es fast umgekehrt sagen. Ich habe es nicht genau gezählt, wie viele Denkmäler und Skulpturen es sind. Es sind wohl mehr als 70 ortsbezogene Skulpturen, die ich in verschiedenen Ländern gemacht habe, davon 4 Denkmäler.
Aber mein Maßstab ein Denkmal zu entwickeln, es soll ein selbständiges Kunstwerk werden. Das steht für sich selbst. Das ist meine Prüfung. Das bedeutet, es stimmt mit dem ganzen menschlichen Leben überein. Jedes Kunstwerk beschäftigt sich mit dem Leben und dem Tod von Menschen. So oder so gibt es unendliche Möglichkeiten. Wenn dieses Kunstwerk diese Prüfung besteht, dann gibt es mir die Hoffnung, dass es richtig sein könnte, was man von diesem Kunstwerk will. Natürlich erst einmal die künstlerische Qualität, das ist ein Wunsch. Jeder macht das Beste, was er kann. Das ist mein Maßstab bei allen Kunstwerken, ich will das vorsichtig formulieren, aber ich denke das ist der Maßstab von allen Künstlern. Sie gehen kunstbeschäftigt mit dem Tod um. Nicht direkt, aber zum Beispiel eine Vase mit Blumen. Es gibt unendliche Möglichkeiten, so van Gogh. Blumen von van Gogh sind auch ein Denkmal. Aber man nennt es nicht so.
Denkmal bedeutet Erinnerung mit sehr vielen Elementen aus dem Leben und der Erinnerung des Künstlers, der das Werk geschaffen hat.
Einiges hat mit dem Holocaust zu tun und haben mit der Erinnerung zu tun. Unter der Erde, im Verborgenen liegen einige Arbeiten von Ihnen. Warum?
Ich habe keine Erklärung. Es hat sich so entwickelt. Im Alter von dreißig waren es Gruben. Die Grube ist vielleicht eine Form, die ich bis heute nicht verstehe. Es bleibt immer ein Geheimnis, es ist elementar. Die Leere, Erde, Luft, das zieht mich immer weiter von Werk zu Werk. Im Laufe der Jahre war ich mehr interessiert an der Leere der Grube als an der Erde selbst. Das bedeutet, dass die Erde die Form von der Luft definiert. Die Leere ist am Bebelplatz passiert. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich habe einen Vortrag am letzten Donnerstag in Berlin gehalten. Sie waren in dem Vortrag, haben nicht viel verstanden, aber sie haben Buchstaben gesehen. Aber die Buchstaben waren nicht die Steine, sondern der Zwischenraum zwischen den Steinen.
Über die Buchstabenskulptur in Jerusalem würde ich gerne mehr erfahren. Haben Sie mit dem Kalkstein gearbeitet, der in Israel wächst und für Bauwerke im gesamten Land verwendet wird?
Alle Steine, Kalksteine und Dolomit gemischt gibt es in fast ganz Israel, sehr wenig Granit haben wir in diesem Land. Das ist typisch für Israel. Ich habe ein Jahr lang Wüstensteine gesucht, und habe sie auch gefunden in einem großen Steinbruch bei Mitzpe Ramon, in der Mitte vom Negev.
Der Grund für dieses Denkmal war die hebräische Sprache, die mir sehr nah ist. Das Wort für Wüste in Hebräisch heißt Midbar und Reden, Reden ist Dibur. Diese Verbindung war für mich konzeptuell wichtig. Es hat mit Reden zu tun. Das Werk insgesamt ist für mich Aufschreiben und vorher Reden. Ich kann erklären, was dahinter steckt. Die Sprache hat mehr Schichten. Die geologischen Schichten der Steine und die kulturellen Schichten der Steine. Für mich war der Hinweis auf das Alte Testament und die Geschichten, die dazu gehören. Moses zieht mit dem Volk der Israeliten 40 Jahre durch die Wüste bis sie Reden gelernt haben und erzählen konnten, was dort auf dem großen Berg Sinai geschieht. Solche Geschichten haben Einfluss auf diese Steine.
Ich habe Bilder von Ihnen gesehen in der letzten Woche in der Mendelssohn Remise. Das Kunstwerk in Jerusalem nennen Sie „Letters of Light“. Die Fotos mit Licht und Schatten konnte ich auch ohne die hebräische Sprache verstehen. Ich weiß, wie Licht und Schatten zu verschiedenen Tageszeiten und auch Jahreszeiten entstehen. Erzählen Sie mir bitte, wie Sie das gesehen haben.
Man kann dieses Kunstwerk als Sonnenuhr mit Buchstaben bezeichnen. Das Kunstwerk selbst ist gebaut mit den 22 Buchstaben der hebräischen Schrift und den lateinischen und arabischen Buchstaben. Diese 22 hebräischen Buchstaben dienen als Grundlage für die hebräische Sprache von der Antike bis zur Gegenwart. Mit ihnen können alle Wörter ausgesprochen oder geschrieben werden. Das Werk ist eine skulpturale Umweltarbeit aus Stein, Licht und Schatten, das über und unter der Erde angeordnet ist.
Die Inspiration für dieses Werk stammt aus dem alten Buch Sefer Yetzira, das alte biblische „Buch der Schöpfung“, das die Erschaffung der Welt mit zweiundzwanzig hebräischen Buchstaben beschreibt. Das zentrale Thema des Werkes ist der Klang der Aussprache der unterschiedlichen Buchstaben, das sich auf die Erfindung des alten Alphabets stützt, das Zeichen für Laute bereitstellt. Die Erfindung des A-B-C Alphabetsystems, das Buchstabenzeichen zur Darstellung von Klängen zuordnet.
„Zweiundzwanzig Grundbuchstaben sind im Klang der Stimme eingraviert, vom Atem geschnitzt, im Mund fixiert an fünf Stellen: Aleph, He, Chet, Ein im Hals, Gimel, Jod, Chaf und Kuf im Gaumen, Dalet, Tet, Lamed, Nun, Taf in der Zunge. Zayin, Samech, Shin, Resch, Zadiyk in den Zähnen. Bet, Vav, Mem, Pe in den Lippen (Buch der Sefer Yetzira, 3,3)
Im Garten des Gebäudes befindet sich der obere Teil der Skulptur. 18 Steine, die in einem Kreis angeordnet sind. Die Höhe jedes Steins entspricht der einer menschlichen Figur. Die stehenden Steine sind einander zugewandt und bilden ein sich drehendes Rad. Die Anordnung der Buchstaben in diesem Rad basiert auf Gruppen von Buchstaben entsprechend ihrer Position im Mund.

Die Buchstaben erscheinen in den Lücken, die zwischen den Steinen eingemeißelt sind. Die Buchstaben entstehen aus den Zwischenräumen der Steine. Das sind „fehlende“ Buchstaben, durch die das Sonnenlicht dringt und einen Schatten auf den Boden wirft. Die Buchstaben des Lichts erscheinen zwischen den Schatten der Steine. Die Buchstaben verlängern und verkürzen sich, öffnen und schließen sich, je nach Stand und Höhe der Sonne während des Tages und der wechselnden Jahreszeiten.
Der Betrachter kann durch die Lücken zwischen den Steinen mit seinem eigenen Schatten hindurchgehen und so an der Schrift mit Licht und Schatten teilnehmen.
In der Mitte des Steinkreises, zur unteren Kammer hin, sind drei Glasfenster in den Boden eingelassen. Die Form der Fenster entspricht dem ersten Buchstaben der drei Sprachen: das arabische Alif, das nach Osten zeigt, das hebräische Aleph, das nach Norden weist, und das lateinische A, das nach Westen gerichtet ist. Diese drei Sprachen haben einen gemeinsamen linguistischen Ursprung, der es ermöglicht, dass alle drei Sprachen den gleichen Klang haben.
In der unteren Kammer der Skulptur gibt es einen unterirdischen Gang, in dem drei kehlige Buchstaben in ihrem tiefen Klang in die Wände eingraviert sind. Der Gang führt in den zentralen Raum in dessen Decke man drei Fenster sehen kann. Jedes Fenster hat die Form eines Buchstabens in drei Sprachen mit dem Klang „Ah“, wenn die Kehle ganz geöffnet ist. Wenn man nach oben schaut, sieht man den gleichen Himmel.
Das durch die Fenster einfallende Sonnenlicht erzeugt ein tägliches Lichtspiel der drei Buchstaben und lässt die drei Buchstaben täglich neu erscheinen, wobei sich ihre Form je nach Sonnenstand von morgens bis abends und im Wechsel der Jahreszeiten verändert. Kleine Lichtflecken am Morgen an der westlichen Wand des Raumes werden mittags zu großen Buchstaben und verschwinden am Abend. Die sich verändernde Form der Buchstaben im Raum ist eine visuelle Parallele zur Aussprache der Buchstabenlaute im Mund. Man sieht die Laute. Dieser Raum kann als Mund gesehen werden, der die Laute der Buchstaben hervorbringt, oder als Gebärmutter, in der die Buchstaben vor ihrer Geburt geschaffen werden. Die Sprache wird jeden Tag aufs Neue geboren.
Der Kreis ist eine astronomische Grundform. Das sich drehende Rad kann auch die Form eines sich um die eigene Achse drehenden Buches haben. Die flachen Steine können wie die Seiten eines Buches aussehen. Der tägliche Schatten, der sich morgens im Westen befindet, bewegt sich mittags mit den Buchstaben nach Osten, als würde man Seite für Seite von Westen nach Osten umblättern. So wird eine Verbindung zwischen der Sprache und der universellen Natur hergestellt. Die drei zentralen Buchstaben, die denselben Klang erzeugen, veranschaulichen die Verbundenheit zwischen den Sprachen, den gemeinsamen menschlichen, kulturellen und religiösen Nenner im Geist der Propheten.
Die „fehlenden“ Buchstaben bestehen aus Luft, dem Material, das die Sprache in allen Sprachen ermöglicht und der Schrift vorausgeht. Durch die Bewegung des Betrachters entsteht eine wechselnde Komposition aus Kombinationen, Formen und Schatten. So wird der Betrachter mit seinem Schatten zu einem aktiven Teil des Werkes. Von der Mitte des Kreises aus betrachtet, verschwinden alle Steinbuchstaben und es bleibt nur der Schatten der Buchstaben zurück.
Die Buchstaben werden als ein offenes System von Lücken, Licht- und Schattenräumen zwischen Menschen und Zeiten, zwischen Materie und Geist, zwischen Geist und Klang, zwischen Sprache und Handlung, zwischen Sein und Leere gesehen. „Er schuf wirklich aus dem Nichts und machte das Nichtsein zu etwas, und er schlug große Säulen aus der Luft, die nicht zu fassen sind.“ (Buch Mischna 6,2)
Das ist eine Einladung zum Entdecken, und zum langsamen Verstehen. Wie so etwas passiert, auch für Leute, die Hebräisch können.
Wie sind Sie zu dem letzten Skulpturenprojekt in Jerusalem gekommen. War das eine Ausschreibung?
2013 habe ich einen Telefonanruf bekommen von dem Leiter der Nationalbibliothek, David Blumberg. Ich kannte ihn bereits. Er hat mich nach Jerusalem eingeladen und zusammen gingen wir zu dem Ort. Er sagte mir: „hier haben wir die Vision an diesem Ort die neue Nationalbibliothek zu bauen. Wir wollen von Dir hier ein Kunstwerk. Du hast in Berlin eine leere Bibliothek gemacht. Wir wollen hier von Dir eine volle Bibliothek haben.“ Das war der Anfang für mich.
Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen eine ruhigere Zeit in Ihrem Land Israel und gute Gesundheit.