
Der folgende Beitrag stammt aus der Feder von Oliver Rácz (1918 – 1997), einem ungarischsprachigen Schriftsteller, Erzähler, Lyriker und literarischer Übersetzer aus der Slowakei und ehemaligen Tschechoslowakei. 2019 wurde er posthum für seine Rettungsaktionen von Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern geehrt. Der Beitrag wurde ursprünglich 1995 unter dem Titel „50 Jahre nach der Befreiung der Vernichtungslager“ veröffentlicht. Katarina Loksa, Enkelin von Oliver Rácz, hat ihn nun ins Deutsche übertragen.
Meine Schwiegermutter war eine sehr schöne Frau
Von Oliver Rácz
Meine Schwiegermutter war eine sehr schöne Frau.
Jung und von natürlicher Schönheit: Ihre Tochter war fünfzehn, als ich mich unsterblich in sie verliebte. Ich war siebzehn.
Meine Schwiegermutter war eine sehr schöne Frau. Jung, schlank, lächelnd, sonnenblond, blauäugig.
Und jüdisch.
Das hat uns damals nicht weiter beschäftigt: Es war für uns damals ungefähr so unwichtig, als wenn jemand Lyrik der Prosa vorzog. Dass die Juden später in die Hauptrolle von Dramen verbannt werden würden, wussten wir damals noch nicht. Vielleicht wollten wir es auch gar nicht wissen. Wen interessierte das schon? Unsere Klasse besuchte zum Beispiel Géza Balázs: blond, sommersprossig, und er ging zum evangelischen Theologieunterricht; Feri Pocsatkó war groß, breitschultrig, der Kopf voller Locken und Calvinist; Jenci Grósz trug eine Brille, stotterte ein wenig und löste die kompliziertesten Gleichungen, Logarithmenrätsel, Geometriekurven, Hyperbeln oder Parabeln im Handumdrehen, sodass wir uns alle seine Bücher zum Abschreiben der Mathehausaufgaben teilten. Und nebenbei war er Jude. Aber das fiel uns meist nur während des Pessach-Festes auf, wenn er vier oder fünf seiner besten Freunde, mich eingeschlossen, mit knusprigem Matzebrot beschenkte.
– Esst es nicht mit Speck oder Wurst – erinnerte er uns mit ernster Miene, als er uns das Geschenk überreichte. – Es ist koscher.
Das haben wir zur Kenntnis genommen und respektiert. Der Rest war nicht wichtig. Den Rest wollten wir wahrscheinlich gar nicht wissen.
Meine Schwiegermutter wollte wiederum von einigen der existenten Bürden des Jüdischseins nichts wissen: Sie wurde früh Witwe, da ihr Mann, ein dekorierter ungarischer königlicher Hauptmann im Ersten Weltkrieg, sehr jung starb. Er war selbstverständlich auch Jude. Er hinterließ seiner Witwe einen komfortablen materiellen Wohlstand, sie war Mitglied aller jüdischer und nichtjüdischer Wohltätigkeitsorganisationen und Kulturvereine und mit Stolz über jeden Unsinn wie Antisemitismus, Faschismus und Nationalsozialismus erhaben.
Unter uns gesagt, man konnte ihr das auch nicht vorwerfen. Meine Verlobte war inzwischen achtzehn, ich zwanzig, und zahlreiche angesehene, hochgebildete Politiker, viel kompetenter als meine schöne und stolze Schwiegermutter, beteten unaufhaltsam einander nach: „Das geht uns nichts an. Betrifft uns nicht.“
Natürlich nicht: Es betraft „nur“ die Juden, aber noch nicht die in unserem Land. Dann betraf es die in Österreich. Dann die in Polen. Dann die in Frankreich.
Na, halten wir an dieser Stelle einen Moment inne. Nach Österreich marschierten die Nazis im Triumphzug, in Polen wurden die Brüder und Schwestern „befreit“, und in Frankreich, dort wurde die schöne Marianne vergewaltigt. Vergewaltigt. Mit brutaler, männlicher teutonischer Rücksichtslosigkeit. Aber – warum auch schwang sie diskret und doch verführerisch und ganz offensichtlich ihre Hüften dabei?
„Das geht uns nichts an. Betrifft uns nicht!“
Doch dann betraf es uns auch. Und wie! Aber das ist Historie. Genauso wie die Gaskammern (die es laut einigen eifrigen „Forschern“ nie gegeben haben soll: alles
jüdische Propaganda) und die Todeslager. Reden wir nicht darüber. Auch nicht über die immer weiter um sich greifenden Auswüchse des Neofaschismus. Wen interessiert das schon?
Uns interessierte damals, als meine unverändert schöne, blauäugige, schlanke Schwiegermutter mit ihrer Familie in das Ghetto der Stadt ziehen musste, dass ich mit ihrem Wissen und Einverständnis in der Nacht zuvor mit meiner Verlobten entkommen bin.
Meine Schwiegermutter von arischer Schönheit hätte auch fliehen können: Sie hatte eine ganze Reihe von Verwandten in Budapest, Siebenbürgen und sogar in Böhmen, denn ihre entfernten Vorfahren – Hussiten von Blut – waren Tschechen. Aber meine schöne und friedliche Schwiegermutter weigerte sich zu fliehen. Sie wollte ihre Mutter, Schwester und deren große Familie nicht allein lassen. Sie hegte auch die unerschütterliche Hoffnung, dass sie im Ghetto oder irgendwo anders im Reich ihren Sohn wiedersehen würde, das meistgeliebte, weil jüngste Kind, das zu dem Zeitpunkt bereits damit beschäftigt war, das Vaterland mit Zwangsarbeitsdienst zu unterstützen.
So rückte meine Schwiegermutter mit der Schwester meiner Verlobten, ihrem dritten Kind, und der oben erwähnten vielköpfigen Familie, ins Ghetto. Nachdem es mir gelungen war, meine Verlobte in Sicherheit zu bringen, konnte ich noch zwei- oder dreimal Lebensmittel, Kleidung, Päckchen und Briefe ins Ghetto schmuggeln. Aber nach einigen Tagen wurde die in ein Ghetto umgewandelte Zieglerei hermetisch abgeriegelt, und nach wiederum einigen Tagen donnerten daraus Viehwaggons mit versiegelten, vernagelten Türen und Fenstern durch die Stadt, für sechs Pferde oder vierzig Passagiere gedacht, jetzt vollgestopft mit Hunderten von Menschen (Menschen? Juden!).
Ich weiß nicht, in welches Vernichtungslager meine Schwiegermutter gebracht wurde – sie wurde noch vor Dachau von ihrer Familie getrennt. Die Schwester meiner Frau überlebte Auschwitz und floh unmittelbar nach der Befreiung des Lagers – nachdem sie von den Amerikanern wieder lebensfähig gepflegt worden war – nach Chile zu
entfernten Verwandten, in Begleitung eines jungen deutschen Juden, ebenfalls Überlebender eines Lagers, der sie noch in Chile heiratete. Gemeinsam zogen sie weiter in die Vereinigten Staaten und eröffneten in New York ein kleines Geschäft für Modeartikel. Die Schwester meiner Frau war in der guten alten Friedenszeit studierte Künstlerin, ihr Mann war Designer. Sie kehrte nie nach Hause zurück: Sie wusste genau, was mit ihrer Mutter und ihrer Familie geschehen war, sie machte sich keine Illusionen. Sie wollte ihr Geburtshaus und die Stadt, aus der sie deportiert worden war, nicht wiedersehen. Sie schrieb uns monatlich und bot uns wiederholt an, uns ein Schiffsticket für einen Besuch zu schicken, aber es kam nie dazu. Ich glaube, die Angst meiner Frau vor dem unausweichlichen menschlichen Schmerz, den ihre Begegnung ausgelöst hätte, war stärker als jede Sehnsucht nach einer verwaisten schwesterlichen Umarmung.
Der jüngere Bruder meiner Frau floh mit einer schweren, nicht heilbaren Typhuserkrankung kurz nach der Befreiung seines Lagers aus einem amerikanischen Kriegslazarett. „Mutter wird mich zu Hause heilen“, flüsterte er seinem Freund und Bettnachbarn heiser zu, bevor er aus dem Krankenhaus floh. Sein Freund war halb bewusstlos und konnte ihn nicht zurückhalten.
Er wurde am nächsten Tag in einem Straßengraben gefunden, nur wenige hundert Meter vom Lazarett entfernt. Tot. Er war knapp zwanzig.
Davon erfuhr ich aber erst zwei Jahre später, von eben jenem Freund aus dem Krankenhaus, der von seiner Typhuserkrankung und den verschiedenen Qualen des KZ-Aufenthaltes geheilt worden war, während meine Frau immer noch auf die Heimkehr ihres Bruders hoffte.
Dieser Freund, den es zwei Jahre nach seiner Befreiung nach Hause verschlagen hat, war in der Tat derselbe Jenci Grósz, der uns Jahre zuvor zu Pessach mit Matzebrot beschenkt hatte.
Ich bin Jenci Grósz im alten Stadtpark meiner Heimatstadt begegnet. Ich schlenderte durch den alten Musikpavillon, allein, weil meine Frau mit meiner Mutter zum
Lebensmitteleinkauf in die Stadtperipherie gefahren war (dort, an der Peripherie, konnte man mit etwas Glück noch anständige Vorräte von vertrauenswürdigen Händlern ergattern), und meine Anwesenheit war bei solchen Unternehmungen eindeutig unerwünscht.
Jenci Grósz.
Etwas unbeholfen näherte er sich mir auf der verlassenen Promenade, und als er kaum noch ein paar Schritte entfernt war, lächelte er mich müde an.
– Du hast mich nicht erkannt, nicht wahr? – fragte er mit der größten Selbstverständlichkeit, als wir die erste, stumme Umarmung hinter uns gebracht hatten. – Nun, ja, ich habe im Lager etwa fünfundzwanzig Kilo abgenommen. Aber ich habe etwa acht oder zehn schon wieder oben… – sagte er stolz. – Die Glaubensgemeinschaft ernährt mich. Und was ist mit dir?
Ich antwortete nicht, weil ich mich plötzlich daran erinnerte, dass Jenci Grósz zur gleichen Zeit wie der Bruder meiner Frau eingezogen worden war; bis dahin war er dank seinen acht Dioptrien und anderer medizinischer Konditionen verschont geblieben.
– Was weisst du über Gabi? Den Bruder meiner Frau? – fragte ich eifrig. – Ihr wurdet zur gleichen Zeit eingezogen.
Selbst durch seine dicke Brille konnte ich seinen überraschten, zugleich düsteren Blick erkennen.
– Wisst ihr es nicht?
– Nein. Was? – fragte ich mit zugeschnürter Kehle.
Er erzählte.
Dann, als er spürte, dass jedes tröstende Wort an dieser Stelle leer und sinnlos wäre, umarmte er mich erneut schweigend.
– Sag es nicht deiner Frau – fügte er leise hinzu und ging mit müden, schweren Schritten davon. – Ich schau bei euch vorbei…
Ich taumelte zur ersten versteckten Bank der Promenade, brach zusammen und sprach mit geöffneten Handflächen das einzige hebräische Gebet, das Gebet für die Toten, das ich so oft während meines Dienstes hinter dem Stacheldrahtzaun des Arbeitslagers vom Rabbiner der Zwangsarbeiter gehört hatte: Yit’gadal v’yit’kadash…
„Sag es nicht deiner Frau…“
Jedoch las meine Frau noch am selben Abend in meinen Augen, dass sie nach ihrer Mutter auch ihren Bruder nie wieder in die Arme schließen würde.
Yit’gadal v’yit’kadash…
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Viele Jahre später erlaubte es mir das Schicksal, dass ich im Rahmen meiner beruflichen Pflichten in verschiedene Länder reiste, um im Ausland kulturelle Verbindungen zu knüpfen und Abkommen zu unterzeichnen – unter anderem auch nach Deutschland und Polen.
Natürlich gab es im auswärtigen Dienst keine Geheimnisse; jeder wurde bis ins kleinste Detail überprüft. Auch über mich wurde aufgespürt, dass ich während meines dreijährigen unrühmlichen Militärdienstes für die Horthy-Armee scheinbar endlose Monate im Büro des jüdischen Arbeitslagers verbracht hatte (ich wurde als Strafe versetzt, zunächst von der Artillerie – einem geschützten Korps! – dann vom Fernmeldedienst – vertraulich! – und schließlich von den Gewehrschützen, aber das ist eine andere Geschichte). Während dieser Zeit gelang es mir, Dutzende meiner jüdischen Freunde und Bekannten mit gefälschten Militärpapieren, Zeugnissen und Einberufungsunterlagen in Sicherheit zu bringen. Manchmal auch völlig Fremde.
Jahre nach dem Krieg stöberte ich in einem Schaufenster einer Buchhandlung (vor allem, weil meine ersten beiden Bücher darunter waren, soviel Ehrlichkeit muss sein), als mir jemand unerwartet und ziemlich entschlossen auf die Schulter drückte.
Ich sah überrascht auf.
Ein großgewachsener Unbekannter in dunkler Kleidung.
– Sie erkennen mich nicht, Herr Feldwebel? – fragte er leise. – Erinnern Sie sich nicht an mich?
Ich konnte mich nicht erinnern. Ich hätte schwören können, dass ich ihn nie gesehen hatte.
– Jüdisches Arbeitslager, beharrte er, immer noch flüsternd.
Ich forschte blitzartig in meinem Gedächtnis. Was wollte mein unbekannter Gesprächspartner von mir? Ich wusste aus tiefstem Herzen und mit bestem Gewissen, dass ich nie einem Juden, einem jüdischen Zwangsarbeiter etwas zuleide getan hatte. Nicht einmal mit Worten. Verwechselte er mich mit jemanden? Ich hatte es auch nie zum Feldwebel gebracht, sondern nur zum Zugführer, obwohl mich die meisten Zwangsarbeiter und sogar die meisten Soldaten stets mit „Herr Feldwebel“ angesprochen hatten. Aber dennoch? Er hat mich eindeutig mit jemandem verwechselt. Das versprach wohl nichts Gutes.
Er hat mich nicht verwechselt.
– Sie haben mir das Leben gerettet, Herr Feldwebel – sagte er und ergriff meine Hand. – Sie erinnern sich nicht? Meine Medikamente wurden konfisziert, weil man mir Simulation unterstellte. Ich wurde in ein Minenbataillon geworfen. Sie haben mich während eines Appels zum Steinbruchdienst hinübergeschmuggelt, als Sie den Dienstplan zusammengestellt hatten. Und sie hatten sogar meine Medikamente wiederbeschafft, das „belastende Beweismaterial“.
Der Nebel begann sich zu lichten, vor allem wegen des „belastenden Beweismaterials“. Natürlich hatte ich keine Ahnung, um welche Medikamente es sich handelte. Aber ich erinnerte mich daran, dass ich mit Hilfe des diensthabenden Apothekers im Lager alles gegen unverfängliches, gewöhnliches Backpulver, Aspirin und Salben ausgetauscht hatte.
– Ich bin froh, dass sie mit dem Leben davongekommen sind – sagte ich lächelnd.
– Ich bin froh, dass ich sie getroffen habe, Herr Feldwebel – sagte er, dann griff er in seine Tasche und drückte mir etwas in die Hand.
Ich schaute hin. Es war ein kleiner, goldfarbener Davidstern.
– Nehmen Sie es an? – fragte er zaghaft und fügte schnell hinzu: – Ich reise morgen nach Israel. Gestern habe ich meine Ausreisegenehmigung erhalten. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie ihn annehmen würden. Als Erinnerung. Für mein Leben. Und ich würde mich freuen, wenn Sie mit mir einen Kaffee im Café auf der Straßenseite gegenüber trinken würden. Ich würde gerne ein paar Minuten mit ihnen verbringen. Wir haben Sie immer bewundert, Herr Feldwebel…
– Lassen sie die Offiziersbezeichnung weg – winkte ich ab. – Ich war nie ein Offizier dieser Offizien…
Wir unterhielten uns noch lange im Café. Als wir uns verabschiedeten, fragte er mich:
– Möchten Sie eine Nachricht nach Israel schicken? Für den Fall, dass ich gemeinsame Bekannte treffe.
– Kümmern Sie sich um die beiden Stiftungsbäume meiner Schwiegermutter – platzte es unwillkürlich aus mir heraus.
Meine schöne Schwiegermutter trug noch in den Friedensjahren bei der Jüdischen Gemeinde Gutscheine mit zwei Setzlingen zum nationalen Aufforstungsfonds Israels bei. Ob sie noch irgendwo stehen?
Zurück zu meinen Auslandseinsätzen. Nachdem sie sich über meine oben erwähnte Vergangenheit informiert hatten, boten mir mehrere Gastgeber regelmäßig den Besuch von Todeslagern – inzwischen in Gedenkstätten umgewandelt – als Teil des Kulturprogramms an.
Bei jeder Gelegenheit lehnte ich diese Ehre höflich, aber bestimmt ab und verwies auf meinen vollen Terminkalender oder dringende Verpflichtungen.
Ich wünschte weder Dachau noch Bergen-Belsen oder Auschwitz zu besuchen. Ich wünschte nicht die Orte zu sehen, die meine schöne Schwiegermutter in den Tod geschickt hatten. Ich wollte ihre entstellten Gesichtszüge nicht auf einem der Fotos mit Leichenbergen und ausgemergelten Körpern entdecken. Ich wollte ihren Namen nicht auf der langen Liste der Märtyrer auf einer der Gedenktafeln entdecken.
Nein.
Ich befürchtete, dass, wenn ich irgendwo ihre Namen oder ihre Gesichtszüge erkennen würde, in mir unweigerlich und unwiderruflich dieses eine Gefühl ausbrechen würde, das mir immer fremd gewesen war, selbst in Augenblicken des persönlichsten, beleidigendsten und schmerzhaftesten Leides.
Unerbittlicher, unüberwindlicher, rasender, unstillbarer Rachedurst.
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Sie war eine sehr bescheidene, gütige, sanfte und herzensgute Frau, meine schöne Schwiegermutter.
Yit’gadal v’yit’kadash.
Sehr sehr anrührend.