80 Jahre und nie wieder?

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Foto: Ron Porter

Heute jährt sich der 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Es gibt viele Gedenkveranstaltungen, viele Reden. Vom Zivilisationsbruch ist die Rede, nie wieder sagen sie. Worte, die nur Worte bleiben. Worte, die im Hals stecken bleiben.

Von Andrea Livnat

Meine Oma hat Auschwitz überlebt. Sie hatte eine Nummer auf den Arm tätowiert. Als ich klein war und danach fragte, sagte sie mir, dass das ihre Telefonnummer sei, damit sie sie nicht vergesse. Spätestens als sie in eine andere Stadt zog, kam mir die Sache seltsam vor. Auf Nachfrage gab es betretenes Schweigen.

Meine Oma hat Auschwitz überlebt, sie hat auch Theresienstadt, Neuengamme und Bergen Belsen überlebt. Sie hat die Erniedrigungen, die Qualen, die schwere körperliche Zwangsarbeit und den Typhus überlebt. Als einzige ihrer Familie. Sie ist zurückgekehrt in ihre Heimatstadt und hat noch einmal eine Familie gegründet. Über Auschwitz hat sie nie gesprochen. 

Und doch ist ihr Er- und Überleben für meine Familie prägend. Auschwitz ist auch heute, am 80. Jahrestag der Befreiung, der ganz persönliche Zivilisationsbruch meiner Familie. Wie auch der so vieler anderer Familien von Überlebenden.

80 Jahre, die Zeitzeugen sterben, bald gibt es niemanden mehr, der Auschwitz selbst erlebt hat. Aber Auschwitz lebt fort. 80 Jahre und noch immer gibt es diese Momente, die uns überraschen, die es ganz aktuell werden lassen. Zum Beispiel, wenn wir erfahren, dass die Organe des Bruders meiner Oma an der Universität Innsbruck aufbewahrt werden. Eine Tatsache, die die historische Forschung erst kürzlich aufgedeckt hat. 80 Jahre hat es gedauert, dass wir davon erfahren. Meine Oma, die vor 30 Jahren starb, war immer davon überzeugt, dass der Sarg, der aus Dresden kam, nicht wirklich ihren Bruder enthielt.

Auschwitz mag 80 Jahre zurückliegen, in unseren Köpfen, in unseren Gedächtnissen, aber auch in unseren Genen lebt es fort.

Sehr genau sehen wir, was passiert. Die Lehren aus der Geschichte? Wenn 80 Jahre nach Auschwitz der Rechtsextremismus wieder stark ist, was sind dann die Lehren? Wenn 80 Jahre nach Auschwitz jeder Zehnte in Deutschland den Begriff Holocaust nicht kennt, was sind dann die Lehren? Wenn 80 Jahre nach Auschwitz der Krieg in Gaza als Genozid bezeichnet wird, was sind dann die Lehren? Wenn 80 Jahre nach Auschwitz auch sog. Holocaust-Forscher in dieses Horn stoßen, was sind dann die Lehren? 

Hoffnung machen die vielen engagierten Menschen, die ich kenne, die uns schreiben, die ich auf Veranstaltungen treffe, die sich nicht mit den leeren Worten zufrieden geben und fest an der Seite von Jüdinnen und Juden stehen. Ihr Zuspruch, ihre Solidarität stehen der schweigende Menge gegenüber. 

Aber es sind zu wenige. Schön, dass es Demonstrationen gab, auch vergangenen Samstag wieder, Demonstrationen mit vielen Hunderttausenden Teilnehmern. Aber zu selten sind sie, einen Umschwung schafft man so nicht. Und wo sind die empörten Demonstranten, wenn eine Synagoge angegriffen wird? Oder das israelische Konsulat? Warum stehen nicht am nächsten Tag Hunderttausend Demonstranten um diese Synagoge herum und wehren sich gegen Antisemitismus? 

Antisemiten sind nicht in der Mehrheit, das weiß ich. Aber es ist die schweigende Menge, die mir Angst macht. Die schweigende Menge, die eine schleichende Veränderung zulässt, die die mühsam erarbeiteten Sicherheiten bedroht und uns fragen lässt, ob wir uns nicht einfach nur etwas vorgemacht haben? Heute, 80 Jahre nach Auschwitz.