Zohra Mojadeddi – Die Vernichtungskriegsexpertin

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Foto: Hamburgische Bürgerschaft/Michael Zapf

Wenn im Hamburger Landesparlament in der Haushaltsdebatte Israel unterstellt wird, einen „Vernichtungskrieg“ im Gazastreifen zu führen, gibt es einen Ordnungsruf – weil es in der Rede nicht um Haushaltsposten ging.

Von Gaston Kirsche
Eine gekürzte Version erschien zuerst in: Jungle World v. 02.01.2025

Dass es in der Debatte über den Doppelhaushalt 2025/2026 in der Sitzung der Hamburgischen Bürgerschaft am 17. Dezember um Israel gehen würde, war überraschend. Eigentlich ging es um die Ausgaben der kommenden beiden Jahre, um die großen Vorhaben der Politik bei Verkehr, Wirtschaft, Sicherheit oder Wohnungsbau – insgesamt um 44 Milliarden Euro. Als die wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen, Zohra Mojadeddi, ans Rednerpult trat, war der Etat der Wirtschaftsbehörde dran. Eigentlich, denn: Deutschland trage als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt eine grenzübergreifende Verantwortung, startete Zohra Mojadeddi ihre Rede: „Ob Ukraine, Israel, Afghanistan, Iran oder Syrien, diese Konflikte sind untrennbar mit unserem eigenen Leben verbunden“. Das Weihnachtsfest sei ohne die Geschichte dieser Region unvorstellbar, und: „Die Würde des Menschen sei unantastbar, und dies gelte auch für die Palästinenserinnen und Palästinenser“, fuhr die Grünen-Politikerin fort. Es gehe dabei auch „um das Bild Deutschlands in der internationalen Gemeinschaft“, und dieses Bild leide: „Mir ist bewusst, dass meine Rede heute meine Zukunft, meine Reputation, meine Karriere oder sogar mein Leben gefährden kann“, las Mojadeddi couragiert von ihrem Manuskript ab: „Doch wie kann ich meinen Kindern Zivilcourage vermitteln, wenn ich nicht den Mut habe, meine Stimme für den Frieden in Gaza und der Westbank zu erheben und mich gegen einen Vernichtungskrieg auszusprechen.“ Von Zwischenrufen unbeirrt fuhr sie fort: „Unser Schweigen kann zum Komplizen des Unrechts werden. Lassen Sie uns ein starkes Zeichen setzen für den Frieden und für Menschlichkeit in Palästina.“ Trotz Ermahnung bitte zum Thema zu sprechen, fuhr Zohra Mojadeddi unbeirrt fort, um auch noch die Formel der Solidarität gegen Antisemitismus zu relativieren: „Das ,nie wieder‘ ist eine Mahnung, es gilt für uns alle, für alle Menschen, auch für die Palästinenser. Ich wünsche Ihnen eine besinnliche und friedvolle Zeit mit Ihren Liebsten. Und bitte vergessen Sie nie: Jesus war auch nur ein Flüchtling.“ Danach verließ sie das Rednerpult.

Warum es antisemitisch ist, dem einzigen jüdischen Staat vorzuwerfen, im Gazastreifen einen „Vernichtungskrieg“ zu führen, sollte jede Abgeordnete eines deutschen Parlaments wissen. Oder wie ein Leser der taz unter dem Namen „Einfach-Jemand“ ihre Wortwahl kommentierte: „Ich würde ein solches Wort nicht verwenden, einfach weil es historisch besetzt ist. Einen Vernichtungskrieg hat das Deutsche Reich geführt – jeder der es will, kann sich haarklein mit den furchtbaren Realitäten auseinandersetzen. Es gibt Regalkilometer an bestens ausgearbeiteter Literatur darüber, was ‚Vernichtungskrieg‘ im 2.WK bedeutet hat. Als grausames Beispiel nenne ich mal: Babyn Jar. Dort sind in 48h mehr als 37000 Menschen ermordet worden. Ich denke man sollte die Worte so verwenden, wie sie gemeint sind. Es gibt andere Worte, um auszudrücken, dass in Gaza Menschenrechtsverbrechen und Kriegsverbrechen geschehen und ich finde, solche hätte Frau Mojadeddi wählen sollen“. Auch wenn der taz-Leser sich scheut, klar zu schreiben, dass die Opfer in Babyn Jar als Jüdinnen und Juden ermordet wurden und nicht klar ausdrückt, dass wenn, dann auf jeden Fall seitens der Hamas und ihrer Verbündeten Menschenrechtsverbrechen und Kriegsverbrechen geschehen, alleine schon durch das Gefangenhalten der Geiseln, so hat er den Punkt getroffen: Einen Vernichtungskrieg gab es seitens der Deutschen und der Wehrmacht gegen als slawische Bevölkerung angesehene Menschen, gegen Romnja und Sinti, den Porajmos – und gegen die jüdische Bevölkerung Europas: Deren industriell betriebene Vernichtung, die Shoah. Das Vorgehen Israels im Gazastreifen als „Vernichtungskrieg“ zu bezeichnen ist eine Bagatellisierung der Shoah, eine historische Opfer-Täter-Umkehr: israelbezogener Antisemitismus. Aber zurück in den Sitzungsaal der Hamburgischen Bürgerschaft.

Nachdem mehrere Abgeordnete von CDU und AfD gegen die Äußerungen der Grünen protestiert hatten, während die Abgeordneten der rotgrünen Koalition schwiegen, distanzierte sich schließlich der Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen halbherzig von den Aussagen seiner Parteifreundin und erklärte, Mojadeddi gebe nicht die Position seiner Fraktion wieder. Mehr Kritik kam nicht. Auch nicht von der SPD. Auf Antrag der CDU wurde die Sitzung unterbrochen, der Ältestenrat der Hamburgischen Bürgerschaft tagte. Anschließend erteilte die Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) Zohra Mojadeddi einen nachträglichen Ordnungsruf. Aber nicht, weil sie Israel einen „Vernichtungskrieg“ unterstellt hatte, sondern weil nicht zum Thema gesprochen habe. Veit erklärte, natürlich sei es auch in Landesparlamenten möglich, „über den Nahostkonflikt zu sprechen“, hier habe aber etwas anderes auf der Tagesordnung gestanden.

Zohra Mojadeddi scheint in der Grünen-Fraktion keine Konsequenzen zu erwarten und wird ihren Job als wirtschaftspolitische Sprecherin wohl behalten. Fraktionschef Lorenzen sagte auf Anfrage der taz: „Wir werden den Vorfall intern aufarbeiten.“

Lorenzen ergänzte zu dem Vorfall, wohl um Beschwichtigung bemüht, man wisse um die „persönliche Nähe der Abgeordneten im Kontext des Gaza-Krieges“. Worin diese genau besteht, ist fraglich. Mojadeddi wurde 1969 im Königreich Afghanistan geboren. Im April 1978 putschten Armeeoffiziere, die der an der Sowjetunion orientierten Demokratischen Volkspartei Afghanistans nahestanden. Zohra Mojadeddi wurde, als damals noch Neunjährige, mit ihrer gesamten Familie im Januar 1979 aus politischen Gründen inhaftiert. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis, an der sowohl Amnesty International als auch die UNO mitwirkten, musste sie Afghanistan verlassen und flüchtete mit ihrer Mutter und ihrem Bruder über Pakistan nach Hamburg.

Auf der Landesliste der Grünen für die Neuwahl der Hamburgischen Bürgerschaft am 2. März steht Zohra Mojadeddi auf dem wenig aussichtsreichen Platz 43: Derzeit haben die Grünen 32 Mandate, es werden nach allen Prognosen nach nicht mehr werden, und einige Mandate werden an in Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete gehen, insbesondere aus grünen Hochburgen wie Eimbüttel, Winterhude oder Ottensen. Vielleicht wollte sich Zohra Mojadeddi ins Gespräch bringen und versucht mit der Behauptung eines „Vernichtungskriegs“ Israels durch das Panaschieren und Kumulieren so viele Personenstimmen zu bekommen, dass sie auf der Liste nach vorne rutscht. Bei der letzten Bürgerschaftswahl 2020 kam sie so ins Hamburger Landesparlament. 

In dem Stimmzettelheft für die Wahlkreislisten dürfen die Wähler:innen einer Person bis zu fünf Stimmen geben („kumulieren“) oder ihre fünf Stimmen auf mehrere Kandidierende auch unterschiedlicher Wahlkreislisten, Wählervereinigungen oder Einzelkandidierenden verteilen („panaschieren“). Auf dem Stimmzettel für die Landeslisten können Wähler:innen bei der Hamburger Bürgerschaftswahl ihre fünf Stimmen sowohl an unterschiedliche oder auch an eine Person als auch an die unterschiedlichen Gesamtlisten von Parteien oder Wählervereinigungen vergeben.

Falls Zohra Mojadeddi nicht gewählt werden wird, kann sie verstärkt ihrem anderen Beruf nachgehen: Als „Senior Client Partner bei Board Connect GmbH“, wo sie seit 20 Jahren Führungspersonal vermittelt: „Sie ist spezialisiert auf die Besetzung von herausgehobenen Führungspositionen“, so die Homepage von Board GmbH. Etwas israelbezogener Antisemitismus scheint da kein Nachteil zu sein.

In ihren Kanälen auf social media ist Zohra Mojadeddi recht eindeutig. Während sie zum Pogrom der Hamas am 7. Oktober, dem größten seit dem 8. Mai 1945, nichts postete, ist sie umso engagierter, wenn es um palästinensische Opfer geht. Beispielhaft hier der Post vom 20. November, dem internationalen Tag der Kinderrechte: „Vor 35 Jahren, am 20. November, verabschiedeten die Vereinten Nationen die UN-Kinderrechtskonvention – ein Meilenstein für die Rechte der Kinder weltweit, ein Versprechen auf Schutz, Sicherheit und Zukunft. Doch inmitten dieser Errungenschaft bleibt ein dunkler Fleck der Weltgeschichte: Die Kinder in Gaza. Sie kennen keine Rechte, kein Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf eine Zukunft. Stattdessen sind sie Opfer eines unvorstellbaren Leidens, mit bereits 17.400 getöteten Kindern, deren Leben in der Gewalt des Krieges zerbrochen ist“. Das Leiden in anderen Kriegen in anderen Ländern wie im Sudan bleibt von ihr unerwähnt, und kein Wort, dass im Nahostkrieg auch israelische Kinder gelitten haben und leiden.

Am 27. April 2024 erklärte sie in ihrer Rede auf der Landesmitgliederversammlung der Hamburger Grünen: „In Gaza herrscht täglich Armageddon, und wir haben Angst. Besonders Menschen wie ich mit einer Migrationsbiografie haben Angst, den Opfern eine Stimme zu geben, denn wir werden sofort als Antisemiten gebrandmarkt und abserviert“. Und wieder die Erzählung: Opfer gibt es nur auf einer Seite, der palästinensischen. Und Israel führt den brutalsten aller möglichen Kriege, im biblischen Maßstab: Armageddon. Trotz dieser und ähnlicher Passagen wurde sie auf der Landesliste zu den Hamburger Bürgerschaftswahlen aufgestellt.