Wieder eine jiddische Perle, die Sandra Israel-Niang ausgegraben und übersetzt hat. Als „the most diligent of all“ (Rokhl Auerbach) trug Peretz Opoczynski mit einer Vielzahl von Reportagen, Miniaturen und Kurzgeschichten zum Oyneg-shabes-Archiv des Warschauer Ghettos bei. Aus Archivmaterial und den von seiner Schwester herausgegebenen „gezamltn shriftn“ hat Israel-Niang eine Auswahl zusammengestellt und für diesen Band übersetzt. Er beinhaltet seine bedeutenden Ghettoreportagen, Texte aus den Zwischenkriegsjahren, in denen er in Łódź als Journalist tätig war und aus seiner Zeit in ungarischer Kriegsgefangenschaft während des ersten Weltkriegs.
Perec Opoczynski wurde 1892 in Lutomiersk geborenen. Opoczynski erhielt eine klassische Ausbildung im kheder, lernte später in einer litauischen Jeshiva und plante in Frankfurt Rabbiner zu werden. Aus wirtschaftlichen Gründen blieb ihm das verwehrt. Während des Ersten Weltkriegs verfasste er in ungarischer Kriegsgefangenschaft Reportagen und Berichte. Zurück in Polen arbeitete er in einer Fabrik, als Hebräischlehrer und schließlich in Lodz und Warschau bei verschiedenen jiddischsprachigen Zeitungen. Als er gezwungen wurde, im Ghetto zu leben, arbeitete er als Briefträger und steuerte als ein Mitarbeiter von Oyneg Shabes eine Vielzahl von Beiträgen zum Untergrundarchiv Emanuel Ringelblums bei. Perec Opoczynski wurde vermutlich 1943 in Treblinka ermordet.
Perec Opoczynski: Bücher und Brot. Herausgegeben und aus dem Jiddischen übertragen von Sandra Israel-Niang, Edition NIAnGARA 2024, 182 S., Euro 19,90, Bestellen?
LESEPROBE
Nachwort der Herausgeberin
Eine der hier abgedruckten Reportagen, „Haus Nr. 21“, thematisiert den Alltag einer Wohngemeinschaft in einem Mietshaus in der Wołynska-Straße, eine der ärmsten Straßen Warschaus, noch bevor das Warschauer Ghetto komplett abgeriegelt wurde. Es war die Wohnadresse des Autors selbst, der für eine Anstellung von Łódź nach Warschau umzog. Diese Reportage ist einer von vielen weiteren auf Jiddisch wie auf Hebräisch verfassten Beiträgen für das Oyneg Shabes-Archiv des Journalisten und Schriftstellers, der höchstwahrscheinlich durch seinen ehemaligen Kollegen Eliyahu Gutkowski für eine Mitarbeit angeworben worden war.
Im Mittelpunkt des Textes stehen Themen wie der Kampf um die tägliche Versorgung mit dem für das Überleben Notwendigsten, die Frage, ob der Umzug in die sowjetisch besetzten Gebiete „ױף די אַנדערע זײַט“ (Auf die andere Seite) einen Ausweg bieten könnte, die Ankunft von Flüchtlingen aus westlichen Gebieten, in denen auf Befehl Hitlers bereits die ersten Deportationen stattfanden, und deren Unterbringung, oder die Art, wie Nachrichten über die Kriegshandlungen in den Hof gelangten und wie sie ausgewertet wurden. Der Bericht informiert darüber, wie die Kommunikation im Mikrokosmos der Mietergemeinschaft funktionierte, wie sie den Schikanen und immer stärkeren Einschränkungen, aber auch der Korruption, begegnete, als langsam spürbar wurde, dass die Schlinge sich zuzog, die Lage sich verschärfte, obschon das Schlimmste noch nicht bekannt war. Opoczynski schildert im Detail die ausgetauschten Routen zu Zielen, deren anfängliche Attraktivität umso stärker abnahm, je mehr Menschen wieder von dort, oftmals verletzt, zurückkehrten und ihre Erfahrungen teilten.
Perec Opoczynskis eindrucksvolle Reportagen ermöglichen einen tiefen Einblick in die jüdische Gesellschaft unter der anfänglichen Besatzungszeit der Nazis und können als detaillierter Beitrag zu einer Sozialgeschichte gelesen werden, die sie zu einem „key example of the YIVO Method at work“ macht. Denn genau dies war es, was Ringelblum für sein Archiv angestrebt hatte und aufgrund seines Wertes für spätere Historiker, als auch einer breiteren Leserschaft, von besonderem Interesse für ihn war.
Opoczynski gelingt die Darstellung direkter, authentischer Stimmen verschiedenster Charaktere, als handelte es sich bei ihnen um tatsächlich geführte Gespräche, die vom Autor wie „Live-Mitschnitte“ zeitgleich aufgezeichnet wurden: Die nuancierte Beschreibung der unterschiedlichen sozialen Schichten, politischen, geografischen und religiösen Hintergründe durch zynische Aussagen der Hausbewohner, groteske Szenen, die sich in den Treppenhäusern abspielen, ohne selbst die unterschiedlichen Dialekte der porträtierten Mieter zu vergessen, ermöglicht es dem Leser die ungleichen Lebensbedingungen und Chancen für das Überleben im Ghetto nachzuvollziehen.
Wie war es ihm möglich, so detailreich zu dokumentieren, die Atmosphäre so realitätsgetreu einzufangen und in Worte zu fassen, sich die richtigen Fragen zu stellen? Wie fand er den Mut für die Kritik an seinen Mitmenschen, und wie bewahrte er sich seine innere Würde und Integrität trotz härtester Lebensumstände?
1939 verlor Opoczynski durch den Einmarsch der Deutschen seine Anstellung als jiddischer Journalist, durch die er sich zuvor seinen dürftigen Lebensunterhalt verdient hatte. Im Ghetto konnte er später, vermutlich durch die Mithilfe eines Oyneg-shabes – Mitgliedes, als ein Briefträger arbeiten, worüber er in einer der hier abgedruckten Reportagen ausführlich berichtet. Auch trotz dieser Stelle litt er Hunger, und sie reichte nicht aus, das Überleben für seine Frau, seinen Sohn und sich selbst zu sichern50. So erhielt er von Zeit zu Zeit auch kleine Stipendien von Oyneg Shabes. Als er an Typhus erkrankte, versorgte Menakhem Korn ihn mit Medikamenten. Seine Arbeit ermöglichte ihm die Nähe zu den unterschiedlichsten Gruppen innerhalb der Ghettobevölkerung. Er befand sich inmitten ihres Alltagslebens, welches es zu dokumentieren galt, und seine journalistischen Fähigkeiten, gepaart mit seinem literarischen Talent, vervollständigten dies und brachten ein Ergebnis von hoher Qualität und Virtuosität hervor.
Rachel Auerbach erinnert Opoczynski als den „Fleißigsten von allen“. Er glaubte fest an eine grundlegende Ehrenhaftigkeit des einfachen Menschen, daran, dass Juden einander helfen mussten; es ging ihm um die gegenseitige Sorge und soziale Verantwortung. Wo er die nicht sah, meldete er sich mit kritischer Stimme und mit bisweilen sarkastischem Unterton zu Wort. (…)
Perec Opoczynski: Bücher und Brot. Herausgegeben und aus dem Jiddischen übertragen von Sandra Israel-Niang, Edition NIAnGARA 2024, 182 S., Euro 19,90, Bestellen?
Mehr von Sandra Israel-Niang:
Durch innere Kontinente
Ein Lesebuch mit Auszügen aus dem Werk der jiddischen Schriftstellerin Chava Rosenfarb
Moyshe Kulbaks „Wind, der in Wut geriet“
Soeben erschien die Übersetzung eines jiddischen Kinderbuches, „Der vint vos iz geven in kas“. Moyshe Kulbak schenkte diese Geschichte 1921 den Kindern des Dinezon-Kinderheimes in Vilnius, wo er auch unterrichtete. Sandra Israel-Niang hat es nun ins Deutsche übertragen und dazu noch wunderschön illustriert.