Was heißt hier jüdisch?

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Bild: Peggy und Marco Lachmann-Anke

Christoph David Piorkowski ist kein Jude – und ist es doch auch nicht nicht. Wie die Familiengeschichte und Zuschreibungen von außen die Identität eines Menschen begründen. Und wie das Oktoberpogrom der Hamas Personen mit jüdischen Bezügen in einen Abgrund blicken lässt. Ein Essay.

Dieser Essay wurde zwei Wochen nach dem 7. Oktober 2023 unter dem unmittelbaren Eindruck des genozidalen Massakers der Hamas, den oft empathielosen Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft und der schon kurz nach dem antisemitischen Massenmord weltweit einsetzenden Täter-Opfer-Umkehr verfasst.

Von Christoph David Piorkowski

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas und der geifernde Judenhass im Netz und auf der Straße haben meine Gedanken- und Gefühlswelt okkupiert, mir eine depressive Episode beschert. Körper und Geist sind von Angst überwältigt, ich bin hoch agitiert, rauche eine nach der andern. Israel kämpft um seine Existenz, Juden leben allerorts in feindlicher Umgebung, und ich leide an der Welt wie noch nie in meinem Leben.

Die islamistische Hamas hat bestialisch gemordet, der Staat der Juden schlägt vehement zurück, dabei Bilder vom Leid in Gaza produzierend, die die öffentliche Meinung umkehren werden, vielfach jetzt schon umgekehrt haben, wo es anfänglich Mitgefühl gab. Die aufgeschreckte Solidarität im Angesicht abgeschlachteter Kleinstkinder verebbt – am Ende wird Israel als Schuldiger gelten. Auch, dass Juden wieder in Todesangst leben, dass dazu aufgerufen wird, sie global anzugreifen, ihre Wohnungen mit Davidsternen markiert werden und Molotow-Cocktails auf Synagogen fliegen, treibt in Deutschland und überall sonst viel zu wenige Menschen auf die Straße. All das löst Trauer und Furcht in mir aus – wie kein anderes Ereignis, dessen Zeitzeuge ich war.

Auch viele meiner Freunde hat das Massaker geschockt, und das häufige Fehlen der Empörung empört. Und doch meine ich, zwischen meinem eigenen Empfinden und den Gefühlen vieler Menschen, die ich kenne, eine Art Abstand wahrnehmen zu können. Auch ist da eine Kluft zwischen jenem Entsetzen, das mich selbst ob der Gräueltaten in Butscha überfiel und dem Pogrom vom 7. Oktober. Auch jene haben mich entsetzt und verstört – dieses aber geht mich im Innersten an. Ich spüre eine existentielle Angst – nicht vor Flächenbränden oder einem weiteren Weltkrieg, sondern vor der Auslöschung des jüdischen Staates. Ich frage mich momentan, warum das so ist.

Bin ich Jude und brauche somit Israel als Fluchtpunkt, als möglichen Schutzraum vor jener Gewalt, die Diaspora-Juden seit Jahrhunderten erfahren? Nein, ich bin kein Jude. Weder durch meine Mutter noch väterlicherseits, also weder halachisch noch patrilinear. Und doch bin ich auch nicht nicht-jüdisch wie die meisten meiner Freunde. Denn für diese war ich stets jüdischer als sie. Seit Schulzeiten hat mich mein Umfeld auf meinen jüdischen Background verpflichtet – aufgrund zweier Großväter, die von den Nazis als mehr oder weniger jüdisch definiert wurden.

Mein Großvater mütterlicherseits, Otto Citron, galt nach den Nürnberger Rassegesetzen als sogenannter „Drei-Viertel-Jude“. Das biologistische Wahnsystem der Nazis hätte ihn so eigentlich zum „Volljuden“ gemendelt und für das Massenschicksal Auschwitz bestimmt. Seinen Vater, den „volljüdischen“ Richter Fritz Citron, hatte man auf der Grundlage des sogenannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1933 aus seinem Richteramt am Preußischen Oberverwaltungsgericht geschasst. 1938 nahm er sich das Leben, einen Monat nach dem Novemberpogrom. In der Berliner Hardenbergstraße erinnert ein Stolperstein an sein Schicksal.

Meinem Großvater Otto gelang es mit einer wohl von Fritz stammenden verwaltungsrechtlichen Argumentation, der Kategorisierung als „Drei-Viertel-Jude“ zu entgehen, als man ihn auf die früheren studentischen Angaben zu seinen Vorfahren festnageln wollte. Er habe vor den Nürnberger Gesetzen den Nachweis über seine Abstammung erbracht, zu einem Zeitpunkt, als es eine Unterteilung in viertel, halbe, dreiviertel und wie auch immer geachtelte Juden noch nicht gegeben habe. Er erklärte, seine Großmutter Rosa – die in Wahrheit Jüdin war – sei zwar „nichtarisch“, aber bloß „halbjüdisch“ gewesen. Den Gesetzen von Nürnberg zufolge sei er so bloß ein Fünfachtel-Jude, und nicht, wie bisher vorausgesetzt, dreiviertel und mithin vollständig jüdisch.

Seine Tübinger Studentenakte schließt mit den Worten: „Es lässt sich leider nicht mehr aufklären, warum stud. germ. Citron, ursprünglich als drei Viertel Jude, dann als Mischling geführt wurde, da der urkundlich geprüfte Ahnennachweis nicht mehr vorhanden ist.“ Diesem Coup verdankt er vermutlich sein Leben – meine Mutter und ich unsere späteren Geburten. Citron firmierte fortan als „Mischling ersten Grades“ und wurde 1938 als unterprivilegierter „Halbjude“ zum Arbeitsdienst und später in die Wehrmacht eingezogen. Er tauchte unter in der grauen Uniform und war als Mannschaftsmitglied auf der Krim stationiert.

Mein Großvater war mitnichten ein Held. Er suchte Schutz in der Armee jenes Volkes, das ihn aus der „Volksgemeinschaft“ ausstoßen wollte. Er war ein Opfer – und doch Teil des deutschen Täterkollektivs. Saul Friedländer hat den Fall Otto Citron (allerdings etwas ungenau) im Buch „Das Dritte Reich und die Juden“ aufgegriffen, um daran das Groteske der Rassegesetze aufzuzeigen. Nur dadurch wurden die damaligen Vorgänge in unserer Familie überhaupt bekannt, was meine Mutter zur tieferen Recherche animiert hat. Mein Opa selbst hatte vieles verdrängt, und was er nicht verdrängt hatte, hat er nicht erzählt.

Mein Großvater väterlicherseits hingegen, Hansgeorg Piorkowski, galt von Anfang an als „Mischling ersten Grades“. Im Arbeitsumfeld äußerte er sich abfällig über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus. Als politisch unbequemer „Halbjude“ – dessen Vater, einem Juden und SPD-Mitglied, nach jahrelanger Odyssee durch Europa 1940 die Flucht nach Brasilien glückte – war er eigentlich für die Zwangsarbeit in der Organisation Todt vorgesehen. Da er aber zunächst in monatelanger Gestapohaft körperlich misshandelt wurde, war er für diese schließlich nicht mehr zu gebrauchen. Meine beiden Großväter haben überlebt, andere Mitglieder beider Familien sind in der Shoah ausgelöscht worden.

Und doch habe ich, wie die allermeisten Deutschen, auch Nazis unter meinen Ahnen. Mein Großonkel, der Bruder der Mutter meines Vaters, war schon früh ein Mitglied der NSDAP. So habe ich es stets unterlassen, mir aufgrund der Verfolgungen in meiner Familie die Biografie eines bloßen Opfer-Nachfahren anzumaßen. Ich bin Deutscher, und im Ausland fühle ich mich auch so. Ich trage die Verantwortung des Tätervolkes mit, ohne hier irgendwelche Abstriche zu machen.

Im Inland indessen wird mir bis heute mitunter ein relatives Anderssein gespiegelt. Eine Differenz, die sich in mich eingegraben hat, nicht zuletzt deshalb, weil ich selten genau weiß, was die Großeltern der Menschen um mich herum zur NS-Zeit alles so gemacht und gedacht haben. Wenn in Schulzeiten von meinen Klassenkameraden gesellige Hitlerwitze gemacht wurden, fühlte ich mich unbehaglich, lachte aber mit. Wenn Juden- oder Holocaustwitze gemacht wurden, empfand ich ein Grauen, lachte aber mit.

Bei aller Zuneigung zu meinen Freunden, habe ich mich zuweilen randständig gefühlt. Und doch könnte ich niemals ein Jude sein – was für eine lächerliche Anmaßung das wäre! Ich sitze gleichsam zwischen den Stühlen: zu wenig jüdisch, um ein Jude zu sein, zu viel, um mich in Deutschland vollends heimisch zu fühlen.

Meine Eltern haben sich aus vielleicht nachvollziehbaren psychologischen Gründen vor allem auf die jeweiligen Väter kapriziert. Sie verorten sich als peripher zum Judentum gehörig, zumal sie dem dortigen Rückkehrrecht entsprechend in Israel wohl als jüdisch anerkannt würden. Dennoch habe ich sie oft dazu gedrängt, sich auch dem Nazihintergrund der Familie zu stellen und den Ambivalenzen in der Vita Otto Citrons. Auch wenn es psychisch sicher angenehmer ist, ein reines Opfernarrativ zu kultivieren. Ich habe ein gespaltenes familiäres Erbe, keine Passform, und somit schlicht keine Sprache für diese in Deutschland wohl nicht selten existierende, doch wenig sichtbare Identität.

Ich will meine Verantwortung als Deutscher nicht leugnen oder mir kulturell ein Judentum aneignen, das mir nicht zusteht und zu dem ich mich nicht zugehörig fühle – dessen Nähe ich aber doch regelmäßig suche. Bei einem Gedenkgottesdienst für die Opfer der Hamas in einer Berliner Synagoge kam ich mir wie der gojische Fremdkörper vor, der ich de facto in dem Moment war.

Und doch haben mich die verzweifelten Schreie meines altersdementen Großvaters geprägt, der am Ende seines Lebens wie ein Wahnsinniger schrie „Ich bin nicht-arisch! Ich bin nicht-arisch!“. Ich möchte solche Erfahrungen nicht zu einem transgenerationalen Trauma aufblähen. Sie verbinden mich aber dennoch mit dem, was Otto zeitlebens loswerden wollte – mit jenem heterogenen und kaum auf den Begriff zu bringenden Identitätskomplex des Judentums, das sich in klassische Kollektivkategorien wie Volk, Nation, Religion oder Verfolgungsgemeinschaft nicht einfügen mag. Ich bin kein Jude – und bin es doch auch nicht nicht.

Es ist viel darüber geschrieben worden, dass man die Juden in Deutschland nicht auf die Themenkomplexe Shoah und Antisemitismus reduzieren solle. Dass das Judentum etwas „Positives“ darstellt, eine vielfältige Weise der Lebensgestaltung. Und doch gibt es auch Menschen wie mich, für die das diffuse Gefühl einer Zugehörigkeit in erster Linie aus Auschwitz resultiert.

Von den familienbiografischen Bezügen abgesehen und doch aus diesen herrührend, konstituiert sich das, was ich mit dem Schriftsteller Jean Améry als nicht-nicht-jüdische oder peripher-jüdische Identität bezeichnen möchte noch aus anderen Gründen: Nämlich durch die kollektive Fremdwahrnehmung, die ich gezwungen war zu internalisieren. Dem antisemitischen Blick, der mich zwingt, das zu sein, was er wahrzunehmen meint, sind die Regularien der Halacha egal.

Ich möchte mich nicht im Mindesten mit Jean Améry vergleichen. Der Mann wurde entgegen seiner Selbstbeschreibung nach den Nürnberger Gesetzen als Jude definiert. Er war dumpfem, kollektivem Hass ausgeliefert, aus der deutschen Kultur, die die seine war, ein für alle Mal ausgespien, als Folteropfer und Auschwitzüberlebender dem Leben, der Welt für immer entfremdet.

Nichts davon bei mir. Ich besitze einen regelrechten Strauß an Privilegien. Die Geburtslotterie hat mir derart viel Glück beschert, dass ich wohl unentwegt dankbar sein sollte. Und doch: Was Améry bei ganz anderen Erfahrungen im Rekurs auf Sartres Phänomenologie des Blicks und konkret mit Verweis auf dessen „Überlegungen zur Judenfrage“ ausführt, umreißt in Ansätzen mein eigenes Erleben: Dass sich personale Identitäten immer auch vermittelt durch Fremdwahrnehmung formen, und dass laut Sartre der Jude einer ist, den die anderen als einen solchen betrachten.

Im Verlauf meiner jugendlichen Sozialisation haben mich nicht wenige Leute, die mich kannten, immer mal wieder zum Juden „gemacht“, weil sie wussten, dass da irgendetwas Jüdisches war. Wir waren eine sprachlich verkommene Clique, die im Ausgang des letzten Jahrtausends entstand. West-Berliner Straßenrap war der Soundtrack unserer nihilistischen Lebenseinstellung, von so etwas wie diskursiver Sensibilität wollte damals wirklich niemand etwas wissen. Der eine wurde damit aufgezogen, dass seine Mutter Alkoholikerin war, der nächste damit, dass er ein Heimkind war, und der dritte eben mit seinen jüdischen Verwandten. Ich will mich auf keinen Fall zum Opfer stilisieren, mich aus der eigenen Privilegiertheit herausmogeln. Es herrschte ein rauer Ton in dieser Zeit, und letztlich habe ich mehr ausgeteilt als ich von anderen einstecken musste.

Trotzdem hat ein halblustig gemeinter Antisemitismus mich durch Jugend und Adoleszenz hindurch begleitet. Immer wieder bin ich mit antisemitischen Stereotypen konfrontiert worden, die ich hier nicht alle einzeln wiedergeben möchte. Von meinen „Alman“-Freunden nicht weniger als von denen mit osteuropäischem, persischem oder arabischem Familienhintergrund. Als ich mich einst mit einem Kumpel stritt, sagte er, man merke, dass ich „jüdisches Blut“ habe. Wenn ich zu lange am Joint zog, wurde mir „jüdische Knauserigkeit“ unterstellt. Ähnliches ist mir auch später noch passiert. Manchmal durchaus freundlich gemeint, wie bei meiner Mitbewohnerin, die von meiner Familiengeschichte erfuhr und erklärte, nun wisse sie, warum ich mich für hochgeistige Fragen interessiere.

Doch noch einmal, ich bin kein Améry. Auch sind meine „Diskriminierungserfahrungen“ vergleichsweise homöopathisch dosiert, ungleich harmloser als die von jenen, die Juden sind und auch als solche leben; und ungleich harmloser als jene meiner Freunde mit dunklem Teint oder schwarzen Haaren, für die die Frage, ob die Polizei in Deutschland ein strukturelles Rassismus-Problem hat, keine ist, die eine Antwort aus der Wissenschaft bräuchte. Ich genieße das„ was viele heute „weiße Privilegien“ nennen, bin in Frieden im Herzen des globalen Nordens als ordentliches Mittelstandskind aufgewachsen.

Dennoch ist das Forschungsthema Antisemitismus, an dem ich seit vielen Jahren journalistisch arbeite, nicht durch Zufall zu mir gekommen. Ich kann mir nicht aussuchen, ob ich demnächst lieber ganz andere Themen angehen möchte. Denn immer wieder gab es diese kleinen Sticheleien, die mich zwangen, mich als abweichend vom Normhaften zu sehen. Jüdischkeit war, anders als ein „Kanack“ zu sein, auf dem Pausenhof und auf den Parkbänken Berlins kein symbolisches Kapital.

Lange Zeit hat das dazu geführt, dass ich, wie seinerzeit mein Großvater Otto, alle jüdischen Bezüge geleugnet habe. Wenn man mich fragte, woher meine Familie komme, sagte ich, ein Teil sei hugenottisch (Citron), ein anderer komme aus Polen (Piorkowski). Tatsächlich handelt es sich bei der Linie meines Großvaters mütterlicherseits um assimilierte Juden aus Westpreußen; bei der Linie meines Großvaters väterlicherseits um aschkenasische Juden aus Schlesien, unter denen Talmudgelehrte waren, die Schillers „Glocke“ ins Hebräische übersetzt haben und wegen Spielsucht von der jüdischen Gemeinde Ostrowos als Hebräischlehrer suspendiert worden sind.

Ich bin damit nicht hausieren gegangen, werfe das in Diskussionen nicht in die Waagschale, bin kein Wilkomirski, kein Fabian Wolff. Im Gegenteil, noch immer erschrecke ich ein bisschen, wenn ich sagen soll, wer meine Vorfahren waren. Auch deshalb, weil ich oft Angst davor habe, dass ich auf die Reaktionen der Leute mit starken moralischen Gefühlen reagieren und meinen Respekt vor ihnen einbüßen könnte.

Wenn ich ans Max-Czollek-Maxim-Biller-Drama denke, werde ich wahlweise traurig oder wütend, weil solche innerjüdischen Debatten in Deutschland immer einen Flurschaden bewirken. Ich weiß noch, wie eine Antisemitin aus der Kunst- und Kulturszene mir erklärte, Czollek solle aufhören, sich als Opfer zu gebärden, die Juden müssten endlich aus der Opfer-Rolle raus, und noch dazu sei der Mann ja gar kein echter Jude. Die Halacha, die Judenfeinde nicht interessiert, wurde hier als ein Werkzeug missbraucht, um einem jüdisch lebenden Menschen, der außerdem als solcher wahrgenommen wird und gar nicht anders könnte, als sich so zu betrachten, sein Jüdischsein und alles, was damit verknüpft ist, abzusprechen, ihn zum Schweigen aufzufordern.

Auch halte ich Sätze wie die von Deborah Feldman für fatal, die in einem Interview zu ihrem Buch „Judenfetisch“ erklärte, in Deutschland würden viele Möchtegernjuden irgendeine jüdische Urgroßmutter ausbuddeln, um sich ein Judentum anzumaßen und dadurch vermeintlich Privilegien zu erlangen.

Sicher, es gibt die Wilkomirskis in Deutschland. Personen, die dem psychischen Druck entgehen wollen, sich als Nachfahren des Tätervolkes wahrnehmen zu müssen und die damit verbundene Verantwortung zu schultern. Doch was es wahrscheinlich häufiger gibt, sind Leute, die jüdische Bezüge verschweigen. Weil sie Angst vor symbolischen oder physischen Gewaltakten haben, vor einem in diesem Land omnipräsenten und sich vielfältig zeigenden Antisemitismus. Jüdischsein ist eben kein Privileg, sondern mit Diskriminierungserfahrungen verknüpft.

Diese beginnen indessen nicht dort, wo Fanatiker versuchen, Synagogen anzuzünden. Sie werden dort gemacht, wo Menschen von Verschwörung fantasieren und „die Juden“ in Chiffren wie Soros oder Rothschild als heimliche Strippenzieher imaginieren. Und sie scheinen auch in jenem Unbehagen auf, das viele Menschen mit jüdischen Bezügen befällt, wenn sich Personen – besonders die mit Nazihintergrund – dämonisierend, delegitimierend und mit doppelten Standards zu Israel äußern. Wenn sie in schuldprojektivem Gebaren empört sind und es doch gleichzeitig genießen, dass sich Juden inzwischen auch gewaltsam verhalten.

Auch dort, wo der winzige jüdische Staat gleichsam von der Landkarte wegkritisiert und im nächsten Satz ernsthaft die Behauptung aufgestellt wird, Kritik an Israel sei tabuisiert, ist ein solches Unbehagen immer gegeben. Das alles kommt von rechts und links und aus der Mitte, von gläubigen genauso wie von nichtgläubigen Menschen, und hinterlässt in vielen hier lebenden Juden häufig eine Art bleibende Verstörung.

Ja, es gibt diese oft amerikanischen Juden, Kronzeugen von Israels Bösartigkeit. Die Susan Neimans, die Judith Butlers. So gibt es in den USA zwar ebenfalls einen brachialen Antisemitismus, aber auch eine derart große und vielfältige jüdische Community, dass es möglich ist, selbstbewusst als Jude zu leben. Juden in Deutschland können das nicht. Sie sind, wie es Judith Coffey und Vivien Laumann in ihrem Buch „Gojnormativität“ ausgeführt haben, nur „weiß“ und mithin privilegiert, solange sie still und unsichtbar bleiben. Wenn sie sich aber als Juden offenbaren, müssen sie mit Hass und Gewalt kalkulieren.

Vielleicht können sich linke US-amerikanische Juden leichter ohne Magenschmerzen einem theoretischen Internationalismus hingeben, weil ihnen weniger als den Juden in Europa klar ist, dass Israel – einer der wenigen Staaten, dessen Existenzrecht offen infrage gestellt wird – einer der wenigen Staaten ist, dessen Existenz es tatsächlich braucht. Dass Israel, der einzige jüdische Staat, nicht größer als das Bundesland Hessen, den einzigen Hort der Zuflucht darstellt – nach der Verfolgung und Ermordung von gestern, vor der Verfolgung und Ermordung von heute. Der einzige Ort, wo Juden keine Juden sind, einmal nicht die ewigen Fremden, wo sie einfach Menschen unter Menschen sein können.

Wenn Juden hierzulande mit einer einseitigen Fundamentalkritik an Israels Dasein als jüdischem Staat, als dem historisch notwendig gewordenen Paradoxon der ethnischen Demokratie konfrontiert werden, fühlen sie sich häufig im Innersten versehrt. Ich selbst kann mir nicht anmaßen, für die wirklichen Juden zu sprechen. Doch meine ich, ein klein wenig nachzuempfinden, was die oft totale Empathielosigkeit, mit der Teile einer gojischen Mehrheitsgesellschaft jüdischem Leben, jüdischer Geschichte, jüdischem Denken und Fühlen begegnen, für Juden bedeutet – besonders aktuell.

Denn auch ich habe ein jüdisches Israel nötig, zumindest auf der Ebene meiner Empfindung. Einen Ort, an den Menschen wie mein Großvater fliehen könnten, sollte man sie hier wieder als Juden verfolgen. Dass Otto Citron nur mit Glück überlebt hat, ist an dieser Stelle ein prägendes Moment. Derzeit habe ich panische Angst davor, mit Freunden über Israel und Gaza zu sprechen, weil ich nicht weiß, wie sie sich positionieren, und ich bei den üblichen Doppelstandards und der Indifferenz in Sachen Antisemitismus eine Freundschaft vor Abscheu nicht weiterführen könnte.

Es ist zum Verzweifeln, dass viele Menschen nicht in der Lage sind, zwischen legitimer Kritik an Israels Politik und radikaler „Israelkritik“ zu unterscheiden; dass sie einfach nicht begreifen wollen, dass es zum einen auf die Motive ankommt, um zu entscheiden, ob die „Kritik“ sich als antisemitisch erweist oder nicht; dass man zum anderen aber aus der Art der Kritik leicht auf die Motive rückschließen kann. Und dass letztlich ganz unabhängig von den Motiven, also, selbst wenn radikaler Antizionismus keine Spur Antisemitismus enthielte, die Auflösung Israels als jüdischem Staat eine antisemitische Konsequenz hätte. Nämlich das Fehlen dieser einen Gesellschaft, wo der Jude nicht als Jude um sein Leben fürchten muss (auch wenn ihn als „kollektiven Juden“ in Staatsform diese uralte Angst letztlich doch wieder begleitet).

Wenn schon ich, mit meinen bloß peripheren und außerdem ambivalenten Bezügen, der hier weiterleben kann, auch wenn es schlimmer werden sollte, wonach es aktuell leider aussieht, wenn schon ich, der ich mich langfristig auf andere Identitätsbezirke verlegen kann, unter der grausamen Antisemitismusvergessenheit und dem verschwiemelten Ressentiment vieler Menschen leide, unter denen ich lebe – wie muss es dann erst den Juden ergehen? Wie fremd und verstoßen müssen sie sich fühlen!

Ich selbst indes fühle mich aktuell besonders aus meinem politischen Habitat, dem Linkssein, verstoßen. Mir war immer klar, dass struktureller Antisemitismus in der Linken ein großes Problem darstellt. Aktuell aber zerbricht etwas in mir. Die Gleichgültigkeit, ja Häme, mit der weite Teile der antiimperialistischen oder postkolonial inspirierten Linken auf die Abschlachtung jüdischer Zivilisten reagieren, beschert mir eine weitere Heimatlosigkeit. Ich fühle mich nicht nur in Deutschland nicht zu Hause, sondern auch nicht mehr in dem, womit ich lange versucht habe, mich geistig und gefühlig gegen Deutschland zu behaupten. Sicher, ich bin als ideologiekritischer und prozionistischer Linker nicht allein. Doch die Übermacht linker Israelhasser macht mich derart hoffnungslos und traurig, dass ich drohe, misanthropisch zu werden.

Und wieder lande ich bei Jean Améry, ohne mich mit ihm vergleichen zu wollen: Denn er erkannte als einer der ersten, dass sich im Antizionismus oft der Antisemitismus verbirgt wie das Gewitter in der Wolke. Er begriff, dass die geistige und emotionale Infrastruktur für den Judenhass allenthalben vorhanden war – und die Linke mit dem unverbrüchlich guten Gewissen der Parteinahme für die vermeintlich subalternen Araber ihr Ressentiment in den feinsten Zwirn einkleiden und den Antisemitismus wieder „ehrbar“ machen konnte.

Améry schrieb seine Analysen nach dem Sechs-Tage-Krieg – sie hätten auch gestern geschrieben werden können. Er hat sich damals verraten gefühlt von denen, die eigentlich Verbündete waren, von den Linken, zu denen er sich zugehörig fühlte. Mir geht es ebenso, ich fühle mich verraten, auch wenn das manche für anmaßend halten. Dass Menschen, mit denen ich mich politisch eigentlich verbunden fühle, Aktivist:innen, die für die Rechte von People of Color, Frauen, Queers oder Transpersonen streiten, die gegen Rassismus und Ausbeutung kämpfen, gegen Klimawandel, für ein besseres Leben; dass aktuell vor allem solche Personen die Juden und ihre Belange vergessen, die Geschichte, die Israel notwendig machte, lässt mich ratlos und einsam zurück.

Es geht mir nicht darum, dass man kein Mitleid mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, mit Kindern in Gaza aufbringen sollte. Das sollte man. Nicht darum, dass es irgendwie verwerflich wäre, eine rechtsradikale Regierung scharf zu kritisieren, in der diverse rassistische Fanatiker sitzen. Auch das sollte man. Nicht darum, dass man keine Kritik an der Besatzung des Westjordanlandes üben sollte. Das kann und soll man als Linker alles machen.

Den historisch, politisch und psychologisch hochkomplexen Nahostkonflikt aber aus einer Tunnelperspektive zu beschreiben; die Ambivalenzen einzuebnen; die Israelis als ewige Täter und die Palästinenser als harmlose Opfer zu lesen, ganz gleich, wie grausam sie sich artikulieren; den eliminatorischen Antisemitismus von Hamas und Konsorten komplett zu ignorieren; Antisemitismus nicht als unikale Weise des Denkens und Fühlens anzuerkennen; die Nakba als große Katastrophe zu erinnern, doch die Vertreibung von 900.000 Juden aus islamisch geprägten Ländern zu verschweigen; den Zionismus nicht zumindest in Teilen als ein großes Emanzipationsprojekt zu sehen, mit dem sich die geschundenste Bevölkerungsgruppe der heute bekannten Menschheitsgeschichte nach fast 2000 Jahren Verfolgung und Ermordung einen Schutzort und eine Heimstätte schuf – all das ist wahnhaft, böse und dumm, vor allem aber ist es unendlich traurig.

Noch ein letztes Mal Jean Améry: Er hatte mit Israel wenig am Hut, das dortige Klima behagte ihm nicht, er sehnte sich nach Weihnachtsbäumen in Wien und nicht nach Chanukka-Leuchtern in Haifa, der damalige Ministerpräsident Menachem Begin stand für vieles, was Améry hasste. Mir geht es auch so, tauscht man Wien gegen Berlin und Menachem Begin gegen „Bibi“ Netanjahu. Wo Israel aber existenzbedroht war, sah er allenthalben Flammen und rief, dass es brannte, auch wenn nur wenige ihm zuhören wollten. Er brauchte den (stetig gefährdeten) Schutzraum als Möglichkeitsbedingung eines jüdischen Lebens.

Es brennt wieder, letztlich hat es immer gebrannt. Die Juden rücken nun näher zusammen. Ich selbst stehe irgendwo dahinter am Rand.

Der Beitrag erschien zuerst im Tagesspiegel am 02.12.2023.