Die Gunst der Stunde

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Israelische Soldaten in der Pufferzone am Golan, Foto: IDF Sprecher

Nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad zerstört Israel überall in Syrien militärische Einrichtungen. Zugleich rückte die israelische Armee in die entmilitarisierte Pufferzone zwischen beiden Länder vor. Trotzdem drohen Israel neue und schwer einzuschätzende Herausforderungen.

Von Ralf Balke

Lieber einen Fototermin auf dem Golan statt in Tel Aviv vor Gericht stehen zu müssen – so entstanden am 17. Dezember einige Bilder, die wohl ganz nach dem Geschmack von Benjamin Netanyahu waren. Zusammen mit mehreren Soldaten sowie Verteidigungsminister Israel Katz ließ sich der Ministerpräsident in schusssicherer Weste auf der gerade von der israelischen Armee im Gefolge des Chaos nach dem Sturz des Machthabers Bashar al-Assad besetzten syrischen Seite des Bergs Hermon ablichten. Für dieses Shooting hatte er sogar einen Termin vor Gericht abgesagt, und zwar „wegen besonderer Umstände“. Denn eigentlich stand an diesem Tag eine weitere Zeugenaussage im Rahmen des Korruptionsverfahrens gegen ihn auf dem Programm. Doch der Trip in den Norden schien ihm wichtiger.

„Vor 53 Jahren war ich hier mit meinen Soldaten auf einer Sayeret-Matkal-Patrouille“, erklärte Benjamin Netanyahu vor winterlicher Kulisse und schwelgte dabei in nostalgischen Erinnerungen. „Dieser Ort hat sich nicht verändert, er ist derselbe geblieben. Aber seine Bedeutung für die Sicherheit Israels hat sich in den vergangenen Jahren, insbesondere vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse der letzten Wochen, die sich in Syrien abspielen, nur noch vergrößert“, sagte er weiter. Und Israel Katz ergänzte: „Wir werden so lange hier bleiben, wie es nötig ist“, so der Verteidigungsminister. „Unsere Anwesenheit hier auf dem Gipfel des Hermon dient der Sicherheit und ermöglicht es uns, Hisbollah-Hochburgen in der Bekaa-Ebene besser zu beobachten. Zugleich ist es ein Signal gegenüber den Rebellen in Damaskus, die versuchen, sich als gemäßigt zu präsentieren, aber den extremsten islamistischsten Sekten gehören.“

Dabei wurde Israel von dem Zusammenbruch der Diktatur in Syrien genauso überrascht wie viele andere Akteure in der Region auch. Nur nutzte man die Gunst der Stunde, indem die israelische Luftwaffe in Kooperation mit der Marine innerhalb von 48 Stunden Angriffe auf über 350 Ziele in Syrien flog und nach eigenen Angaben zwischen 70 und 80 Prozent des militärischen Potenzials des ehemaligen Regimes zerstört haben soll. „Operation Bashan“ hieß das Ganze, benannt nach der biblischen Bezeichnung der Golan-Höhen sowie der angrenzenden Regionen in Südsyrien. Ins Visier geraten waren Luftabwehrstellungen, Waffenlager sowie Produktionsanlagen für Raketen und Ähnliches. Auch die syrische Marine wurde vollständig unschädlich gemacht und in ihren Häfen versenkt.

In einer ersten Videobotschaft an die neuen Machthaber in Damaskus, der Hayat Tahrir al-Sham-Miliz (HTS) mit ihrem Anführer, der jetzt wieder mit seinem richtigen Namen Ahmed al-Sharaa und nicht mehr unter dem Nom de Guerre Mohammed al-Julani auftritt, erklärte Benjamin Netanyahu, dass man sich andere Beziehungen mit dem Nachbarland wünsche als bisher, aber im Falle einer Bedrohung nicht zögern würde, weiter militärisch vorzugehen. „Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten Syriens einzumischen“, so der Ministerpräsident. „Aber wir haben sicherlich die Absicht, alles Notwendige zu unternehmen, um unsere Sicherheit zu gewährleisten.“ Konkret bedeutete dies ebenfalls eine Besetzung der zwischen beiden Staaten seit 1974 bestehenden entmilitarisierten Pufferzone, die unter der Kontrolle der Vereinten Nationen stand, sowie eine Stationierung israelischer Soldaten auf der syrischen Seite des Berges Hermon und einige Kilometer darüber hinaus. Verluste gab es dabei keine – die syrische Armee hatte sich längst aufgelöst, sodass man völlig ungehindert und ohne auf Widerstand zu treffen, vorgehen konnte. Doch eine solche Präsenz auf syrischem Territorium droht zum Problem zu werden, je länger man vor Ort ist. Sie könnte als Versuch gewertet werden, sich Land anzueignen, weshalb Akteure in Syrien dazu motiviert werden, als Befreier von besetzten Gebieten gegen Israel in Erscheinung zu treten. Deshalb sie es wichtig, ihren provisorischen Charakter hervorzuheben, empfiehlt beispielsweise Ex-Brigadegeneral Assaf Orion in einem aktuellen Assessment der Situation für den Thinktank The Washington Institute for Near East Policy.

In unmittelbarer Nähe zur Pufferzone, unweit der drusischen Stadt Majdal Schams auf dem israelischen Golan, befinden sich auch mehrere drusische Dörfer auf syrischem Gebiet, die jetzt unter israelische Kontrolle kamen. Eines davon, und zwar Hader, hatte unlängst für Schlagzeilen gesorgt, weil der Dorfälteste den Wunsch zum Ausdruck brachte, dass Israel es bitteschön annektieren soll. Zu sehr fürchten die Drusen in Syrien, dass sie aufgrund ihrer Loyalität zum alten Machthaber Baschar al-Assad nun Schwierigkeiten mit der HTS bekommen könnten. Unter israelischer Herrschaft würde man sich für die Zukunft besser aufgehoben fühlen, so das Argument. Dass dies geschieht, dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Denn Annexionen im Norden sind gewiss nicht geplant.

Und einer der ersten, der dagegen Einspruch erheben würde, wäre wahrscheinlich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan – schließlich käme ihm die Schlüsselrolle zu, wenn es um eine politische Neuordnung in Syrien geht. So war es die Türkei, die die HTS in jeder Hinsicht militärisch und logistisch unterstützt hatte und nun für ihre Bemühungen gerne belohnt werden möchte, und zwar mit einer umfassenderen Kontrolle über ihren südlichen Nachbarn. Oder wie es die Tageszeitung Haaretz auf den Punkt brachte: „In Syrien zögert Erdogan nicht lange und baut einen türkischen Satellitenstaat auf.“ So würde laut Einschätzung des Journalisten und Sicherheitsexperten Zvi Bar’el Ankara keine Zeit verlieren, „um Syrien in ein türkisches Protektorat zu verwandeln, ganz ähnlich wie der Iran den Irak kurz nach dem Sturz Saddam Husseins vor den Augen der Amerikaner in ein Protektorat verwandelt hatte“. Den neuen Machthabern in Damaskus würde die Türkei diplomatisch und wirtschaftlich erst einmal unter die Arme greifen, um so eine Abhängigkeit aufzubauen und natürlich massiv Einfluss zu gewinnen. Und ein weiteres Indiz dafür, dass Recep Tayyip Erdogan ein gewichtiges Wort mitsprechen will, wenn es um die Zukunft Syriens geht: Über den Fortbestand seiner Marine- und Luftwaffenbasis an der syrischen Mittelmeerküste verhandelt Russland gerade mit der Türkei und nicht mit den neuen Machthabern in Damaskus.

Anders ausgedrückt: Israel ist schlagartig mit einer völlig neuen Situation konfrontiert, für die es aber bis dato kein erkennbares Konzept gibt. „Die anfängliche Erleichterung innerhalb des israelischen Verteidigungsapparats nach dem Sturz des Assad-Regimes und dem Rückzug der iranischen Streitkräfte in der Region ist der Sorge über den Aufstieg eines sunnitischen Zweigs der Muslimbruderschaft gewichen, der Israel gegenüber feindlich eingestellt ist und von Katar und der Türkei unterstützt wird“, skizziert der Analyst Amir Bohbot in der „Jerusalem Post“ die veränderte Lage. „Dies hätte erhebliche Auswirkungen. Wenn die Türkei beschließt, die Rebellen weiter zu bewaffnen, ist vor allem unklar, wie Israel darauf reagieren wird und ob es in der Lage sein wird, die Lieferung amerikanischer Waffen an Ankara zu verhindern.“ Schon jetzt würde man beobachten, wie Angehörige der HTS-Rebellen in den Dörfern nahe des Golans unterwegs seien.

Ob es dann zu Zusammenstößen mit israelischen Verbänden vor Ort kommt und wie die Türkei dann reagieren würde, ist die große Frage. Nur eines weiß man genau: Der türkische Präsident steht nicht unbedingt ihm Ruf, Israel gegenüber Sympathien zu haben. Darauf müsse man vorbereitet sein. Und sollte Ankara bald wirklich das Sagen in Syrien haben, wie einige Experten glauben, könnte es für Israels Luftwaffe schwierig werden, ungehindert wie bisher im syrischen Luftraum operieren zu können. Die Türkei würde das nicht akzeptieren. Das Fazit: Zwar hat die von Teheran angeführte und viel beschworene „Achse des Widerstandes“ durch die Schwächung der Hisbollah und den Sturz von Baschar al-Assad gerade massiv gelitten, aber es könnte eine neue Achse drohen, die ebenfalls reichlich Ungemach bescheren kann, und das ist die zwischen Ankara und Damaskus unter einem sunnitischen Islamisten-Regime unter seiner Kontrolle.

Doch noch sitzt die HTS nicht unangefochten im Sattel, weshalb sich Syrien auch zu einem Schauplatz endloser Auseinandersetzungen und Stellvertreterkriege zwischen verschiedenen sunnitischen Gruppierungen, Alawiten sowie Kurden und vielleicht sogar den Drusen entwickeln kann. Auch das macht das Land als Nachbarn nicht unbedingt angenehmer als zu den Zeiten der Assad-Diktatur. Und es besteht eine weitere Gefahr: Der überraschend schnelle Siegeszug der HTS könnte Islamisten in Jordanien auf den Plan rufen, das regierende Königshaus herauszufordern. Kurzum: Israel muss sich dringen auf mehrere Szenarien gleichzeitig vorbereiten.