Bitte keine Kontroverse!  

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Die theologische Fakultät der Universität Leipzig hat einen Vortrag des Historikers Benny Morris im Rahmen ihrer Ringvorlesung „Traditionen und Gegenwart des Antisemitismus“ abgesagt.

Von Martin Klein

Gründe seien Äußerungen des Historikers, die teilweise als verletzend und sogar rassistisch gelesen werden könnten, und der Einspruch „verschiedener Gruppen“ zusammen mit entstandenen Sicherheitsbedenken. Die Leser erfahren auch, dass der Zweck der Veranstaltung in der kritischen Auseinandersetzung, nicht in der Befürwortung seiner Thesen bestanden habe.  »Wir distanzieren uns entschieden von Prof. Morris’ kontroversen Aussagen.«

Kontroverse soll also nicht mehr in der Wissenschaft heimisch sein? Für vernünftige Menschen, nicht nur für Wissenschaftler, denen es ein Anliegen ist, kontroverse Überzeugungen unter möglichst vielen Aspekten und in Kenntnis gegensätzlicher Ansichten zu untersuchen, um sich anschließend eine Meinung zu bilden, ist dies ein Schlag ins Gesicht. Denn die Wissenschaftler in Leipzig haben hier vorauseilenden Gehorsam und unwürdige Selbstzensur praktiziert.

Diejenigen, die das bewirkten, müssen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Argumente anscheinend so schwach sind, dass sie nicht dem leisesten Zweifel überantwortet werden dürfen und dass es nicht reicht, wenn man den vermeintlichen Gegner niederbrüllt: man muss überhaupt verhindern, dass er sie vorträgt.

Die veranstaltenden Theologen sind zurückgewichen vor einer sich wohl als „links“ und „propalästinensisch“ bezeichnenden Agitproptruppe. In Wirklichkeit handelt es sich weder um „Linke“ noch um „Propalästinenser“, denn welchen Nutzen haben die Ereignisse des 7. Oktober 2023 dem palästinensischen Volk in Gaza gebracht? Hat etwa die Hamas durch ihr feiges sadistisches Massaker den Palästinensern einen Gefallen getan, indem es sie schutzlos dem israelischen Gegenangriff ausgesetzt hat? Oder hat irgendjemand geglaubt, es würde keine israelische Antwort geben?

Und was unterscheidet „Linke“, die die Vergewaltigung, Verstümmelung, Folterung und Ermordung von Säuglingen, Kindern und Frauen mit Jubelfeiern begleiten von „Rechten“?  

Tatsächlich hat Benny Morris vor 20 Jahren einmal von palästinensischen Terroristen als wilden Tieren gesprochen, die man in einen Käfig sperren müsse. Er hat auch die Vertreibung von Palästinensern 1948 während des Unabhängigkeitskrieges verteidigt. Das kann man sicher schon deshalb kritisieren, weil wilde Tiere solche Brutalitäten in Ermangelung einer Moralfähigkeit nicht bewusst begehen. Wann und ob aber Vertreibung jemals gerechtfertigt ist, dürfte durchaus als umstritten gelten. Was wäre zum Beispiel mit den 12-15 Millionen vertriebenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen, wären sie nicht aus Polen, der Tschechoslowakei und anderen Ländern— unter allerdings fürchterlichen Bedingungen— vertrieben worden? Die Äußerungen Morris´ zu den wilden Tieren geschah in der fürchterlichen Terrorwelle der zweiten Intifada ab 2000, als in 4 Jahren über 1000 Juden brutal ermordet wurden.

Um zu einem vernünftigen Urteil über Benny Morris zu kommen, schlage ich vor, seine Bücher zur Kenntnis zu nehmen: Er war bekanntlich einer der ersten, welche die Vertreibung von Palästinensern während des Unabhängigkeitskrieges 1948 nicht leugneten.

Oder man sieht sich die etwa fünfstündige Diskussion an, die er mit Norman Finkelstein, Steven Bonnell und Mouin Rabbani Anfang des Jahres 2024 — also nach dem 7. Oktober — führte.

Mit voreiligen Rassismus- Zuschreibungen aber wird letztlich der Rassismus verharmlost. Rassismus liegt nach meiner Meinung vor, wenn jemand aus natürlichen Unterschieden zwischen Menschen (z.B. Hautfarbe) eine moralische und rechtliche Minderwertigkeit konstruiert. Gelebter Rassismus im übertragenen Sinn ist es aber auch, wenn man Juden als schwächste und minderwertigste unter allen Völkern bezeichnet und sie jahrhundertelang in den arabischen Ländern und im Iran als Menschen zweiter, wenn nicht dritter Klasse behandelte. Das ist vielfach nicht bekannt, weswegen ich diesbezüglich folgende Lektüre empfehle:

Bensoussan G. Die Juden in der arabischen Welt, Berlin, Leipzig 2019 (ca 180 Seiten und für einen sehr guten Überblick ausreichend).

Bostom AG. The legacy of Islamic antisemitism: from sacred texts to solemn history 2020

Julius L. Uprooted. How 3000 Years of Jewish Civilisation in the Arab World Vanished Overnight, London, Chicago 2018

Lewis B. Die Juden in der islamischen Welt, München 2004

Rahmani M. L´exode oublié. Juifs des pays arabes. Mesnil-sur-l´Estrée 2003Stillman NA. The Jews of Arab Lands, Philadelphia 1979

Shulewitz MH: The Forgotten Millions.The Modern Jewish Exodus from Arab Lands 1999

Stillman NA. The Jews of Arab Lands in Modern Times. Philadelphia, New York 1991

Weinstock N. Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947 bis 1967. Freiburg, Wien 2020